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39.
Bekümmere Dich nicht um die Handlungen Deiner Nebenmenschen, insofern sie nicht Bezug auf Dich oder so sehr auf die Moralität im ganzen haben, dass es Verbrechen sein würde, darüber zu schweigen. Ob aber jemand langsam oder schnell geht, viel oder wenig schläft, oft oder selten zu Hause, prächtig oder lumpig gekleidet ist, Wein oder Bier trinkt, Schulden oder Kapitalien macht, eine Geliebte hat oder nicht – was geht das Dich an, wenn Du nicht sein Vormund bist? Tatsachen hingegen, die man durchaus wissen muss, erfährt man oft am besten von dummen Leuten, weil diese ohne Witz, ohne Konsequenzmacherei, ohne Seitenblicke, ohne Verbrämung und ohne Leidenschaft geradehin erzählen.
40.
Öfters sind wir in dem Falle, dass uns durch Gespräche Langeweile gemacht wird. Vernunft, Vorsichtigkeit und Menschenliebe gebieten uns dann, wenn nun einmal nicht auszuweichen ist, Geduld zu fassen und nicht durch beleidigendes Betragen unsern Überdruss zu erkennen zu geben. Man kann ja, je seelenloser das Gespräch und je geschwätziger der Mann ist, um desto freier nebenher an andre Dinge denken; und wäre auch das nicht – ei nun! es geht im menschlichen Leben so manche verträumte Stunde verloren! Ist man denn nicht einige Aufopferung der Gesellschaft schuldig, mit welcher man umgeht? – Und geschieht es nicht vielleicht zuweilen, dass auch wir dagegen, so groß auch die Meinung sein mag, die wir von der Wichtigkeit unsrer Gespräche haben, dennoch durch unsre Redseligkeit andern Langeweile machen?
41.
Eine der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen Leben und die wirklich täglich seltener wird, ist die Verschwiegenheit. Man ist heutzutage so äußerst trügerisch in Versprechungen, ja in Beteuerungen und Schwüren, dass man ohne Scheu ein unter dem Siegel des Stillschweigens uns anvertrautes Geheimnis gewissenloserweise ausbreitet. Andre Menschen, die weniger pflichtvergessen, aber höchst leichtsinnig sind, können ihrer Redseligkeit keinen Zaum anlegen. Sie vergessen, dass man sie gebeten hat zu schweigen, und so erzählen sie, aus unverzeihlicher Unvorsichtigkeit, die wichtigsten Geheimnisse ihrer Freunde an öffentlichen Wirtstafeln. Oder, indem sie jeden, der ihnen in dem Drange sich zu entladen in den Wurf kommt, für einen treuen Freund ansehen, vertrauen sie das, was sie doch nicht als ihr Eigentum betrachten sollten, ebenso leichtsinnigen Leuten an, als sie selbst sind. Solche Menschen gehen dann auch nicht weniger unklug mit ihren eigenen Heimlichkeiten, Plänen und Begebenheiten um, zerstören dadurch sehr oft ihre zeitliche Glückseligkeit und vernichten ihre Absichten.
Welchen Nachteil überhaupt solche unvorsichtige Bewahrung fremder und eigener Geheimnisse gewährt, das bedarf wohl keiner weitläufigen Auseinandersetzung. Es gibt aber eine Menge andrer Dinge, die zwar nicht eigentlich Geheimnisse sind, wovon uns aber die Vernunft lehrt, dass es besser sei, sie zu verschweigen, und andre Dinge, deren Ausbreitung wenigstens für niemand lehrreich und unterhaltend sein kann, und wovon es doch möglich wäre, dass ihre Verplauderung irgend jemand nachteilig sein möchte. – Ich empfehle also eine kluge Verschwiegenheit, die jedoch nicht in lächerliche Mysteriösität ausarten muss, als eine sehr wichtige Tugend im Umgange. Übrigens wird man die Bemerkung wahr finden, dass in despotischen Staaten die Menschen im ganzen genommen verschwiegener sind, als wo mehr Freiheit herrscht. Dort machen Furcht und Misstrauen verschlossen und zurückhaltend, hier folgt jeder dem Triebe seines Herzens, sich freimütig mitzuteilen.
