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Meine Schwäche nervte mich. Normalerweise müsste ich voller Energie sein. Schließlich leistete ich keine Akkordarbeit, ebenso wenig musste ich Lieferungen auspacken oder am Bau ackern. Trotzdem quälte ich mich immer wieder mit immensen Erschöpfungszuständen herum – seit meiner Schulzeit.
An einem Vitaminmangel litt ich jedenfalls nicht. Dies hatte ich erst vor Kurzem austesten lassen. Womöglich sollte ich mich sportlich betätigen? Ein Aufbautraining? Oder schlichtweg jeden Tag lange Spaziergänge unternehmen? Verkehrt war es sicherlich nicht …
Auf der anderen Seite war ich zu schwach, um nach der anstrengenden Büroarbeit überdies körperlich Leistung zu erbringen.
Leichter wäre es, mit einem Zwanzig- oder Dreißigstundenjob. Finanziell konnte ich mir einen solchen Luxus aber leider nicht leisten.
Wäre dies mit einem Partner möglich?
Ach, verdammt!
Wozu über etwas nachgrübeln, das ohnehin in unerreichbarer Ferne lag?
Die restliche Woche verlief ruhig und unspektakulär. Ich erledigte meinen Job, erholte mich von den Strapazen und unterdrückte lästige wiederkehrende Gedankenspiele über Tom und unser Gespräch.
Ich kapierte nicht, weshalb ich diesen Menschen nicht mehr vergessen konnte – Aussehen hin oder her. Er war ein niemand. Ich würde ihn niemals mehr wiedersehen. Punkt. Aus. Fertig.
Darüber hinaus wollte ich nichts mit Musikern zu schaffen haben. Natürlich waren nicht alle davon notorische Fremdgeher oder egozentrische, alkoholabhängige Exzentriker. Künstler blieb trotzdem Künstler – womit Konflikte ausgelöst durch verschrobene Persönlichkeitsmerkmale unvermeidbar waren.
Stopp.
Was, zur verfluchten Hölle, dachte ich da?
Ich wollte keine Beziehung mit ihm. Ich kannte diesen Typ doch gar nicht!
Offenbar war ich verzweifelter, als ich es mir selbst eingestand …

Es war Samstag. Erneut. Traditionell gesehen war er der letzte Wochentag und somit ein Feiertag. Die standardisierte Zählung des ISO 8601 machte Schluss mit dieser Gepflogenheit.
Einst hatte ich diesen Tag inniglich geliebt, mich wahnsinnig darauf gefreut.
Und nun?
Nun empfand ich im besten Falle Trauer.
Ausschlafen konnte ich zwar nach wie vor – meine Arbeitswoche ging glücklicherweise ausnahmslos von Montag bis Freitag – das hibbelige Gefühl, welches mich überkam, wenn ich am Donnerstag bemerkte, dass das Wochenende mittlerweile in greifbarer Nähe lag, war jedoch zur Gänze verschwunden.
Ausgelöst hatte diese Verstimmung mein Ex-Freund. Nachdem dieser Dreckskerl mich grauenhaft behandelt und schlussendlich schäbigst verlassen hatte, hatte mich alles verlassen: meine Heiterkeit, mein Glück, meine Hoffnung, meine Lebensfreude. Obgleich Letztes noch nie recht zu meinen Charaktereigenschaften gezählt hatte.
Ich schob mein Selbstmitleid zur Seite und streckte mich – und wie in den vergangenen Tagen schoss Tom mir durch mein Gehirn.
Verflucht!
Irgendwann würde ich noch durchdrehen!
Freilich, er sah umwerfend gut aus, und Sympathiepunkte hatte er bei mir längst in voller Zahl abkassiert … Davon einmal abgesehen brächte mir eine Liebäugelei mit ihm bestenfalls frische Seelenqualen. Ich hatte nicht das Händchen dafür, verständnisvolle, anständige Männer kennenzulernen – falls solche Traumwesen unter uns wandelten.
