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3.
Über diese Kunst will ich etwas sagen. – Aber habe ich denn auch wohl Beruf, ein Buch über den esprit de conduite zu schreiben, ich, der ich in meinem Leben vielleicht sehr wenig von diesem Geiste gezeigt habe? Ziemt es mir, Menschenkenntnis auszukramen, da ich so oft ein Opfer der unvorsichtigsten, einem Neulinge kaum zu verzeihenden Hingebung gewesen bin? Wird man die Kunst des Umgangs von einem Manne lernen wollen, der beinahe von allem menschlichen Umgange abgesondert lebt? – Lasset doch sehn, meine Freunde! was sich darauf antworten lässt! Habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von meiner eigenen Ungeschicklichkeit überzeugt haben – desto besser! Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher darin gesteckt hat? Haben Temperament und Weichlichkeit (oder darf ich es nicht Fühlbarkeit eines so gern sich anschließenden Herzens nennen?), haben Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, nach Gelegenheit, andern zu dienen und sympathische Empfindungen zu erregen, mich oft unvorsichtig handeln gemacht, oft die kalkulierende Vernunft weit zurückgelassen; so war es wahrlich nicht Blödsinnigkeit, Kurzsichtigkeit, Unbekanntschaft mit Menschen, was mich irreleitete, sondern Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden, Verlangen, tätig zu sein, zum Guten zu wirken. Übrigens werden vielleicht wenig Menschen in einem so kurzen Zeitraume in so manche sonderbare Verhältnisse und Verbindungen mit andern Menschen aller Art geraten, als ich seit ungefähr zwanzig Jahren; und da hat man denn schon Gelegenheit, wenn man nicht ganz von der Natur und Erziehung verwahrlost ist, Bemerkungen zu machen, und vor Gefahren zu warnen, die man selbst nicht hat vermeiden können. Dass ich aber jetzt einsam und abgezogen lebe, geschieht weder aus Menschenhass noch Blödigkeit; ich habe sehr wichtige Gründe dazu; allein diese hier weitläufig zu entwickeln, das hieße zu viel von mir selbst reden, da ich ohnehin noch, zum Schlusse dieser Einleitung, etwas über meine eigenen Erfahrungen werde sagen müssen, bevor ich zum Zwecke komme. – Also nur noch dieses:
4.
Ich trat als ein sehr junger Mensch, beinahe noch als ein Kind, schon in die große Welt und auf den Schauplatz des Hofes. Mein Temperament war lebhaft, unruhig, bewegsam, mein Blut warm; die Keime zu mancher heftigen Leidenschaft lagen in mir verborgen; ich war in der ersten Erziehung ein wenig verzärtelt und durch große Aufmerksamkeit, deren man meine kleine Person früh gewürdigt hatte, gewöhnt worden, sehr viel Rücksichten von andern Leuten zu fordern. In einem freien Vaterlande aufgewachsen, wo Schmeichelei, Verstellung und ein gewisses kriechendes Wesen nicht sehr zu Hause sind, hatte man mich freilich auch nicht zu jener Geschmeidigkeit vorbereitet, deren ich bedurfte, um, unter mir ganz fremden Leuten, in despotischen Staaten große Fortschritte zu machen; auch ist der theoretische Unterricht in wahrer Weltklugheit bei der Jugend teils selten mit Erfolge, teils nicht immer ohne Gefahr zu erteilen; eigene Erfahrung muss da in der Folge das Beste tun. Diese Lektionen, wenn man das Glück hat, wohlfeil daran zu kommen, sind von der heilsamsten Wirkung und prägen sich tief ein. Noch erinnere ich mich einer kleinen Szene von der Art, die mich auf eine Zeitlang vorsichtig machte: Ich saß in C+++ in der italienischen Oper, in der herrschaftlichen Loge; ich war früher als der Hof gekommen, weil ich mittags nicht auf dem Schlosse, sondern in der Stadt zu Gaste gespeist hatte; noch waren wenig Menschen da; in der ganzen Reihe des ersten Rangs saß