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»Vielen Dank.« Mit einer überraschend eleganten Bewegung ließ der junge Mann sich mir gegenüber nieder, dessen Outfit aus einem schneeweißen Hemd und einer schwarzen Anzughose bestand. Ein Sakko fehlte. Ebenso eine Krawatte – was mir sehr zusagte. Krawatten hatten etwas Verklemmtes, Altmodisches, Steifes an sich, das mich stets an kleinkarierte, zwanghaft pingelige oder nach Selbstbestätigung dürstende Personen erinnerte.
Die obersten drei Besätze des Hemds trug der Mann verwegen offen.
»Heute ist es ungewöhnlich voll«, meinte dieser. »Üblicherweise sind die Tische nicht einmal zur Hälfte besetzt.«
»Ja?«
Nickend warf er mir ein aufgeschlossenes Lächeln zu, das es dennoch nicht gänzlich vollbrachte, den hantigen Beigeschmack der vorgespielten Freundlichkeit zu übertünchen. »Wahrscheinlich liegt dies an der Sängerin. Sie ist ein aufsteigender Stern. Wenn Sie mich fragen –« Unvermittelt stockte er. »Obgleich Sie dies nun nicht getan haben –« Ein sich nervös anhörendes minimales Kichern drang aus seiner Kehle. »Ich bin mir sicher, sie wird noch einmal Weltruhm erlangen.« Im Anschluss daran senkte sich sein Blick nahezu reumütig. Auf seinen Lippen dagegen ruhte weiterhin dieses – nun wesentlich lockerere – Dauerlächeln, von welchem mir ungewollt ein wenig warm wurde.
Wer war dieser Mann?
Dem Kleidungsstil nach hätte ich ihn geradewegs in die Businesskategorie eingeordnet – eine Art Regionalleiter auf dem Weg zum Managerposten. Seine von ihm zwanghaft unterdrückte verhaltene Ausstrahlung wiederum ließ eher auf einen Stammbesucher mit Schwerpunkt One-Night-Stands schließen. Genauso gut könnte es sich aber auch um den Sohn des Lokalbesitzers handeln, welcher sein aufpoliertes Ego an weiblichen Gästen präpotent zur Schau stellen wollte.
Ich betrachtete sein freundliches Gesicht, spürte seine Nervosität …
Oder war er gar ein arbeitsloser Studienabbrecher?
Möglichst unauffällig – sprich indem ich einen Schluck Kakao trank – versuchte ich, Mr. Mysteriös nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen, was durch die fahle Lokalbeleuchtung bedauerlicherweise recht schwer zu bewerkstelligen war.
Seine Lippen waren weder voll noch schmal – für meinen Geschmack genau richtig. Seine Augen zeigten eine angedeutet ovale bis schräge Form und wurden von langen dichten Wimpern umsäumt. Das füllige, höchstwahrscheinlich braune Haar – allmählich begann dieses dumpfe Licht mich wahrhaftig zu stören – trug der Mann locker nach hinten gekämmt. Dennoch hatten einige gewellte Strähnen sich gelöst, welche nun sachte über seine Stirn fielen. Eine elegant geformte, kleine Nase rundete sein jugendlich-feminines Angesicht ab. Seine Hände ruhten auf dem Tisch, die Finger ineinander verschränkt, und sahen gepflegt, ja nahezu zerbrechlich aus. Korrektur: Seine gesamte Statur wirkte filigran, ätherisch.
Kurzum: Er sah umwerfend aus.
Umwerfend für mich – andere Frauen in meinem Alter hätten ihm eher den Stempel Jungspund aufgedrückt. Insbesondere durch seine einerseits frische, unbeschwerte, andererseits unsichere, vorsichtige Wirkung. Dieser zum Trotz schätzte ich den Mann um die Dreißig ein. Vielleicht ein, zwei Jahre darunter.
Ich konnte mir gut ausmalen, wie er regelmäßig um Akzeptanz kämpfen musste und von Menschen im Allgemeinen nicht ernstgenommen wurde.