Wenn man auch mehreren Leuten zugleich sein Geheimnis anvertrauen muss, so lege man doch jedem unbedingte Verschwiegenheit auf, damit jeder von ihnen glaube, er wisse es allein, müsse allein für die Bewahrung haften.
42.
Gewissen Leuten ist eine Leichtigkeit im Umgange und die Gabe, geschwind Bekanntschaften zu machen und Zuneigung zu gewinnen, wie angeboren; andern hingegen hängt von Jugend auf eine gewisse Blödigkeit und Schüchternheit an, die sie nicht abzulegen vermögen, wenngleich sie täglich fremde Leute allerorten um sich sehen. Diese Blödigkeit nun ist freilich sehr oft die Folge einer fehlerhaften Erziehung, sowie auch zuweilen die Wirkung einer heimlichen Eitelkeit, die in Verlegenheit gerät, aus Furcht, nicht zu glänzen. Manchen Menschen aber scheint diese Schüchternheit gegen ganz fremde Leute wirklich von Natur eigen zu sein, und alle Mühe, welche sie sich dagegen geben, ist verloren. Ein regierender Fürst, einer der edelsten und verständigsten Männer, die ich kenne, und der auch wahrlich seines Äußern wegen sich nicht zu schämen, noch zu fürchten braucht, nachteilige Eindrücke zu machen, hat mir versichert, dass, obgleich ihn sein Stand von Kindheit an in die Lage gesetzt habe, täglich große Zirkel und viel fremde Gesichter zu sehn, er dennoch an keinem Tage in sein Vorzimmer trete, wo der versammelte Hof seiner wartete, ohne vor Verlegenheit auf einen Augenblick ganz blind zu werden. Übrigens fällt bei diesem liebenswürdigen Herrn, sobald er sich ein wenig erholt hat, diese Schüchternheit weg, und dann redet er freundlich und offen mit jedermann und sagt bessere Dinge, als gewöhnlich Fürsten bei solchen Gelegenheiten über Wetter, böse Wege, Pferde und Hunde zu sagen wissen.
Eine gewisse Leichtigkeit im Umgange also, die Gabe, sich gleich bei der ersten Bekanntschaft vorteilhaft darzustellen, mit Menschen aller Art zwanglos sich in Gespräche einzulassen und bald zu merken, wen man vor sich hat und was man mit jedem reden könne und müsse, das sind Eigenschaften, die man zu erwerben und auszubauen trachten soll. Doch wünsche ich, dass dies nie in jene den Aventuriers so eigene Unverschämtheit und Zudringlichkeit ausarte, die oft in weniger als einer Stunde Frist einer ganzen, fremden Tischgesellschaft im Wirtshause ihre Lebensläufe abgefragt und dagegen den ihrigen erzählt, Dienste und Freundschaft angeboten und Dienste, Verwendung und Hilfe für sich erbeten haben.
43.