nur der einzige Landkommandeur, Graf J+++, ein würdiger Greis. Er hatte, wie es scheint, auch darauf gerechnet, dass es schon später wäre, als es wirklich war; weil er nun Langeweile hatte und mich gleichfalls einsam da sitzen sah, so trat er zu mir herein und fing eine Unterredung mit mir an. Er schien sehr zufrieden mit dem, was ich ihm über verschiedene Gegenstände, von denen ich einige Kenntnis besaß, sagte; der Greis wurde immer freundlicher und herablassender, und dies kitzelte mich so sehr, dass ich darauf allerlei Seitensprünge in meinem Gespräche machte und zuletzt ein wenig medisant wurde. Endlich entwischte mir eine mir gegenwärtig nicht mehr erinnerliche grobe Unvorsichtigkeit im Reden; der Graf sah mir ernsthaft in das Gesicht, und ohne weiter ein Wort zu verlieren, ließ er mich stehn und ging zurück in seine Loge. Ich fühlte die ganze Stärke dieses Verweises, aber die Arznei half nicht lange. Meine Lebhaftigkeit verleitete mich zu großen Inkonsequenzen; ich übereilte alles, tat immer zu viel oder zu wenig, kam stets zu früh oder zu spät, weil ich immer entweder eine Torheit beging oder eine andere gutzumachen hatte. Daher kamen unendliche Widersprüche in meinen Handlungen, und ich verfehlte fast bei allen Gelegenheiten des Zwecks, weil ich keinen einfachen Plan verfolgte. Zuerst war ich zu sorglos, zu offen, gab mich zu unvorsichtig hin und schadete mir dadurch; alsdann nahm ich mir vor, ein feiner Hofmann zu werden; mein Betragen wurde gekünstelt, und nun trauten mir die Bessern nicht; ich war zu geschmeidig und verlor dadurch äußere Achtung und innere Würde, Selbständigkeit und Ansehn. Erbittert gegen mich und andre riss ich mich dann los und wurde bizarr. Dies erregte Aufsehn; die Menschen suchten mich auf, wie sie alles Sonderbare aufsuchen. Dadurch aber erwachte mein Trieb zur Geselligkeit wieder; ich näherte mich aufs neue, lenkte wieder ein, und nun verschwand der Nimbus, den nur meine Abgezogenheit von der Welt um mich her gezogen hatte. In einer andere Periode spottete ich der Torheiten, zuweilen nicht ohne Witz; man fürchtete mich, aber man liebte mich nicht; dies schmerzte mich; um das wieder gutzumachen, zeigte ich mich von der unschädlichen Seite, entfaltete mein liebevolles, wohlwollendes Herz, unfähig zu schaden und zu verfolgen – und die Wirkung davon war, dass jedermann, der noch einen Rest von Groll auf mich oder irgendeinen lustigen Einfall von mir auf seine Rechnung geschrieben hatte, mir jetzt auf der Nase spielte, sobald er sah, dass ich nur mit Rapieren und nicht mit Schwertern focht, dass meine Waffen nicht zum Morde geschliffen waren. Oder wenn meine satirische Laune durch den Beifall lustiger Gesellschafter aufgeweckt wurde, hechelte ich große und kleine Toren durch; die Spaßvögel lachten dann; aber die Weisern schüttelten die Köpfe und wurden kalt gegen mich. Um zu zeigen, wie wenig bösartig meine Laune wäre, hörte ich auf zu medisieren und entschuldigte alle Fehler, und nun hielten einige mich für einen Pinsel, andre für einen Heuchler. Wählte ich mir meinen Umgang unter den ausgesuchtesten, aufgeklärtesten Männern, so erwartete ich vergebens Schutz von dem am Ruder stehenden Dummkopf; gab ich mich elenden Leuten preis, so wurde ich mit diesen in eine Klasse gesetzt. Menschen ohne Erziehung, von niederm Stande missbrauchten mich, wenn ich mich ihnen zu sehr näherte; mit Vornehmern verdarb ich es, sobald sie meine Eitelkeit beleidigten. Bald ließ ich zu viel Übergewicht den Dummen fühlen und wurde verfolgt; bald war ich zu bescheiden und wurde übersehn. Bald richtete ich mich nach den Sitten der Leute, nach dem Ton aller