Es war ein Fluch. Ein unmöglich zu brechender Fluch. Damit musste ich mich abfinden! Hoffentlich würde mein Herz dies irgendwann verstehen und Ruhe geben.
Nach einigem Krafttanken schwang ich mich aus dem Bett, duschte mich heiß und zog mich an. Mein heutiges Frühstück bestand aus Dinkelcornflakes mit Milch und Honig. Ich machte mein Bett, wusch das Geschirr ab und fuhr im Anschluss daran ins Einkaufszentrum.
Mein Kühlschrank musste befüllt werden. Außerdem ging das Mehl zur Neige.
Und was war schlimmer denn eine leere Vorratskammer?
Exakt.
Ein leerer Kühlschrank und eine leere Vorratskammer.
Zwar konnte man heutzutage jeden Tag und zu beinahe jeder Uhrzeit einkaufen gehen, und erhielt man sämtliche saisonale Produkte das gesamte Jahr über, doch das Wissen, zu wenig oder gar keine Lebensmittel zu Hause griffbereit zu haben, ertrug ich schlichtweg nicht. Speziell im Winter war es mir wichtig, Essensvorräte für mindestens zwei Wochen eingelagert zu wissen.
Die wenigsten Menschen dachten an Ausnahmesituationen. Da sprach ich gar nicht von Kriegen, Seuchen oder Terrorismusangriffen. Bereits ein Wetterphänomen, wie lang anhaltender Schneefall, konnte sämtliche Infrastruktur lahmlegen. Besaß man genügend Vorräte, gab es keinen Grund zur Panik. Ähnlich verhielt es sich mit Stromausfällen. Eine kleine Gasherdplatte samt Drei-Liter-Gasflasche fand selbst in einer Singlewohnung Platz – und warmes Essen und Wasser wurde nicht zum Luxusgut.
Ich stieg in meinen alten Mercedes und fuhr los.
Das von der Form her einem Footballstadium ähnelnde Einkaufszentrum besaß drei Parkdecks: eines unter der Erde, eines direkt vor den zwei Eingängen und eines auf dem Dach.
Da ich die tolle Aussicht liebte, entschied ich mich für das Dachgeschoss.
Ich verließ den Wagen, schloss ab und füllte meine Lungen mit der nach Schnee und Eis duftenden Winterluft. Obwohl die Sonne von einem stahlblauen Himmel schien, lagen die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Der eiskalte Wind machte die Situation auch nicht eben besser. Obwohl ich mir heute einen dicken Pulli, Thermostrumpfhosen und eine Jeans angezogen hatte, fröstele ich ähnlich heftig wie gestern Abend.
Flott schritt ich über die weitläufige Kraftwagenabstellanlage. Neben mir tummelten sich ein paar Familien mitsamt quengelnden Kindern sowie gestresst aussehende alleinerziehende Mütter – und selbstverständlich ein verliebtes Pärchen, das sich wärme- und nähesuchend an den jeweils anderen kuschelte.
Idioten.
Allen voran das dumme, glücklich strahlende Weibsbild. Nahm dieses doch fälschlicherweise an, das Grinsen ihres Freundes rührte von ihren peinlichen Klammerattacken her. Stattdessen freute der Kerl sich lediglich darauf, das gut beheizte Gebäude zu betreten, da er wusste, dadurch etwas mehr Abstand zu ihr gewinnen zu können, ohne unfreundlich zu erscheinen oder seine wahre Geisteshaltung zu offenbaren – nämlich rein gar nichts für sie zu empfinden. Dies wiederum bedeutete, er konnte das naive Dummchen noch eine längere Weile ausnützen und ihr die große Liebe vorgaukeln, einschließlich inniger Umarmungen und Liebkosungen.
Sachte den Kopf schüttelnd folgte ich dem Pseudo-Pärchen in die wohlige Wärme, überholte dieses und eilte weiter zur Treppe.
Aufzüge mied ich seit jeher – nicht aufgrund einer Agoraphobie meinerseits, sondern einzig, weil ich mit fremden Menschen weder für wenige Sekunden noch für Stunden auf engstem Raum eingeschlossen sein wollte.