Ein großes Talent, und das durch Studium und Achtsamkeit erlangt werden kann, ist die Kunst, sich bestimmt, fein, richtig, kernig, nicht weitschweifig auszudrücken, lebhaft im Vortrage zu sein, sich dabei nach den Fähigkeiten der Menschen zu richten, mit denen man redet, sie nicht zu ermüden, gut und launig zu erzählen, nicht über seine eigenen Einfälle zu lachen, nach den Umständen trocken oder lustig, ernsthaft oder komisch seinen Gegenstand darzustellen und mit natürlichen Farben zu malen. Dabei soll man sein Äußeres studieren, sein Gesicht in seiner Gewalt haben, nicht grimassieren, und wenn wir wissen, dass gewisse Mienen, zum Beispiel beim Lachen, unsrer Bildung ein widerwärtiges Ansehn geben, diese zu vermeiden suchen. Der Anstand und die Gebärdensprache sollen edel sein; man soll nicht bei unbedeutenden, affektlosen Unterredungen wie Personen aus der niedrigsten Volksklasse mit Kopf, Armen und andern Gliedern herumfahren und um sich schlagen; man soll den Leuten grade, aber bescheiden und sanft ins Gesicht sehn, sie nicht bei Ärmeln, Knöpfen und dergleichen zupfen oder immer etwas zu spielen zwischen den Fingern haben. Kurz, alles was eine feine Erziehung, was Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf andre verrät, das gehört notwendig dazu, den Umgang angenehm zu machen, und es ist wichtig, sich in solchen Dingen nichts nachzusehn, sondern jede kleine Regel des Anstandes, selbst in dem Zirkel seiner Familie, zu beobachten, um sich das zur andern Natur zu machen, wogegen wir so oft fehlen, und was uns Zwang scheint, wenn wir uns Nachlässigkeiten in der Art zu verzeihn gewöhnt sind. Hierüber in diesen Blättern viel mehr zu sagen, zu lehren: warum man den Leuten nicht in die Rede fallen dürfe; dass wir einen Teller, oder was uns dargereicht wird, auch dann abnehmen müssen, wenn wir nichts davon behalten wollen, damit der andre nicht die Mühe habe, es unsertwegen in der Hand zu tragen; dass man so wenig als möglich in einer Gesellschaft den Leuten den Rücken zukehren, in Titeln und Namen nicht irre werden solle; dass man bei Personen, die das genau nehmen, den Vornehmern immer auf der rechten Seite, oder, wenn drei beisammen sind, in der Mitte gehn lasse; dass man, wenn jemand, dem wir Achtung schuldig sind, vor unserm Hause vorübergeht, wo wir am Fenster stehn und er uns grüßt, man das Fenster auf einen Augenblick öffnen oder wenigstens tun müsse, als wolle man es öffnen; dass eben dies in der Kutsche, beim Vorüberfahren zu beobachten sei; dass man dem, mit welchem man spricht, frei und offen, doch nicht starr und frech in das Gesicht schauen, seine Stimme in seiner Gewalt haben, nicht schreien und doch verständlich reden, in seinem Gange Anstand beobachten, nicht allerorten das große Wort haben solle; dass man, wenn man ein Frauenzimmer führt, um sie nicht zu stoßen, mit ihr gleichen Schritt halten und mit demselben Fuße wie sie antreten, ihr auch zuweilen seine linke Hand reichen müsse, wenn sie an der rechten Seite nicht so bequem gehn würde; dass man auf steilen Treppen im Hinuntersteigen die Frauenzimmer vorausgehn, im Hinaufsteigen aber sie folgen lassen müsse; dass, wenn man uns nicht versteht und man voraussieht, dass eine genauere Erklärung nichts helfen würde oder der Gegenstand von so geringer Wichtigkeit ist, dass er keinen großen Aufwand von Worten verdient, man dann die ganze Sache fallenlassen müsse; dass vornehme Leute, wenn sie nicht über Vorurteile hinaus sind, es übelnehmen, wenn ein Geringerer von sich und ihnen in Gemeinschaft spricht (z. B. »Als wir gestern zusammen spazieren gingen.« »Wir haben gewonnen im gestrigen Spiele und unsre Gegner verloren«), sondern, dass sie verlangen, man solle tun, als seien sie allein in der Welt des Nennens wert: »Ihro Exzellenz, Ihro Gnaden haben gewonnen« (höchstens möchte man hinzusetzen: »mit mir«); dass man bei Tische den abgeleckten Löffel, womit man gegessen, nicht wieder vor sich hinlegen solle, wie so viele tun; dass es anständig sei, wenn man jemand im Vorbeigehn grüßen will, den Hut auf der Seite abzuziehn, wo der Fremde nicht geht, damit man ihn nicht damit berühre und sein Gesicht nicht vor ihm verberge; dass man, wenn man jemand etwas darreicht, es, insofern dies zu ändern steht, nicht mit der bloßen Hand hingeben müsse; dass es sich nicht schicke, in Gesellschaften in das Ohr zu flüstern, bei Tafel krumm zu sitzen, unanständige Gebärden zu machen, noch zu leiden, dass ein Frauenzimmer oder jemand, der vornehmer ist als wir, von einer Speise, die vor uns steht, vorlege; dass es unartig sei, in Gesellschaften jemanden einen unschuldigen Spaß zu verderben, z. B. wenn er Kartenkünste zeigt und wir wissen, wie das Stück gemacht wird, das kleine Wunder zu enthüllen, und dergleichen Regeln mehr zu geben, dazu ist hier nicht der Ort. Leuten von gewissem Stande und einer nicht ganz gemeinen Erziehung ist das in der ersten Jugend schon eingeprägt worden; nur erinnere ich, dass diese kleinen Dinge in mancher Leute Augen keine kleinen Dinge sind und dass oft unsre zeitliche Wohlfahrt in solcher Leute Händen ist.