unbedeutenden Gesellschaften, in welche ich lief, verlor goldene Zeit, Achtung der Weisen und Zufriedenheit mit mir selber; dann wurde ich zu einfach und spielte eine schiefe Rolle, da, wo ich hätte glänzen können und sollen, durch Mangel an Zuversicht zu mir selber. Zu einer Zeit ging ich zu selten aus; man hielt mich für stolz oder menschenscheu; zu einer andern zeigte ich mich überall und wurde ein Alltagsgesicht. In den ersten Jünglingsjahren gab ich mich unbedachtsam jedem ausschließlich, einzeln und ganz hin, der sich meinen Freund nannte und mir einige Zuneigung bewies, wurde oft schändlich betrogen und in den süßesten Erwartungen getäuscht; nachher war ich jedermanns Freund, bereit jedem zu dienen, und dann schloss sich niemand mit ganzer Seele an mich, weil niemand mit dem kleinen, in so viel Partikeln geteilten Stückchen Herzen vorliebnehmen wollte. Wenn ich zu viel erwartete, wurde ich getäuscht; wenn ich ohne allen Glauben an Treue und Redlichkeit unter den Menschen umherrannte, hatte ich gar keinen Genuss, nahm an gar nichts teil. Nie aber verbarg ich meine schwachen Seiten so sorgfältig, als ich hätte tun sollen. – Und so vergingen dann die Jahre, in welchen ich hätte mein Glück machen können, wie man das gewöhnlich nennt. Jetzt, da ich die Menschen besser kenne, da Erfahrung mir die Augen geöffnet, mich vorsichtig gemacht und vielleicht die Kunst gelehrt hat, auf andre zu wirken, jetzt ist es zu spät für mich, diese Wissenschaft in Anwendung zu bringen. Mein Rücken krümmt sich mit Mühe zu Reverenzen; ich habe nicht viel unnütze Zeit mehr zu verschwenden, die ich preisgeben könnte; das Wenige, was ich noch in dem Reste meines Lebens auf solchen Wegen erlangen könnte, lohnt die Mühe und Anstrengung nicht, die mich das kosten würde, und es ziemt dem Mann, dessen Grundsätze Alter und Erfahrung befestigt haben, ebenso wenig, jetzt erst anzufangen, den Geschmeidigen wie den Stutzer zu spielen. – Es ist zu spät, sage ich, mit der Ausübung anzuheben, aber nicht zu spät, Jünglingen zu zeigen, welchen Weg sie wandeln müssen – und so lasset uns denn den Versuch machen und der Sache näher rücken!
Erstes Kapitel: Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen
1.
Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als wozu er sich selbst macht. Das ist ein goldener Spruch, ein reiches Thema zu einem Folianten über den esprit de conduite und über die Mittel, in der Welt seinen Zweck zu erlangen; ein Satz, dessen Wahrheit auf die Erfahrung aller Zeitalter gestützt ist. Diese Erfahrung lehrt den Abenteurer und Großsprecher, sich bei dem Haufen für einen Mann von Wichtigkeit auszugeben, von seinen Verbindungen mit Fürsten und Staatsmännern, mit Männern, welche nicht einmal von seiner Existenz wissen, in einem Tone zu reden, der ihm, wo nichts mehr, doch wenigstens manche freie Mahlzeit und den Zutritt in den ersten Häusern erwirbt. Ich habe einen Menschen gekannt, der auf diese Art von seiner Vertraulichkeit mit dem Kaiser Joseph und dem Fürsten Kaunitz redete, obgleich ich ganz gewiss wusste, dass diese ihn kaum dem Namen nach, und zwar als einen unruhigen Kopf und Pasquillanten kannten. Indessen hatte er hierdurch, da niemand genauer nachfragte, sich auf eine kurze Zeit in ein solches Ansehn gesetzt, dass Leute, die bei des Kaisers Majestät etwas zu suchen hatten, sich an ihn wendeten. Dann schrieb er auf so unverschämte Art an irgendeinen Großen in Wien und sprach in diesem Briefe von seinen übrigen vornehmen Freunden daselbst, dass er zwar nicht Erlangung seines Zwecks, aber doch manche höfliche Antwort erschlich, mit welcher er dann weiter wucherte.