Dieses Schubladendenken kannte ich aus persönlicher, schmerzhafter Erfahrung. Alsbald man nicht dem gängigen Ideal entsprach – überhebliches Getue, altes und reifes Aussehen – wurde man zu einem unfähigen, eingeschüchterten Mauerblümchen degradiert. Vor allem im Job nagte ein solches Verhalten schwer am Ego, und Lebensfreude und Tatendrang nahmen sukzessiv ab.
»Sind Sie zum ersten Mal hier?«, zog mein fremder Tischgenosse mich aus meinen ausschweifenden Überlegungen.
Ich bejahte. »Und ich muss sagen, es gefällt mir – bisher jedenfalls.«
Ein glückliches Lächeln enthüllte strahlend weiße Zähne. »Das freut mich! Hübsche junge Frauen begegnet man hier selten.«
Eine peinliche Wärme stieg mir in die Wangen.
Offenkundig ging Mr. Mysteriös sofort in die Vollen, alsbald seine Hemmungen sich gelegt hatten – was mich zurück auf meine anfängliche Vermutung brachte: War er Stammgast in diesem Lokal, auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer?
»Soviel ich gesehen habe«, erwiderte ich. »Tummeln sich hier einige junge Frauen.«
Frauen, welchen ich niemals das Wasser reichen konnte. Frauen, welche dieser Schönling normalerweise hätte ansprechen müssen.
Sein durchdringender Blick nahm nochmals an Intensität zu. »Nun, die Betonung lag ja auf hübsch.«
Ich und hübsch?
Ich war nicht hübsch – bestenfalls langweiliger, normaler Durchschnitt … womit eindeutig bewiesen war: Feschak war ausnahmslos auf einen One-Night-Stand aus.
Innerlich seufzte ich.
Typisch.
Welcher gut aussehende, ledige Mann war schon auf der Suche nach einer festen Beziehung? Stellte eine solche doch bestenfalls Pflichten, Freiheitsentzug und Alltagsallüren dar. Zumindest, wenn es nach männlicher Auffassung ging. Und der klägliche Rest hübscher, anständiger Männer? Dieser war bekanntlich längst verheiratet und mit unliebsamen Kindern gesegnet.
Ich räusperte mich – und Mr. Ich-blicke-dir-bis-in-deine-Seele warf mir ein Lächeln zu, das in etwa sagte: »Ich habe dich damit erreicht – ob du es willst, oder nicht.«
Wie viele Frauen riss er mit dieser plumpen Masche wohl auf?
Nun, unbedeutend wie viele. Mich jedenfalls nicht! Dies konnte er sich gehörig in die engelsgleichen Haare schmieren!
»Ich glaube, es gibt sehr viele hübsche Frauen hier.«
»Tatsächlich?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ist mir bislang nicht aufgefallen.«
Allmählich wurde es ernsthaft eigenartig.
Derart angeflirtet hatte mich noch kein Mann zuvor in meinem Leben – weder unsympathische, ungepflegte Alkoholiker, geschweige denn Modeltypen, wie dieses Prachtexemplar.
»Dann sind Sie wohl nicht sonderlich oft hier?«, vermutete ich und nahm einen weiteren Schluck Kakao.
Über den Tassenrand hinweg durfte ich beobachten, wie eine markante Überraschung in seinem Gesicht aufblitzte.
»O doch! Jeden Tag.«
Wie jetzt? Jeden Tag?
Was machte er, bitte schön, jeden Tag hier? Hatte er nichts Besseres zu tun? War er tatsächlich arbeitslos, der Sohn des Lokalbesitzers … oder etwa hoffnungslos unbefriedigt?
»Dann haben Sie den anderen Damen anscheinend nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet.«
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte über seine zarten Züge etwas Ähnliches wie ein Schatten. Doch noch ehe ich recht darüber hätte nachdenken können, war seine strahlende Freude zurück in den Vordergrund getreten. »Da muss ich nochmals widersprechen! Ich schenke Frauen grundsätzlich Aufmerksamkeit.« Er setzte eine perfekt platzierte, selbstsichere Kunstpause. »Darum nehmen Sie mein Kompliment endlich an. Selbst, wenn Sie es nicht hören wollen.«
Wie jetzt … ?
Er hatte bemerkt, wie wenig ich Komplimenten etwas abgewinnen konnte?