44.
Soviel über den äußern Anstand und über schickliche Manieren. Also nur noch etwas über die Kleidung. Kleide Dich nicht unter und nicht über Deinen Stand; nicht über und nicht unter Dein Vermögen; nicht fantastisch; nicht bunt; nicht ohne Not prächtig, glänzend noch kostbar; aber reinlich, geschmackvoll, und wo Du Aufwand machen musst, da sei Dein Aufwand zugleich solide und schön. Zeichne Dich weder durch altväterische, noch jede neumodische Torheit nachahmende Kleidung aus. Wende einige größere Aufmerksamkeit auf Deinen Anzug, wenn Du in der großen Welt erscheinen willst. Man ist in Gesellschaft verstimmt, sobald man sich bewusst ist, in einer unangenehmen Ausstaffierung aufzutreten.
45.
Es gibt noch andre kleine gesellschaftliche Unschicklichkeiten und Unkonsequenzen, die man vermeiden und wobei man immer überlegen muss, wie es wohl aussehn würde, wenn jeder von den Anwesenden sich dieselbe Freiheit erlauben wollte; zum Beispiel: während der Predigt zu schlafen; in Konzerten zu plaudern; hinter eines andern Rücken einem Freunde etwas zuzuflüstern oder ihm Winke zu geben, die jener auf sich deuten kann; überhaupt das Ins-Ohr-Reden in Gesellschaften; wenn man lächerlich schlecht tanzt oder ein Instrument elend spielt, sich damit sehn und hören zu lassen und dadurch die Anwesenden zum Spotte und zum Gähnen zu reizen; wenn uns die Leute aus dem Wege gehn wollen, ihnen, wie Yorick der Marquise von F+++ in Mailand, zehnmal auf allen Seiten entgegenzurennen; wenn wir ein Kartenspiel nicht verstehn oder höchst langsam spielen, uns dennoch dabei hinzusetzen, unsrer Gegner Geduld auf die Probe zu stellen und unsern Gehilfen durch Ungeschicklichkeit in Verlust zu bringen; bei dem Tanze zugleich die Melodie mitzusingen; in Schauspielen so hinzutreten, dass man nicht über uns wegsehn kann; in jede Versammlung später zu kommen, früher wegzugehn oder länger zu verweilen als alle übrigen Mitglieder der Gesellschaft. – Vermeide dergleichen Unschicklichkeiten. Blicke nicht in fremde Papiere. Auch mag mancher nicht leiden, wenn man ihm beim Lesen, Arbeiten u. dgl. auf die Finger sieht. Bleibe auch nicht allein im Zimmer, wo Schriften oder Gelder herumliegen.
46.