Niemand wusste, wann der Strom ausging, die Elektronik den Geist aufgab oder sogar das Aufzugsseil riss … Stufen waren da weitaus sympathischer und ungefährlicher. Zudem tat man etwas für seine Figur, und man blieb Herr über seiner selbst.
Im ersten Stock gelandet, hielt ich mich weiter rechts und betrachtete die aneinandergereihten Geschäfte. Ein Jedes davon war unverhältnismäßig gut besucht. Ich nahm die Rolltreppe nach unten, um mich darauffolgend durch lärmende Menschenmengen zum groß angelegten Lebensmittelgeschäft durchzuschlagen.
Die enorme Fläche in der Mitte des Komplexes war heute – von den Kunden einmal abgesehen – vollkommen leer. Dies sah zu Ostern oder Weihnachten anders aus. Dann wurden winzige aus Holz gefertigte Markthäuschen aufgestellt, bei welchen man allerlei Selbstgebasteltes, wie Geschenk- und Dekorationsartikel, erstehen konnte.
Eine mich zur Seite schupsende Gruppe frecher Jugendlicher erhitzte mein Gemüt. Die mich umringenden laut tratschenden und lachenden Leute gaben mir den Rest.
Ich hasste Menschenansammlungen – aus tiefster Seele. Am grausigsten war es im Dezember: Die gehetzten Leute brachten mich dergestalt aus dem Konzept, sodass ich manchmal sogar vergaß, was ich einkaufen wollte. Die ausgesendeten Emotionen der Menge legte sich um meine Sinne, verdunkelte meine Sicht. Da fühlte ich mich wie ein eingeschüchtertes wildes Tier in einem Käfig umringt von mich neugierig musternden Zirkusbesuchern …
Je näher ich dem Lebensmittelgeschäft kam, desto voller wurde es.
Das Villacher Einkaufszentrum erfreute sich zwar Jahr und Tag großer Beliebtheit, heute erinnerte mich dieser Andrang aber eher an die letzten Einkaufstage vor Weihnachten.
Hatten die Menschen etwa noch einen kläglichen Rest an natürlichen Instinkten bewahrt? Die Wetterprognose sagte für die nächsten Tage nämlich weitere tiefe Temperaturen und sogar etwas Schnee voraus.
Der Gedanke an die weiße, glitzernde Pracht vermochte es, meine Stimmung minimal anzuheben.
Ich liebte Schnee!
Die weichen durch die Luft tanzenden Flocken … eingeschneite durch Sonnenstrahlen dramatisch in Szene gesetzte Bäume …
Hoffentlich würde eine erhebliche Menge dieses wundervollen Naturschauspiels fallen. November und Dezember hatten sich durchwegs trocken gezeigt. Die Schneepisten erstrahlten in einem herbstlichen Grün. Einzig der Atem des Winters hatte Wälder und Wiesen ein zärtliches Weiß geschenkt.
Die anhaltenden trockenen Wintermonate brachten die Skination Österreich ganz schön in Bedrängnis. Seit vielen Jahren jammerte der Tourismus über den akuten Schneemangel. Die Schneekanonen waren niemals imstande das Verlangen der Urlauber und Einheimischen nach frischem Neuschnee zu stillen. Folglich wurde geraunzt und Stellen abgebaut, oder in Wellnessanlagen investiert.
Meine Handtasche fest an mich gedrückt wich ich einer zweiten Gruppe lachender Jugendlicher aus.
Wann würden die Menschen verstehen, dass wir mit der Natur leben müssen – und nicht dagegen? Einst entstiegen wir der Erde und letzten Endes gingen wir wieder dorthin. Ein ewiger Kreislauf. Dolme, die es nicht begriffen.
Ich holte eine Eineuromünze hervor und steckte diese in das Pfandschloss eines der vielen Einkaufswagen, welche zu einer eisernen Schlange neben den Aufzügen aufgereiht worden waren, entfernte die Sperrkette und zog den Wagen zurück, um mich sodann in das Lebensmittelgeschäft zu begeben.