Was hatte mich verraten? Mein Mienenspiel, meine Körpersprache, meine Äußerungen?
Üblicherweise gelang Menschen es nicht, mich zu durchschauen oder einzuschätzen – günstigstenfalls mich zu verletzen.
Ich atmete tief durch und lehnte mich zurück. »Nun gut. Ich akzeptiere.«
Vorerst.
»Na endlich!« Ein niedliches Kichern durchdrang die mit Gesang und gelegentlichen Gesprächen durchsetzte, stickige Luft. »Ich fürchtete bereits, Sie würden nie mehr nachgeben.«
Echt jetzt?
Ich fasste nach meinem Kakao. »Flirten Sie andauernd in dieser Heftigkeit?«
»Flirten?« Der Mann schien äußerst erschrocken, den weit aufgerissenen Augen nach zu urteilen. »Das war kein Flirtversuch.«
»Für mich sehr wohl.« Ich nippte an der Tasse. »Das war sogar ein ziemlich billiger und alter Anmachspruch.«
Der nicht eben zu deiner eleganten, verhaltenen, gentlemanmäßigen Ausstrahlung passt.
»Bitte verzeihen Sie.« Er besah mich flehentlich. »Solcherweise wollte ich nicht anmuten.« Nach einer kurzen Weile, in welcher seine Verzweiflung sekündlich größere Ausmaße angenommen hatte, fügte er hinzu: »Habe ich mir dadurch alles verdorben?«
Sollte ich noch überrascht sein?
Zuallererst strandete ich in diesem Lokal, dann setzte sich ein atemberaubend schöner Jüngling zu mir … und nun hatte dieser ernste Sorgen, er könnte mich mit seinem – im Grunde genommen, sehr vornehmen – Geplapper verjagen?
War ich im falschen Film gelandet?
Ich blickte auf meinen Kakao.
Oder hatte man mir etwas in mein Diabetes auslösendes Heißgetränk geschüttet?
Ich wandte mich wieder meinem Tischnachbarn zu.
War ihm all dies ernst, oder gehörte dieses Pseudo-Rosamunde-Pilcher-Männertraumverschnitt-Verhalten ebenfalls zu seiner Anmachnummer?
Fakt war: Ein attraktiver Mann wie er brauchte sich grundsätzlich keine Gedanken zu machen, wie er auf das weibliche Geschlecht wirkte – ausgenommen, er kämpfte gegen dieselben Vorurteile wie ich. Dann konnte ich es teilweise nachvollziehen. Nichtsdestoweniger mutete mir sein Verhalten eine Idee zu gespielt und verkrampft an … als müsste er sich dazu zwingen, mit mir zu sprechen. Andersrum präsentierte er echte Selbstsicherheit. Salopp gesprochen erweckte er den Anschein, mit gezogener Handbremse zu fahren.
Gedanklich schlug ich mir an die Stirn.
Weshalb deduzierte, wertete und interpretierte ich wie wild durch die Gegend?
Weil ich insgeheim und trotz gegenteiliger Faktizitäten hoffte, noch die Liebe meines Lebens zu finden? Weil die Sehnsucht nach einem Partner stetig größere Ausmaße annahm? Weil ich verzweifelt, frustriert und desillusioniert tagtäglich für ein Wunder betete?
Himmel, Arsch und Zwirn!
Ich war nicht dumm – ich war der größte Idiot der Menschheitsgeschichte!
Wahre Liebe existierte nicht. Verständnisvolle, selbstlose Männer existierten nicht.
Und dieses Prachtexemplar hier vor mir?
Sicherlich war ihm nichts von seinem Gerede ernst. Er wollte eine flotte Nummer schieben – nicht mehr, nicht weniger.
Ich zuckte die Achseln. »Nein, keine Sorge.«
Atmete er erleichtert aus? Angesichts der lauten Musik konnte ich das nicht mit Sicherheit feststellen.
»Das beruhigt mich. Schließlich will ich mich mit Ihnen noch etwas länger unterhalten … falls es für Sie in Ordnung geht.«
Mit einer solchen Antwort hatte ich noch weniger gerechnet.
»Ja, sicher«, gab ich kühl zurück.