Wenn die Frage entsteht: ob es gut sei, viel oder wenig in Gesellschaft zu erscheinen, so muss die Beantwortung derselben freilich nach den einzelnen Lagen, Bedürfnissen und nach unzähligen kleinen Umständen und Rücksichten bei jedem Menschen anders ausfallen; im ganzen aber kann man den Satz zur Richtschnur annehmen: dass man sich nicht aufdrängen, die Leute nicht überlaufen solle und dass es besser sei, wenn man es einmal nicht allen Menschen recht machen kann, dass gefragt werde, warum wir so selten, als geklagt, dass wir zu oft und allerorten erscheinen. Es gibt einen feinen Sinn dafür (wenn uns nicht übertriebene Eitelkeit und Selbstsucht die Augen blenden), einen Sinn, der uns sagt, ob wir gern gesehn oder überlästig sind, ob es Zeit ist fortzugehn, oder ob wir noch verweilen sollen.
Übrigens rate ich, wenn man sich so weit in seiner Gewalt haben kann, mit so wenig Leuten als möglich vertraulichzu werden, nur einen kleinen Zirkel von Freunden zu haben und diesen nur mit äußerster Vorsicht zu erweitern. Gar zu leicht missbrauchen oder vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen vollkommen vertraulich werden. Um angenehm zu leben, muss man fast immer ein Fremderunter den Leuten bleiben. Dann wird man geschont, geehrt, aufgesucht. – Deswegen ist das Leben in großen Städten so schön, wo man alle Tage andre Menschen sehn kann. Für einen Mann, der sonst nicht schüchtern ist, ist es ein Vergnügen, unter Unbekanntenzu sitzen. Da hört man, was man sonst nicht hören würde; man wird nicht gehütet und kann in der Stille beobachten.
47.
Man vermeide aber, in alle Zirkel große Forderungen mitzunehmen, allen Menschen alles allein sein, mit aller Gewalt glänzen, hervorgezogen werden zu wollen, zu verlangen, dass aller Menschen Augen nur auf uns gerichtet, ihre Ohren nur für uns gespitzt seien; denn sonst werden wir freilich uns aller Orten zurückgesetzt glauben, eine traurige Rolle spielen, uns und andern Langeweile machen, menschenscheu und bitter die Gesellschaft fliehn und von ihr geflohn werden. Ich kenne viele Leute von der Art, die durchaus, wenn sie sich in vorteilhaftem Lichte zeigen sollen, der Mittelpunkt sein müssen, um welchen sich alles dreht, sowie überhaupt manche Menschen im gemeinen Leben niemand neben sich vertragen, der mit ihnen verglichen werden könnte. Sie handeln vortrefflich, groß, edel, nützlich, wohltätig, geistreich, sobald sie es allein sind, an die man sich wendet, von denen man bittet, erwartet, hofft; aber klein, niedrig, rachsüchtig und schwach, sobald sie in Reihe und Gliedern stehn sollen, und zerstören jedes Gebäude, wozu sie nicht den Plan gemacht oder wenigstens die Kranzrede gehalten haben, ja ihr eigenes Gebäude, sobald nur ein andrer eine kleine Verzierung daran angebracht hat. Dies ist eine unglückliche, ungesellige Gemütsart. Überhaupt rate ich, um glücklich zu leben und andre glücklich zu machen, in dieser Welt so wenig als möglich zu erwarten und zu fordern.
48.
Mache einigen Unterschied in Deinem äußern Betragen gegen die Menschen, mit denen Du umgehst, in den Zeichen von Achtung, die Du ihnen beweisest. Reiche nicht jedem Deine rechte Hand dar. Umarme nicht jeden. Drücke nicht jeden an Dein Herz. Was bewahrst Du den Bessern und Geliebten auf, und wer wird Deinen Freundschaftsbezeigungen trauen, ihnen Wert beilegen, wenn Du so verschwenderisch in Austeilung derselben bist?
49.