Unzählige Dinge türmten sich vor mir auf: Kinderspielzeug, tausende Hygieneartikel, Waschmittelpackungen in allerlei Formen und Farben, Kleidung, meterlange Kühl- und Gefrieranlagen. Aber die Dekadenz schlechthin folgte erst: Dreißig verschiedene Sorten Mineralwasser – und das waren bloß die ohne Geschmack … Und in einem Dritte-Welt-Land verdursteten Menschen angesichts der Tatsache, dass der von ihrem Heimatdorf drei Stunden entfernt gelegene Brunnen von einer großen Lebensmittelmarke aufgekauft worden war und deshalb nicht mehr für die Einheimischen zur Verfügung stand.
Es war ein Albtraum! Ein einziger langer, nicht enden wollender Albtraum.
Ich atmete tief durch und machte mich ans Werk.
Jammern half bekanntlich nichts! Erst recht nicht konnte ich alleine etwas gegen diese und andere Ungerechtigkeiten der Welt anrichten. Gleichwohl zeigte ich meinen Groll, indem ich hauptsächlich Waren einheimischer Firmen und Bauern kaufte. Zumindest so oft es mir möglich war. Im Gegensatz zu den nicht nachhaltig hergestellten importierten Lebensmitteln waren regionale Produkte bekannterweise empfindlich teurer – womit ich wesentlich genauer auf meine Finanzen achten musste.
Mehl, Zucker, Backpulver, Kartoffeln und Hühnerfleisch fanden ihren Weg in meinen Wagen. Ebenso Milch, Butter, Margarine, Salz und Joghurt. Nun fehlten noch Holunderblütensirup, Salat, Äpfel, Bananen und – ganz wichtig – eine Zahnbürste und eine Tube Zahncreme.
Ich drehte den Einkaufwagen mit Schwung zurück – und stieß gegen irgendjemanden.
Zuerst vernahm ich einen Ausruf der Verwunderung, anschließend erblickte ich einen schwarzen Mantel sowie einen Schal in derselben Farbe. Letztgenannter bauschte sich durch meinen Stoß und den daraus resultierenden Sturz des Unglücklichen erst unbeschreiblich elegant in der Luft auf, ehe dieser genauso tollpatschig wie sein Besitzer auf dem Fliesenboden landete.
Es wurde mir heiß, darauf kalt und schlussendlich fing mein Herz wie verrückt zu hämmern an.
Herrgott!
Wenn der Mensch sich nun etwas gebrochen hatte?
So gut versichert war ich nicht!
Mit einem Kribbeln im Hinterteil hockte ich mich zu dem Gestürzten.
Die Person war ein Mann, wahrscheinlich in meinem Alter, mit kupferbraunem Haar – beinahe dieselbe Farbe, wie ich sie mein eigen nennen durfte. Sein Gesicht hatte er von mir weggedreht. Folglich war es mir unmöglich zu sagen, ob er bewusstlos, tot, angefressen oder schlichtweg geschockt war.
»Habe ich Sie verletzt?«, fragte ich besorgt.
Wenn er nun wahrhaftig tot war, was dann? Würde ich wegen Totschlags angeklagt werden?
Dieser Vermutung folgte eine zweite über meinen Rücken kriechende eisige Kälte.
»Nein, sorgen Sie sich nicht«, hörte ich den Unglücklichen jäh sagen.
Mir fiel die halbe Gerlitzen vom Herzen.
Gott sei Dank war er ansprechbar!
Obwohl die Erleichterung und das ausgeschüttete Adrenalin mich dezent benebelten, konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, die Stimme des Unbekannten von irgendwo her zu kennen.
Bloß von woher?
»Mir geht es gut.« Diese Worte gesprochen stemmte sich der Mann behäbig hoch, drehte sich zu mir – und mich traf der Schlag.
Diese Augen.
Himmelherrgottsakrament! Es war Tom!
Was machte der denn hier?!