Das musste seine typische Masche sein. Anders konnte ich mir seine Aussagen beim besten Willen nicht erklären. Vor allem in meinem Fall nicht! Männer flirteten nicht mit mir. Männer sprachen mich nicht an. Und derart respektvoll war ohnehin noch niemand mit mir umgegangen.
Eine Kellnerin mit platinblondem Bobhaarschnitt trat zu uns und nahm die Bestellung des Mannes auf: ein stilles Mineralwasser ohne Zitrone, ohne Eiswürfel. Ehe sie wieder davoneilte, warf sie ihm ein seltsames Grinsen zu.
War sie eine seiner Liebschaften?
»Erzählen Sie mir etwas über sich«, meinte Mr. Mysteriös. »Ich bin neugierig.«
Weshalb sollte ich einem mir wildfremden Mann irgendetwas über mich erzählen?
»Erzählen lieber Sie mir, warum Sie jeden Tag hier zugegen sind. Ist Ihnen zu Hause solcherweise langweilig?«
Er legte den Kopf etwas schief. »Nein, ich arbeite hier.«
Oh!
Das erklärte einiges.
»Darum Ihr elegantes Outfit. Sind Sie Kellner?«
»Gefällt es Ihnen?«, kam es samt frechem Unterton schlagfertig zurück.
»Sollte es?«, entgegnete ich in einem ähnlichen Tonfall.
Hatte sein Kichern sich bis vorhin noch ziemlich verdeckt angehört, klang es nun befreit und offen. Zu diesem Kichern gesellte sich ein unschuldig-kindlicher Dackelblick, dem es ohne Weiteres möglich gewesen wäre, sämtliche Permafrostböden des Planeten in sekundenschnelle aufzutauen. »Es würde mich sehr freuen.«
Noch so eine vornehme, süße Anspielung …
Im Prinzip wollte ich mich nicht auf ihn einlassen. Ich wollte mich nicht ein zweites Mal veräppeln und ausnehmen lassen – aber wie dieser Mann sich mir gegenüber verhielt, würde es mir ziemlich schwerfallen, weiterhin hart zu bleiben. Erst recht bei einem solchen niedlichen Gesichtsausdruck und meinem nagenden, beißenden, brennenden Wunsch, endlich in meinem Leben geliebt zu werden.
Er intensivierte sein herzallerliebstes Mienenspiel. »Das ist mein Ernst.«
Hatte er etwa Gefallen an mir gefunden? An mir, dem flachen Männerschreck?
Was denkst du da?!
Männer, vorzugsweise attraktive, hatten sich niemals um mich geschert. Weshalb sollte dieser Umstand plötzlich eine Änderung erfahren haben?
Ich nippte an meinem Kakao.
Na, egal.
Ob er Interesse hegte oder nicht, war irrelevant. Und da es ihm ohnehin bloß um einen One-Night-Stand gehen konnte, brauchte ich mir nichts einzubilden oder mich tötenden Hoffnungen hinzugeben, weshalb ich das Gespräch am liebsten abbrechen und gehen wollte. Ich interessierte mich nicht für eine Bettgeschichte, selbst bei einem schönen Äußeren wie dem seinen nicht. Seine niedliche Bemühung, es mir recht machen zu wollen sowie seine galante Art weckten dennoch eine leichte Neugier in mir, und in weiterer Folge das Bedürfnis, mich intensiver mit ihm zu unterhalten.
Eine Unterhaltung würde mich ja nichts kosten. Des Weiteren war ich aus exakt diesem Grund hierher gekommen: Ich wollte mich amüsieren, neue Leute kennenlernen, ein wenig dem eintönigen Alltag entfliehen.
Nun hatte ich die Gelegenheit.
Nach einem weiteren Schluck des süßen Kakaos – und am Rande bemerkend, dass die talentierte Sängerin eine Pause eingelegt hatte – antwortete ich ihm.
»Ja, er sieht toll aus. Der Anzug steht Ihnen.«
Das Lächeln, welches sich bislang ausschließlich auf seine Lippen beschränkt hatte, begann sich in seinem gesamten Gesicht auszubreiten. Auf eine Weise erinnerte der Mann mich an mein einstiges Selbst – als ich meinen Glauben an die Gesellschaft noch nicht verloren hatte. Eine naive, unbeschwerte, beschwingte Zeit der Jugend, welche mir niemals auszukosten erlaubt gewesen war.