Diese Erfahrung macht den frechen Halbgelehrten so dreist, über Dinge zu entscheiden, wovon er nicht früher als eine Stunde vorher das erste Wort gelesen oder gehört hat, aber so zu entscheiden, dass selbst der anwesende bescheidene Literator es nicht wagt, zu widersprechen, noch Fragen zu tun, die des Schwätzers Fahrzeug aufs Trockene werfen könnten.
Diese Erfahrung ist es, durch welche der empordringende Dummkopf sich zu den ersten Stellen im Staat hinaufarbeitet, die verdienstvollsten Männer zu Boden tritt und niemand findet, der ihn in seine Schranken zurückwiese.
Sie ist es, durch welche sich die unbrauchbarsten, schiefsten Genies, Menschen ohne Talent und Kenntnisse, Plusmacher und Windbeutel bei den Großen der Erde unentbehrlich zu machen verstehen.
Sie ist es, die größtenteils den Ruf von Gelehrten, Musikern und Malern bestimmt.
Auf diese Erfahrung gestützt, fordert der fremde Künstler für ein Stück hundert Louisdor, das der einheimische, zehnfach besser gearbeitet, um fünfzig Taler verkaufen würde; allein man reißt sich um des Ausländers Werke; er kann nicht so viel fertig machen, als von ihm gefordert wird, und am Ende lässt er bei dem Einheimischen arbeiten und verkauft das für ultramontanische Ware.
Auf diese Erfahrung gestützt, erschleicht sich der Schriftsteller eine vorteilhafte Rezension, wenn er in der Vorrede zu dem zweiten Teile seines langweiligen Buchs mit der schamlosesten Frechheit von dem Beifalle redet, womit Kenner und Gelehrte, deren Freundschaft er sich rühmt, den ersten Teil beehrt haben.
Diese Erfahrung gibt dem vornehmen Bankrottieren, der Geld borgen will und nie wieder bezahlen kann, den Mut, das Anlehn in solchen Ausdrücken zu fordern, dass der reiche Wucherer es für Ehre hält, sich von ihm betrügen zu lassen.
Fast alle Arten von Bitten um Schutz und Beförderung, die in diesem Tone vorgetragen werden, finden Eingang und werden nicht abgeschlagen, dahingegen Verachtung, Zurücksetzung und nicht erfüllte billige Wünsche fast immer der Preis des bescheidenen, furchtsamen Klienten sind.
Diese Erfahrung lehrt den Diener, sich bei seinem Herrn, und den, welcher Wohltaten empfangen, sich bei dem Wohltäter so wichtig zu machen, dass der, so die Verbindlichkeit auflegt, es für ein großes Glück rechnet, einem solchen Manne anzugehören. – Kurz! der Satz: dass jedermann nicht mehr und nicht weniger gelte, als wozu er sich selbst macht, ist die große Panacee für Aventuriers, Prahler, Windbeutel und seichte Köpfe, um fortzukommen auf diesem Erdballe – ich gebe also keinen Kirschkern für dieses Universalmittel. – Doch still! sollte denn jener Satz uns gar nichts wert sein? Ja, meine Freunde! Er kann uns lehren, nie ohne Not und Beruf unsre ökonomischen, physikalischen, moralischen und intellektuellen Schwächen aufzudecken. Ohne also sich zur Prahlerei und zu niederträchtigen Lügen herabzulassen, soll man doch nicht die Gelegenheit verabsäumen, sich von seinen vorteilhaften Seiten zu zeigen.
Dies muss aber nicht auf eine grobe, gar zu merkliche, eitle und auffallende Weise geschehn, denn sonst verlieren wir viel mehr dadurch; sondern man muss die Menschen nur mutmaßen, sie von selbst darauf kommen lassen, dass doch wohl etwas mehr hinter uns stecke, als bei dem ersten Anblicke hervorschimmert. Hängt man ein gar zu glänzendes Schild aus, so erweckt man dadurch die genauere Aufmerksamkeit; andre spüren den kleinen Fehlern nach, von denen kein Erdensohn frei ist, und so ist es auf einmal um unsern Glanz geschehn. Zeige Dich also mit einem gewissen bescheidenen Bewusstsein innerer Würde, und vor allen Dingen mit dem auf Deiner Stirne strahlenden Bewusstsein der Wahrheit und Redlichkeit! Zeige Vernunft und Kenntnisse, wo Du Veranlassung dazu hast! Nicht so viel, um Neid zu erregen und Forderungen anzukündigen, nicht so wenig, um übersehn und überschrien zu werden! Mache Dich rar, ohne dass man Dich weder für einen Sonderling, noch für scheu, noch für hochmütig halte!