Geschockt, verwundert, verwirrt besah er mich … Mit großer Wahrscheinlichkeit schaute ich in dem Moment ebenso bescheuert drein wie er … Aber diese Augen! Dieser Ausdruck! Diese eigenartige, sich über mich legende Einigkeit …
Weder konnte ich mich von Tom abwenden geschweige denn mich bewegen. Ich fühlte mich wie hypnotisiert. Hypnotisiert von diesen wunderschönen graublauen Augen.
Graublau. Das schönste Graublau, das ich jemals in meinem Leben gesehen hatte.
»Ist Ihnen etwas passiert? Soll ich einen Arzt rufen?«, vernahm ich die weibliche Stimme eines Kunden, wodurch ich halbwegs zur Besinnung kam.
»Nein, nein«, beschwichtigte Tom teilnahmslos, unterdessen er mich weiterhin anstarrte und gleichzeitig mit seiner linken Hand unbeholfene Gesten Richtung Kundschaft vollführte. »Mir geht es gut.«
Toms Reaktion bewirkte etwas Ähnliches wie einen Kaltstart meines Gehirns.
Wie lange hatte ich Tom wortlos angestarrt … und wie lange hockte ich eigentlich neben ihm?
Ich wusste es beim besten Willen nicht.
Nicht zuletzt deshalb wurde es allerhöchste Zeit, diese peinliche Situation zu beenden, indem ich mich erhob und ihm meine Hand zur Hilfe reichte – welche er sofort und inklusive einem aufkommenden Lächeln ergriff und sich von mir hochziehen ließ.
Alsbald mein flüchtiger Lokal-Bekannter in seiner ganzen Pracht vor mir stand, wurde ich mir erst seiner ausgeprägten Schönheit gewahr.
Das dichte gewellte Haar, von welchem vereinzelte Strähnen locker über seine zarten Augenbrauen fielen, seine feinporige Haut, die edlen Gesichtszüge … aber vor allem dieser mich ununterbrochen musternde, seelenverschmelzende Blick. Ein Blick, intimer als eine sexuelle Vereinigung, leidenschaftlicher als ein lateinamerikanischer Tanz, zärtlicher als sich niederlassende Lindenblütenpollen im frühlingsfrischen Gras …
Um Toms Seeleninspizierung kurzzeitig zu entgehen, bückte ich mich und langte nach seinem Schal.
Warum musste ich ausgerechnet ihm begegnen? Warum musste ich ausgerechnet ihn zu Boden stoßen? Warum immer ich?!
Verflucht!
»Warten Sie, Sie brauchen sich nicht zu bemühen«, erwiderte er, jedoch hatte ich das Kleidungsstück längst an mich genommen. Eben war ich dabei, mich aufzurichten, da durchfuhr mich ein blitzartiger mich zu Boden werfender Kopfschmerz.
»Grundgütiger!«
Während Tom diesen lieblichen Ausruf tätigte, versuchte ich, mich vorsichtig und mit geschlossenen Lidern hinzuknien.
Der Schmerz in meinem Schädel war exorbitant.
Hatte ich eben einen Hirnschlag erlitten?
Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da fühlte ich, wie Toms Hände mein Gesicht umfassten – und reine Geborgenheit durchströmte mich. Sie erfüllte meinen Leib, mein Herz, meine Seele, meinen Geist. Sie brachte meine Gehirnleistung zum Erliegen, umschloss und erleuchtete jedwede Stelle meines verdunkelten Inneren. Was Tom zuvor mit seinem Seelenblick angedeutet hatte, hatte seine Berührung ein Stück in die Tat umgesetzt: Er war in mich eingedrungen, hatte sich mit mir vereinigt.
Es war erschreckend wie wunderschön … beängstigend wie erregend … aufwühlend wie beruhigend.
Oder trug gar mein hämmernder Kopfschmerz an dieser eigenartigen Reaktion Schuld?
»Geht es?«
Zögerlich richtete ich mich auf, suchte des Musikers Angesicht. Seine Hände hielt er weiterhin um meine Gesichtskonturen gelegt.
Himmel …
Tom war mir so nah … vielleicht zehn Zentimeter trennten unsere Nasenspitzen … dazu gesellte sich sein markanter wie besorgter Augenausdruck, von welchem mir zu allem Überfluss schwindlig wurde.