Dieser Mensch hatte etwas Reines, Unschuldiges an sich. Etwas, das man normalerweise nicht mehr in Erwachsenen vorfand. Es war ein Leuchten, das alleine Kinder zu zeigen vermochten – eine Unbeflecktheit, ein Glauben an Magie und Wunder.
»Ist Ihre Schicht zu Ende?«
Er bejahte – und mir fiel etwas ein. »Aber wenn Sie in dieser Bar kellnern, müssen Sie bereits einige hübsche Frauen angetroffen haben.«
»Nun fangen Sie abermalig damit an?« Verständnislosigkeit drängte seine Freude zurück. »Sie können wahrlich kein Kompliment annehmen, oder?«
Ich zuckte die Achseln. »Männer machen mir keine Komplimente.«
Keine Ehrlichen.
»Das sollten Sie aber«, erwiderte er prompt.
Nun wurde es mir etwas zu warm. Darum versuchte ich, abzulenken. »Wie ist es, hier Getränke auszuteilen? Können Sie sich mit den Sängern unterhalten? Oder verschwinden diese nach dem Auftritt sofort?«
»Was faselst du da?«, kam es jäh von der Kellnerin, die meiner hübschen Gesellschaft das Wasser hinstellte. Keinen Moment später schaute sie zu mir. »Er hilft nur ab und zu aus. Normalerweise –«
»Du musst diesen Sachverhalt nicht andauernd an die große Glocke hängen!«, unterbrach er sie unsicher. »Das mag ich nicht – und das weißt du ganz genau!«
Was ging denn nun ab?
»Aus dem Grund tue ich es ja!« Mit einer sich zunehmend verhärtenden Augenpartie legte die Servierkraft das dunkelbraune Tablett auf den Tisch. »Du kannst viel mehr von dir halten! Du hast großes Talent, aber spielst es andauernd herunter, als wärst du irgendein drittklassiger Amateur!« Um ihren für mich nicht nachvollziehbaren Standpunkt klarer zu machen, stemmte sie die Hände in die Hüften.
»Aber ich bin nicht besser als der Durchschnitt!«, erwiderte er.
Sie schüttelte theatralisch das Haupt, wodurch ihr Haar sanft wie blühendes Schilf hin und her schaukelte. »Es ist hoffnungslos mit dir!«
Ich blickte zwischen den beiden hin und her. »Worum geht es, wenn ich fragen darf?«
Gütig-verschmitzt lächelte sie mich an. »Er spielt Sax. Wie ein Gott!«
Mir wurde es kalt.
Er war Musiker?
Na ganz fein!
Dann ging es ihm tatsächlich um ein sexuelles Abenteuer!
Warum hatte ich mir für eine Millisekunde etwas Gegenteiliges erhofft? Nach derart vielen Jahren musste ich es längst besser wissen! Himmelherrgott! Gerne hätte ich mir selbst Gewalt angetan.
»Übertreib nicht solcherweise!« Die hysterische Stimme des Mannes riss mich aus meinem Selbstmitleid und nötigte mich, mich ihm zuzuwenden.
Seine Wangen erwärmten sich.
»Ich habe noch niemanden derart erotisch spielen gehört«, säuselte die Kellnerin.
»Du bist unmöglich!«, presste er hervor. Seine rechte Hand, welche krampfhaft seinen linken Unterarm festhielt, sprach von enormem Unbehagen. »Das gibt es gar nicht!«
Die sanfte Wärme seiner Wangen hatte sich in der Zwischenzeit in ein kräftiges dunkles Rot verwandelt, wodurch seine klaren Augen erheblich strahlender anmuteten.
Ich musste mir eingestehen: Seine Beschämung schenkte seinem niedlichen Äußeren noch dreimal mehr Liebreiz und Kuschelfaktor.