Sei, was Du bist, immer ganz und immer derselbe. Nicht heute warm, morgen kalt; heute grob, morgen höflich und zuckersüß; heute der lustigste Gesellschafter, morgen trocken und stumm wie eine Bildsäule. Mit solchen Leuten ist übel umzugehn; sie überhäufen uns, wenn sie gerade in guter Laune sind oder niemand um sich haben, der vornehmer als wir oder spaßhafter oder ein größerer Schmeichler ist, mit allen Zeichen der herzlichsten, vertraulichsten Freundschaft. Wir bauen darauf und wollen wenig Tage nachher den Mann wieder besuchen, der uns so gern bei sich sieht, der uns so freundlich eingeladen hat, recht oft zu kommen. Wir gehen hin und werden nun so frostig und verdrießlich empfangen, oder man lässt uns ohne Unterhaltung in einer Ecke sitzen, antwortet uns nur mit abgebrochenen Silben, weil man gerade von Kreaturen umgeben ist, die mehr Weihrauch spenden als wir. Von solchen Menschen muss man sich unmerklich zurückziehn, und wenn sie nachher in einem Augenblicke von Langerweile uns wieder aufsuchen, gleichfalls gegen sie den Spröden machen und ihnen unter den Händen fortschlüpfen.
50.
Suche weniger selbst zu glänzen als andern Gelegenheit zu geben, sich von vorteilhaften Seiten zu zeigen, wenn Du gelobt werden und gefallen willst. Ich habe den Ruf eines vernünftigen und witzigen Mannes aus mancher Gesellschaft mitgenommen, in welcher wahrlich kein kluges Wort aus meinem Munde gegangen war und in welcher ich nichts getan hatte, als mit exemplarischer Geduld vornehmen und halbgelehrten Unsinn anzuhören, oder hie und da einen Mann auf ein Fach zu bringen, wovon er gern redete. Wie mancher besucht mich mit der demütigen Ankündigung: (wobei ich mich oft nicht des Lachens erwehren kann) er komme, um mir als einem gewaltigen Gelehrten und Schriftsteller seine Ehrerbietung zu bezeugen; der Mann setzt sich dann hin und fängt an zu reden, lässt mich, den er bewundern will, gar nicht zu Worte kommen, und geht, entzückt über meine lehrreiche und angenehme Unterhaltung, zu welcher ich nicht zwanzig Worte geliefert habe, von mir, höchst vergnügt, dass ich Verstand genug gehabt habe – ihm zuzuhören. Habe Geduld mit allen Schwächen dieser Art! Wenn daher auch jemand ein Geschichtchen oder sonst etwas vorbringt, das er gern erzählt, und Du hättest es auch schon mehr gehört und es wäre vielleicht ein Märchen, das Du selbst ihm einst mitgeteilt hättest, so lass es ihn doch nicht auf unangenehme Weise merken, dass die Sache Dir alt und langweilig ist, wenn die Person anders Schonung verdient. Was kann unschuldiger sein, als solche Ausleerungen zu befördern, wenn man dadurch andern Erleichterung und sich einen guten Ruf verschafft? Und wenn die Leute unschuldige Liebhabereien haben, z. B. gern von Pferden reden, es gern sehen, dass man eine Pfeife Tabak mit ihnen raucht, ein Glas Wein mit ihnen trinkt, so erzeige man ihnen diese kleine Gefälligkeit, wenn es ohne große Ungemächlichkeit und ohne Falschheit geschehn kann. Desfalls habe ich nie die Gewohnheit der Hofleute von gemeinerm Schlage gut finden können, die jedermann nur mit halbem Ohre und zerstreuter Miene anhören, ja gar mitten in einer Rede, die sie veranlasst haben, einfallen, ohne das Ende abzuwarten.
51.
Übrigens aber rate ich auch an, um seiner selbst und um andrer willen ja nicht zu glauben, es sei irgendeine Gesellschaft so ganz schlecht, das Gespräch irgendeines Mannes so ganz unbedeutend, dass man nicht daraus irgend etwas lernen, irgendeine neue Erfahrung, irgendeinen Stoff zum Nachdenken sammeln könnte. Aber man soll nicht aller Orten Gelehrsamkeit, feine Kultur fordern, sondern gesunden Hausverstand und geraden Sinn begünstigen, vorziehn und reden und wirken lassen, sich auch unter Menschen von allerlei Ständen mischen; so lernt man zugleich nach und nach den Ton und die Stimmung annehmen, die nach Zeit und Umständen erfordert werden.