»Falls ich keinen Hirnschlag erlitten habe«, antwortete ich gepresst. »War dies wohl der Beginn eines Clusterkopfschmerzes … oder so …«
Engelsgleiche Güte trat in Erscheinung. »Zwar bin ich kein Humanmediziner, dennoch kann ich Ihnen garantieren, nicht an Clusterkopfschmerzen zu leiden.«
»Na, das beruhigt mich.« Wenigstens gelang es mir, mich gefasst und unbeeindruckt anzuhören. Mein Herz hingegen schien nahezu zu zerspringen. Und meine Nerven? Diese waren nicht mehr angespannt, sondern längst zerrissen.
Diese psychische Ausnahmesituation kompensierte mein Verstand, indem er just eigenwillige Fragen auftreten ließ.
Wie würde sich ein Kuss mit Tom anfühlen? Wie würde er schmecken? Genauso gut wie sein zartes Aftershave vermengt mit diesem minimalistisch herben, mich verrückterweise an Stroh erinnernden Eigengeruch?
Ich räusperte meine behämmerten gedanklichen Ergüsse davon. »Und wissen Sie, was mir fehlt?«
Ein breites Grinsen verlieh Tom diesen spitzbübisch-charmanten Zauber. »Sie haben mir eben einen Kopfstoß versetzt. Das ist alles.«
Ich blinzelte. »Wie … was?«
Er begann zu kichern.
Es hörte sich unwahrscheinlich an – unwahrscheinlich schön, niedlich, wunderbar …
»Ich wollte selbst nach meinem Schal greifen, doch Sie waren schneller und erhoben sich exakt in dem Moment, als ich mich zu Ihnen herabgebeugt hatte.«
Der Schal … natürlich!
Da spürte ich das gestrickte Kleidungsstück in meinen Händen – und erst dadurch verstand ich, was Tom mir zu sagen versuchte.
»O nein! Nicht auch noch das!« Meine Wangen erhitzten. »Habe ich Sie verletzt?«
Er ließ von mir ab, um sein Kinn zu umfassen. »Nun, Zähne sind noch alle beisammen … wehgetan hat es dennoch.«
»Das ist mir äußerst peinlich.«
Erst warf ich ihn zu Boden, und dann verpasste ich ihm überdies einen Kopfstoß. Das Ganze entwickelte sich allmählich zu einer Katastrophe!
Wackelig stand ich auf – und Tom war sofort dabei, mir aufzuhelfen, indem er seinen rechten Arm um meinen linken schlang. »Warten Sie, ganz langsam. Sonst fallen Sie mir noch um.«
»Keine Sorge.« Ich strich mir ein paar Haarsträhnen hinters Ohr und aktivierte den Rest meiner kaum vorhandenen Schlagfertigkeit. »Ich lasse es bestimmt nicht so weit kommen, dass ich in die Arme eines Mannes fallen werde.«
Das würde dieser Situation die Krone aufsetzen!
Toms Seelenerkundungsblick intensivierte sich zunehmend. »Nun, ich hätte nichts dagegen einzuwenden.«
Ich krauste die Stirn. »Wenn Sie in die Arme eines Mannes fallen?«
Meine Aussage entlockte ihm ein herzallerliebstes Schmunzeln. »Darauf haben Sie gewartet, geben Sie es zu!«
Nun konnte selbst ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen.
Er hüstelte leise. »Spaß beiseite … Damit meinte ich selbstredend Sie.«
Frische Hitze kletterte mir in mein Haupt.
Flirtete dieser Kerl etwa ständig? Gab es nichts anderes für ihn?
Seine nach wie vor meinen linken Arm festhaltenden Hände drängten meine Überlegungen in eine andere Richtung.
Wollte Tom mich nicht mehr loslassen?
Sein unbekümmerter fröhlich-zufriedener Ausdruck sagte eher »Ja« …
Das bedeutete wohl, ein weiteres Mal selbst aktiv zu werden.