»Dein Spiel klingt wie heißer Sex in einer ebenso heißen Sommernacht.«
Dies brachte den Musiker gänzlich aus der Fassung – davon bezeugten seine traumatisierten Gesichtszüge wie seine versteifende Körperhaltung. »Hast du komplett den Verstand verloren?! Wie kommst du darauf, solche Sachen auszusprechen?«
Sie kicherte. »Ich sage einfach, was stimmt. Und dass du dich zu ihr gesetzt hast, bedeutet, dass du heute einmal etwas extrovertierter bist.«
Einmal etwas extrovertierter?
War er normalerweise etwa scheu? Reagierte er deshalb dermaßen heftig? Rührte daher sein eigenartig selbstsicheres wie zurückhaltendes Auftreten?
Halt! Er war doch Musiker! Da konnte er gar nicht scheu sein. Vielleicht nervös vor dem Auftritt … heftiges Lampenfieber – davon berichteten Stars und Sternchen ja immer wieder. Scheue hingegen passte da rein gar nicht ins Profil.
»Flirtet er sonst nicht?«, fragte ich vorsichtig.
Die junge Frau bejahte, der Saxofonspieler versteifte erheblich mehr und ich wusste allmählich nicht mehr, was ich von all diesen neuen Erkenntnissen halten sollte … zumal ich keine Zeit bekam, um diese vernünftig auszuwerten.
»Ich habe dich lange nicht mehr an einem besetzten Tisch gesehen.« Ihr Blick durchbohrte ihn förmlich. »Gefällt sie dir?«
Diese plumpe, rotzfreche und erst recht nicht taktvolle Äußerung der Kellnerin verwandelte des Mannes Antlitz in eine Leuchtrakete.
Es war ein köstlicher Anblick. Dessen ungeachtet erhob sich in mir das zwingende Bedürfnis, den Musiker in Schutz nehmen zu wollen.
Ich wusste zu gut um dieses beschämende Gefühl des Bloßgestellt-Werdens Bescheid. Es war grauenhaft, seelenvernichtend, entwürdigend und schier körperlich schmerzhaft.
»Sie haben ihn genug in Verlegenheit gebracht, oder?«
Vollumfänglich verunsichert doch ebenfalls große Dankbarkeit zum Ausdruck bringend, blickte der Mann kurzzeitig zu mir, ehe dieser sich zur Kellnerin zurückdrehte. »Vermutlich wäre es besser, noch etwas auszuhelfen. Nun hast du mir nämlich die gesamte Tour vermasselt.«
Das brachte neben der jungen Frau selbst mich zum Lachen – allerdings einzig aufgrund der Tatsache, auch ihn ungezwungen lachen zu sehen.
Seine Reaktion ließ auf zwei wichtige Dinge schließen. Erstens: Der Musiker fühlte sich nicht tief verletzt. Zweitens: Es ging nicht um ein beginnendes Mobbing oder absichtliche Sticheleien vonseiten der Kellnerin. Ergo: Das freche Verhalten war ihr Naturell – und der Musiker hatte damit keine groben Schwierigkeiten.
Das vehemente Kopfschütteln der Servierkraft lenkte meine Aufmerksamkeit auf diese zurück. »Du bleibst schön brav hier und unterhältst dich mit ihr. Ich habe dich seit Ewigkeiten nicht mehr mit anderen reden gesehen. Außerdem hast du die letzten Wochen permanent durchgearbeitet. Erhole dich ein wenig.«
Eine überfallsartige, mir einen brennenden Stich versetzende Ernsthaftigkeit verscheuchte alle fröhlichen Gefühlsregungen des jungen Mannes. »Aber, du weißt –«
Ein Nicken ihrerseits ließ ihn verstummen. »Ja, doch leider geht das nicht mehr. Du hast die Chefin gehört. Und ich würde ja, wenn mein Freund nicht so durchgeknallt wäre. Du weißt, wie er ist.«
Nun war er es, der nickte.
Worum ging es jetzt wohl?
Sie griff nach dem Tablett. »Bis Ladenschluss ist es kein Problem, nur dann …«
Der Musiker nickte ein zweites Mal.
»Genieße es.« Dies gesprochen verließ sie uns.
Und meine Neugier war endgültig entfacht. Ich trank den letzten Schluck Kakao, dann konnte ich mich nicht mehr davon abhalten, ihn auf den geheimnisvollen Dialog anzusprechen.