52.
Mit wem aber soll man am mehrsten umgehn? Natürlicherweise lässt sich auch diese Frage nur nach eines jeden besondern Lage beantworten. Hat man die Wahl (und wirklich hat man diese doch öfter, als man glaubt), so wähle man sich die Weisern zu seinem Umgange, Leute, von denen man lernen kann, die uns nicht schmeicheln, die uns übersehen; allein gewöhnlich gefällt es uns besser, einen Zirkel untergeordneter Geister um uns her zu versammeln, die in Kreisen tanzen, so oft unser hoher Genius seine Zauberrute schwingt. Wir bleiben indessen dadurch immer, wie wir waren, kommen nie weiter in Weisheit und Tugend. Es gibt zwar Lagen, in welchen es nützlich und lehrreich, sich unter Menschen von allerlei Fähigkeiten zu mischen, ja wo es auch Pflicht ist, nicht bloß mit Leuten umzugehn, von denen wir, sondern auch mit solchen, die von uns lernen können, und die ein Recht haben, dies zu fordern; diese Gefälligkeit aber darf nie so weit gehn, dass die Rechenschaft, die wir einstens von unsrer goldenen Zeit und von der Obliegenheit, uns zu vervollkommnen, geben sollen, dabei Gefahr laufe.
53.
Es ist oft eine höchst sonderbare Sache um den Ton, der in Gesellschaften herrscht. Vorurteil, Eitelkeit, Schlendrian, Autorität, Nachahmungssucht und wer weiß, was sonst noch stimmen diesen Ton so, dass zuweilen Menschen, die an einem Orte zusammen leben, jahraus, jahrein, sich auf eine Weise versammeln, unterhalten, Dinge miteinander treiben und über Gegenstände reden, die allen zusammen und jedem einzelnen unendliche Langeweile machen. Dennoch glauben sie, sich den Zwang antun zu müssen, diese Lebensart also fortzuführen. Gewährt wohl die Unterhaltung in den mehrsten großen Zirkeln einem einzigen von den da Versammelten wahres Vergnügen? Spielen unter fünfzig Personen, die jeden Abend die Karten in die Hand nehmen, wohl zehn aus wahrer Neigung? Um desto erbärmlicher ist es, wenn freie Menschen in kleinern Orten oder gar auf Dörfern, die zwanglos leben könnten, um den Ton der Residenzen nachzuahmen, sich ebenso peinlich unter das Joch dieser Langenweile krümmen. Hat man Gewicht bei seinen Mitbürgern und Nachbarn, so ist es Pflicht, alles dazu beizutragen, den Ton vernünftiger zu stimmen. Ist das aber nicht der Fall, und man gerät einzeln in einen solchen Zirkel, so vermehre man nicht durch ein schiefes oder stummes mürrisches Betragen der Anwesenden und des Hauswirts Verlegenheit, es voreinander zu verbergen, dass sie sich sämtlich weit von da weg wünschten, sondern man zeige sich vielmehr als einen Meister in der Kunst, viel zu reden, ohne etwas zu sagen, und mache sich wenigstens das Verdienst, den Raum auszufüllen, wovon außerdem gewöhnlich die Verleumdung Besitz nimmt.