2.
Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit und Unfehlbarkeit! Die Menschen beurteilen und richten Dich nach dem Maßstabe Deiner Prätensionen, und sie sind noch billig, wenn sie nur das tun, wenn sie Dir nicht Prätensionen aufbürden. Dann heißt es, wenn Du auch nur des kleinsten Fehlers Dich schuldig machst: »Einem solchen Manneist das gar nicht zu verzeihn«; und da die Schwachen sich ohnehin ein Fest daraus machen, an einem Menschen, der sich verdunkelt, Mängel zu entdecken, so wird Dir ein einziger Fehltritt höher angerechnet als andern ein ganzes Register von Bosheiten und Pinseleien.
3.
Sei aber nicht gar zu sehr ein Sklave der Meinungen andrer von Dir! Sei selbständig! Was kümmert Dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn Du tust, was du sollst? Und was ist Deine ganze Garderobe von äußern Tugenden wert, wenn Du diesen Flitterputz nur über ein schwaches, niedriges Herz hängst, um in Gesellschaften Staat damit zu machen?
4.
Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmenschen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern!
5.
Schreibe nicht auf Deine Rechnung das, wovon andern das Verdienst gebührt! Wenn man Dir, aus Achtung gegen einen edlen Mann, dem Du angehörst, Vorzug oder Höflichkeit beweist, so brüste Dich damit nicht, sondern sei bescheiden genug zu fühlen, dass dies alles vielleicht wegfallen würde, wenn Du einzeln aufträtest! Suche aber selbst zu verdienen, dass man Dich um Deinetwillen ehre! Sei lieber das kleinste Lämpchen, das einen dunklen Winkel mit eigenem Lichte erleuchtet als ein großer Mond einer fremden Sonne oder gar Trabant eines Planeten!
6.
Fehlt Dir etwas, hast Du Kummer, Unglück, leidest Du Mangel, reichen Vernunft, Grundsätze und guter Wille nicht zu, so klage Dein Leid, Deine Schwäche niemand als dem, der helfen kann, selbst Deinem treuen Weibe nicht! Wenige helfen tragen; fast alle erschweren die Bürde; ja! sehr viele treten einen Schritt zurück, sobald sie sehen, dass Dich das Glück nicht anlächelt. Sobald sie aber gar wahrnehmen, dass Du ganz ohne Hilfsquellen bist, dass Du keinen geheimen Schutz hast, niemand, der sich Deiner annimmt – o! so rechne auf keinen mehr! Wer hat den Mut, einzig und fest als die Stütze des von aller Welt Verlassenen öffentlich aufzutreten? Wer hat den Mut, zu sagen: »Ich kenne den Mann; er ist mein Freund; er ist mehr wert als ihr alle, die ihr ihn schmähet«? Und fändest Du ja einen solchen, so würde es doch nur etwa ein andrer armer Teufel sein, der selbst in elenden Umständen, aus Verzweiflung sein Schicksal an das Deinige knüpfen wollte, dessen Schutz Dir mehr schädlich als nützlich wäre.
7.
Rühme aber auch nicht zu laut Deine glückliche Lage! Krame nicht zu glänzend Deine Pracht, Deinen Reichtum, Deine Talente aus! Die Menschen vertragen selten ein solches Übergewicht ohne Murren und Neid. Lege daher auch andern keine zu große Verbindlichkeit auf! Tue nicht zu viel für Deine Mitmenschen! Sie fliehen den überschwänglichen Wohltäter, wie man einen Gläubiger flieht, den man nie bezahlen kann. Also hüte Dich, zu groß zu werden in Deiner Brüder Augen, auch fordert jeder zu viel von Dir, und eine einzige abgeschlagene Wohltat macht tausend wirklich erzeigte in einem Augenblick vergessen.