»Die letzten Sätze klangen überaus dramatisch. Gibt es Schwierigkeiten?«
»Nein, nein, es handelt sich bloß um etwas Dienstliches«, wehrte er ab und klärte die Stimmbänder. »Erzählen Sie mir noch etwas über sich? Über mich wissen Sie nun ohnehin bestens Bescheid.«
Offenbar sprach er nicht gerne über sich – was ihm neue Sympathiepunkte einbrachte.
Ich mochte Männer nicht, die überheblich über ihre tausend Hobbys und Erfolgsgeschichten berichteten. Auszeichnungen hier, Ehrungen da, Siege dort – es widerte mich an. Was aber nicht bedeutete, ausschließlich eine Schwäche für verklemmte, verschüchterte, unselbstständige Männer zu haben, welche gerne unter der Fuchtel der Frau standen.
Ein ehrlicher, offener, demütiger, die selbstverständlichen Dinge des Lebens schätzender, loyaler Mann stellte für mich das Nonplusultra dar. Jemand mit Herz und Hirn – keine unsäglichen Egospielchen und Machtkämpfe in Form von Erniedrigung und besserwisserischem Getue.
»Ich kenne nicht einmal Ihren Namen«, entgegnete ich.
Dies nahm mein mysteriöser Unbekannter sofort zum Anlass, um mir seine Hand entgegenzustrecken. »Ich heiße Tom.«
Ich zögerte. Letztlich schüttelte ich sie. »Sara.«
Er strahlte mich an. »Mit oder ohne stummes H?«
Ich kicherte. »Ohne.«
Himmelherrgott!
Mit seiner charmanten Art schaffte er es im Handumdrehen, mich zu erreichen.
»Na denn, Sara. Jetzt wissen Sie wahrhaftig genug über mich. Dann können Sie mir doch getrost etwas über sich verraten.«
Sollte ich? Sollte ich nicht?
Ich atmete hörbar durch. »Was möchten Sie wissen?«
»Überraschen Sie mich.«
Dieser Mann wurde minütlich rätselhafter.
Wie sollte ich jemanden überraschen? Mein Leben war langweilig. Da passierte nichts. Ein Tag reihte sich an den nächsten.
»Bedauerlicherweise muss ich Sie enttäuschen. Ich kann Sie nicht überraschen. Es gibt nichts Interessantes über mich zu erzählen.« Mit meiner rechten Hand deutete ich auf den Tisch. »Deshalb sitze ich ja hier.« Etwas leiser fügte ich hinzu: »Oder gehe überhaupt nicht außer Haus, da ich sowieso nicht weiß, was ich tun soll.«
»Und Freunde? Sie müssen ja nicht alleine ausgehen.«
Seine Aussage tat mir, ob ich es wollte oder nicht, in der Seele weh.
»Ich habe keine.«
Und hatte es nie gegeben.
Ich konnte Menschen schlichtweg nicht vertrauen – weder damals in der Schulzeit noch heute in der Arbeit.
Verwundert musterte er mich. »Gar keine? Ich meine … es gibt Arbeitskollegen, Nachbarn, Schulfreunde …« Das letzte Wort brachte ihn dazu, eine witzig-angewiderte Schnute zu ziehen. »Nun … Schulfreunde bilden wohl einen etwas eigenwilligen Zustand.«
Ich musste schmunzeln. »Ich glaube, ich brauche nichts Weiteres zu sagen. Offensichtlich haben Sie ähnlich schlechte Erfahrungen gesammelt, wie ich sie mein Eigen nennen darf.«
Soweit ich mich zurückerinnern konnte, hatte ich stets alleine gespielt. Kinder oder Jugendliche in meinem Alter hatten meistens nichts mit mir zu tun haben wollen. Besser sollte ich sagen, sie hatten mich nie akzeptiert. Wenn ich mich beispielsweise zu einer Gruppe spielender Kinder gesellt hatte, hatte es andauernd geheißen: »Du gehörst nicht zu uns! Geh weg! Verschwinde!« Ähnlich verhielt es sich mit Geburtstagsparties. Lud ich die gesamte Klasse ein, kam eine Person.