In volksreichen, großen Städten kann man am allerunbemerktesten und ganz nach seiner Neigung leben; da fallen eine Menge kleiner Rücksichten weg; man wird nicht ausgespähet, kontrolliert, beobachtet; es laufen nicht so aus Mund in Mund die interessanten Nachrichten: wievielmal in der Woche ich Braten esse, ob ich oft oder selten ausgehe und wohin; wer zu mir kommt, wie stark der Lohn ist, den ich meiner Köchin gebe, und ob ich kürzlich mit ihr geschmält habe? Meine Kleidung wird nicht gemustert; man fragt nicht in jedem Kramerhause meine Magd, wenn sie für vier Pfennige Pfeffer holt, für wen der Pfeffer ist und wozu der Pfeffer gebraucht werden soll? Eine unbedeutende Anekdote beschäftigt da nicht sechs Wochen lang alle Zungen; man wandelt unbemerkt, friedenvoll und ungeneckt durch den großen Haufen hin, besorgt seine Geschäfte und wählt sich eine Lebensart, wie man sie für zweckmäßig hält. In kleinen Städten ist man verurteilt, mit einer Anzahl oft sehr langweiliger Magnaten in strenger Abrechnung von Besuchen und Gegenbesuchen zu stehn, die gewöhnlich gleich nach dem Mittagstische ihren Anfang nehmen und bis zu der Bürgerglocke, das heißt bis zehn Uhr abends fortdauern, während welcher Zeit die Unterhaltung gewöhnlich den König von Preußen, den Kaiser, andre hohe Potentaten, und was der Reichspostreuter von ihnen meldet, zum Gegenstande hat. Das ist nun freilich erschrecklich; doch gibt es auch Mittel, dort den Ton des Umgangs nach und nach zu verfeinern oder das schwache Publikum daran zu gewöhnen, nachdem es ein viertel Jahr hindurch über uns gelästert hat, uns endlich auf unsre Weise leben zu lassen, wenn man sich übrigens redlich, menschenfreundlich, dienstfertig und gesellig beträgt. Am übelsten aber pflegt man in den mittlern Städten daran zu sein, sowohl in den Reichsstädten der geringem Klasse, als in unbeträchtlichen Residenzen. Da herrschen gewöhnlich, neben einem übertriebenen Luxus und solchen sittlichen Verderbnissen, die mit der Korruption in den größten Städten wetteifern, noch obendrein alle Gebrechen kleiner Städte, Klatschereien, Anhänglichkeit an Schlendrian, an Gewohnheiten und Familienverbindungen, die abgeschmacktesten Forderungen und die lächerlichste Klassifizierung der Stände. So habe ich eine Stadt gesehn, in welcher ein Mann durch seine kürzlich erhaltene Bedienung, die ehemals dort nicht existiert hatte, so sehr von allen übrigen einmal bestimmten Rangordnungen abgesondert war, dass er wie ein Elefant in einer Menagerie immer für sich allein spazieren gehn musste, ohne seinesgleichen, weder einen Gesellschafter, noch eine Gefährtin finden zu können. Vielleicht bin ich parteiisch für meine liebe Vaterstadt, aber ich glaube (und auch andre einsichtsvollere Männer lassen ihr diese Gerechtigkeit widerfahren), dass, obgleich Hannover nicht zu den größten Städten in Deutschland gehört, man dennoch hier so frei und unbemerkt leben könne als irgendwo. Vermutlich hat unsre Verbindung mit England, wo manche Vorurteile von der Art verachtet werden, hierzu viel beigetragen. Da nun aber in den wenigsten Städten von Deutschland diese glückliche Stimmung angetroffen wird, so muss man lernen, sich nach den herrschenden Sitten zu richten, und nichts kann unvernünftiger und für den Eiferer selbst von nachteiligem Folgen sein, als wenn ein einzelner, der nicht besonders in Ansehen steht, auftreten und seine Vaterstadt reformieren will. Nirgends kommt indessen ein solcher Deklamator übler an als in den Reichsstädten, wo alte Sitte und Schlendrian innig verwebt sind in die Regierungsform und in alle übrigen Verhältnisse. Dort kann zuweilen der bloße Schnitt eines Rocks oder ein bisschen mehr oder weniger Gold darauf, wodurch ein Kaufmann sich von seinen Mitbrüdern unterscheidet, ihn um seinen Kredit bringen, und eine Perücke im richtigen Kostüm, die über einen leeren Hirnkasten gehängt wird, bei der Ratsherrnwahl den Sieg über ein eigenes Haar, das einen feinen Kopf deckt, davontragen.