8.
Vor allen Dingen wache über Dich, dass Du nie die innere Zuversicht zu Dir selber, das Vertrauen auf Gott, auf gute Menschen und auf das Schicksal verlierst! Sobald Dein Nebenmann auf Deiner Stirne Missmut und Verzweiflung liest – so ist alles aus. Sehr oft aber ist man im Unglücke ungerecht gegen die Menschen. Jede kleine böse Laune, jede kleine Miene von Kälte deutet man auf sich; man meint, jeder sehe es uns an, dass wir leiden, und weiche vor der Bitte zurück, die wir ihm tun könnten.
9.
Gegenwart des Geistes ist ein seltenes Geschenk des Himmels und macht, dass wir im Umgange in sehr vorteilhaftem Lichte erscheinen. Dieser Vorzug nun lässt sich freilich nicht durch Kunst erlangen; allein man kann an sich arbeiten, dass, wenn er uns fehlt, wir wenigstens nicht durch Übereilung uns und andre in Verlegenheit setzen. Sehr lebhafte Temperamente haben hierauf vorzüglich zu achten. Ich rate daher, wenn eine unerwartete Frage, ein ungewöhnlicher Gegenstand oder irgend etwas anders uns überrascht, nur eine Minute still zu schweigen und der Überlegung Zeit zu lassen, uns zu der Partei vorzubereiten, die wir nehmen sollen. So wie ein einziges rasches, unvorsichtiges Wort oder ein in der Verwirrung unternommener Schritt zu späte Reue und unglückliche Folgen wirken können, so kann ein schnell auf der Stelle gefasster und ausgeführter rascher Entschluß in entscheidenden Augenblicken, in welchen man so leicht den Kopf verliert, Glück, Rettung, Trost bringen.
10.
So wenig als möglich lasset uns von andern Wohltaten fordern und annehmen! Man trifft gar selten Leute an, die nicht früh oder spät für kleine Dienste große Rücksichten forderten, und das hebt dann das Gleichgewicht im Umgange auf, raubt Freiheit, hindert uneingeschränkte Wahl, und wenn auch unter zehnmal nicht einmal der Fall einträte, dass dies uns in Verlegenheit setzte oder Verdruss zuzöge, so ist es doch weislich gehandelt, dies mögliche Einmal zu vermeiden und lieber immer zu geben, jedem zu dienen als von andern Dienste oder sonst etwas anzunehmen. Auch gibt es wenig Menschen, die mit guter Art Wohltaten erzeigen. Versuchet es, meine Freunde! wie viele unter Euren Bekannten nicht auf einmal, mitten in der fröhlichsten, höflichsten Gemütsstimmung, ihr Gesicht in feierliche Falten ziehen, wenn Ihr Eure Anrede mit den Worten anhebet: »Ich muss eine große Bitte an Sie wagen; ich bin in einer erschrecklichen Verlegenheit.«
Um nun fremden Beistandes entbehren zu können, dazu ist das beste Mittel, wenig Bedürfnisse zu haben, mäßig zu sein und bescheidene Wünsche zu nähren; wer aber von unzähligen Leidenschaften in rastlosem Taumel umhergetrieben wird, bald Ehrenstellen, bald Wucher, bald Erwerb, bald wollüstigen Genuss verlangt; wer von dem Luxus des Zeitalters angesteckt, alles begehrt, was seine Augen sehen, wen vorwitzige Neugier und ein unruhiger Geist treiben, sich in jeden unnützen Handel zu mischen, der wird freilich nie der Hilfe und Unterstützung fremder Leute zur Befriedigung seiner zahllosen Wünsche sich entäußern können.
11.
Keine Regel ist so allgemein, keine so heilig zu halten, keine führt so sicher dahin, uns dauerhafte Achtung und Freundschaft zu erwerben, als die: unverbrüchlich, auch in den geringsten Kleinigkeiten, Wort zu halten, seiner Zusage treu, und stets wahrhaftig zu sein in seinen Reden. Nie kann man Recht und erlaubte Ursache haben, das Gegenteil von dem zu sagen, was man denkt, wenngleich man Befugnis und Gründe haben kann, nicht alles zu offenbaren, was in uns vorgeht. Es gibt keine Notlügen; noch nie ist eine Unwahrheit gesprochen worden, die nicht früh oder spät nachteilige Folgen für jedermann gehabt hätte; der Mann aber, der dafür bekannt ist, streng Wort zu halten und sich keine Unwahrheit zu gestatten, gewinnt gewiss Zutrauen, guten Ruf und Hochachtung.