Durch einen langen Schritt nach hinten war es mir möglich, seinen warmen Händen zu entkommen – und die mir altvertraute Leere trat schlagartig zurück in mein Inneres.
Eigentlich wollte ich gar nicht weg von Tom. Dieser verrückten Tatsache wurde ich mir blöderweise erst gewahr, nachdem ich meinen Einkaufswagen ergriffen hatte.
Kruzitürken noch einmal!
Welchen Irrsinn fühlst du da?
Dieser Flirtmeister hatte es neuerlich geschafft, mich mit einem einzigen Blick einzulullen!
»Darf ich meinen Schal zurückhaben?«
Wie?
Verdutzt blickte ich auf meine rechte Hand … und erstarrte.
Fest umklammert hielten meine Finger das schwarze Kleidungsstück wie den Griff des Einkaufwagens.
Verdammt …
Ich hatte nicht bemerkt, diesen nach wie vor bei mir zu tragen.
Himmel … was war los mit mir?
Dass ich grundsätzlich schnell aus dem Konzept gebracht werden konnte, war kein Geheimnis. Gegen solche Verwirrtheitszustände hatte ich aber noch nie kämpfen müssen … und meine Beschämung? Die war längst mit vierzig Zehnerpotenzen multipliziert worden.
Ich antwortete Tom mit einem knappen »Natürlich« und reichte ihm den kuscheligen Halswärmer.
Was hätte ich sonst entgegnen sollen? Jede Erklärung, Abschwächung oder Negierung meiner offenkundigen Blödheit hätte mich bloß weiter ins Abseits manövriert.
Dankend nahm Tom den Schal entgegen und wickelte diesen sogleich um seinen schlanken Hals. »Normalerweise mag ich Tücher und Schals nicht besonders … Irgendwie fühle ich mich da … nun ja … wie vom anderen Ufer.«
Angesichts möglicher Beleidigungen durch eine unbedachte Stellungnahme meinerseits wollte ich ihm ursprünglich ein gekünsteltes Lächeln zuwerfen und nicht weiter darauf eingehen.
Doch was geschah stattdessen?
Ich verfiel in ein herzliches, unbefangenes Gelächter. Auf Biegen und Brechen – es gelang mir nicht einmal im Ansatz, dieses einzudämmen.
Verflixt und zugenäht!
Ich verstand mich einfach nicht mehr. Besser gesagt: Ich verstand rein gar nichts mehr.
Und Tom …
War er sich seiner Situationskomik eigentlich bewusst?
Letztgenanntem jedenfalls schien mein Lachanfall deutlich zuzusagen, davon bezeugte sein bombastisches, in seinen Augen explodierendes Seelenlicht.
Es dauerte etwas, bis mein emotionaler Ausreißer gänzlich abgeebbt war und ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte. »Sie sehen nicht schwul aus.«
Ein spitzbübisches Grinsen Toms trat selbstbewusst in Erscheinung. »Das freut mich … Es wäre ärgerlich, wenn plötzlich ausnahmslos Homosexuelle an mir Interesse zeigen würden.« Unversehens vollführte er beschwichtigende Handgesten. »Damit will ich aber unter keinen Umständen eine Aversion gegen Personen mit divergenten Vorlieben andeuten. Solange Menschen keine Straftaten begehen, ist es mir völlig gleich, was sie tun, mögen oder lieben.«
Das war eine Ansage!
Nicht einmal alle Menschen in meinem Umfeld zusammengerechnet konnten mit einem solchen Weitblick aufwarten.
Tom sah das große Ganze – nicht bloß einen winzigen Ausschnitt des Bildes … oder wie in diesem Fall, des Gesagten.
Ich straffe die Gestalt. »Nein, ernsthaft. Sie sehen damit nicht schwul aus. Der Schal und der Mantel steht Ihnen, ebenso der Anzug letzten Samstag. Sie haben einen ausgeprägten Geschmack für elegante Kleidung. Das ist eine Seltenheit heutzutage. Insbesondere Männern gelingt es kaum, sich vernünftig anzuziehen. Sie bilden eine gern gesehene Ausnahme.«