12.
Sei streng, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in Deinem Berufe! Bewahre Deine Papiere, Deine Schlüssel und alles so, dass Du jedes einzelne Stück auch im Dunkeln finden könntest! Verfahre noch ordentlicher mit fremden Sachen! Verleihe nie Bücher oder andre Dinge, die Dir geliehen worden; hast Du von andern dergleichen geliehn, so bringe oder schicke sie zu gehöriger Zeit wieder und erwarte nicht, dass sie oder ihre Domestiken noch Wege darum tun, um diese Dinge abzuholen! – Jedermann geht gern mit einem Menschen um und treibt Geschäfte mit ihm, wenn man sich auf seine Pünktlichkeit in Wort und Tat verlassen kann.
13.
Interessiere Dich für andre, wenn Du willst, dass andre sich für Dich interessieren sollen! Wer unteilnehmend, ohne Sinn für Freundschaft, Wohlwollen und Liebe, nur sich selber lebt, der bleibt verlassen, wenn er sich nach fremdem Beistande sehnt.
14.
Zwei Gründe hauptsächlich müssen uns bewegen, nicht gar zu offenherzig gegen die Menschen zu sein: zuerst die Furcht, unsre Schwäche dadurch aufzudecken und missbraucht zu werden, und dann die Überlegung, dass, wenn man die Leute einmal daran gewöhnt hat, ihnen nichts zu verschweigen, sie zuletzt von jedem unsrer kleinsten Schritte Rechenschaft verlangen, alles wissen, um alles zu Rate gezogen werden wollen. Allein ebenso wenig soll man übertrieben verschlossen sein, sonst glauben sie, es stecke hinter allem, was wir tun, etwas Bedeutendes oder gar Gefährliches, und das kann uns in unangenehme Verlegenheit verwickeln und veranlassen, dass wir verkannt werden, unter anderm in fremden Ländern, auf Reisen, bei manchen andern Gelegenheiten, und kann uns überhaupt auch im gemeinen Leben, selbst im Umgange mit edlen Freunden schaden.
15.
Vor allen Dingen vergesse man nie, dass die Leute unterhalten, amüsiert sein wollen; dass selbst der unterrichtendste Umgang ihnen in der Länge ermüdend vorkommt, wenn er nicht zuweilen durch Witz und gute Laune gewürzt wird; dass ferner nichts in der Welt ihnen so witzreich, so weise und so ergötzend scheint, als wenn man sie lobt, ihnen etwas Schmeichelhaftes sagt; dass es aber unter der Würde eines klugen Mannes ist, den Spaßmacher, und eines redlichen Mannes unwert, den niedrigen Schmeichler zu machen. Allein es gibt einen gewissen Mittelweg; diesen rate ich einzuschlagen, und da jeder Mensch doch wenigstens eine gute Seite hat, die man loben darf, und dies Lob, wenn es nicht übertrieben wird, aus dem Munde eines verständigen Mannes Sporn zu größerer Vervollkommnung werden kann, so ist das Wink genug für den, der mich verstehn will.
Zeige, so viel du kannst, eine immer gleiche, heitere Stirne! Nichts ist reizender und liebenswürdiger, als eine gewisse, frohe, muntre Gemütsart, die aus der Quelle eines schuldlosen, nicht von heftigen Leidenschaften in Tumult gesetzten Herzens hervorströmt. Wer immer nach Witz hascht, wem man es ansieht, dass er darauf studiert hat, die Gesellschaft zu unterhalten, der gefällt nur auf kurze Zeit und wird bei wenigen Interesse erwecken; er wird nicht aufgesucht werden von denen, deren Herz sich nach besseren Umgange und deren Kopf sich nach sokratischer Unterhaltung sehnt.