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Beim Aufstehen wickelte ich mich rasch in ein Tuch, das ich schon am Vorabend wie zufällig neben dem Bett hatte liegen lassen. Ich befürchtete, David könnten die vollen Brüste auffallen. Oder die Wölbung am Bauch, die weiter wuchs, obwohl ich täglich Mahlzeiten ausfallen ließ. Sollte er denken, ich würde mich nackt vor ihm schämen. Dann fischte ich den Rucksack aus dem obersten Fach meines Kleiderschranks und überlegte, was alles mit sollte. Früher liebte ich es, allein durch den Wald zu ziehen. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, eine heilige Halle zu betreten. Es brauchte dafür keinen Sandstein, kein geweihtes Wasser und auch keine Statuetten. Sondern einfach nur hohe Stämme, die sich gerade aneinanderreihen. Weit oben neigten sich die Kronen der Bäume einander zu und die Blätter bildeten ein natürliches Gewölbe, unter dem ich mich aufgehoben fühlte. Aber in den letzten Jahren war ich kaum mehr dazu gekommen. Während der paar Semester, in denen ich Biologie studiert hatte, beschäftigte ich mich zwar durchaus mit verschiedenen Ökosystemen, aber eben anders. Dann war da der Umzug, die Arbeit im Rivera. Und irgendwann haben mich die Klubs jedes Wochenende aufgesogen und erst am Montag mit Glitzer im Haar wieder ausgespuckt.
Wenn ich danach mit Nachwehen wie Schwindelgefühlen, einer depressiven Verstimmung und Übelkeit im Bett lag, blätterte ich in den Katalogen. Ich stellte mir vor, was ich brauchen würde, um mit nur einem Rucksack als Gepäck den Kontinent abzulaufen. Gewissenhaft wog ich die Vor- und Nachteile von Gaskochern gegenüber Benzinern ab. Verglich das Gewicht von Daunenschlafsäcken, die mit Federn von artgerecht gehaltenen Gänsen aus kleinen osteuropäischen Bauernhöfen gestopft waren, mit dem von Kunstfasern und suchte mir nach dem Zwiebelprinzip die richtige Kleidung aus Merinowolle, Faserpelz und recyclebarem Isolationsmaterial zusammen. Manchmal bestellte ich tatsächlich das eine oder andere. Und wenn der Postbote ein paar Tage später die Pakete vor die Haustür stellte, hatte ich im ersten Moment schon wieder vergessen, was darin sein könnte.
So war ich zu dem Schlafsack, der ultraleichten Matte und den anderen Dingen wie der Edelstahl-Thermoskanne, einer winzig kleinen Taschenapotheke oder der hochfunktionalen Regenjacke gekommen, die ich bislang eher gehortet hatte, als sie wirklich zu benutzen und nun mit einer gewissen Genugtuung in den Rucksack packte. David hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls angezogen und die zweite Kanne Kaffee blubberte gerade auf dem Herd, als ich ihm sagte, dass ich nun fertig sei und wir los könnten. Wenig später saßen wir in seinem ratternden Bus, der eher an eine Wellblechhütte auf vier Rädern erinnerte, als an ein Fahrzeug. Tatsächlich war David viel damit unterwegs. Manchmal fuhr er am Abend einfach los, um am nächsten Morgen neben einem rauschenden Wasserfall aufzuwachen, bevor er wieder zurück zur Arbeit fuhr. Im Sommer nach Lenas Tod hatte er ganz im Bus gelebt. Nach einem kurzen Halt in seiner Wohnung hatten wir alles beisammen, was wir glaubten, für die zwei Tage auf dem Berg zu brauchen. Wir fuhren auf der Autobahn, sahen den See, passierten die Fähre und die zwei bewaldeten Inseln, wo glänzende Motorboote vor Anker lagen, deren Besitzer sich auf dem sanft schaukelnden Bug liegend bräunten, oder in der Strandbar saßen und frittierte Pangasiusfilets aus asiatischen Aquaparks mit vorgeschnittenem Eisbergsalat an dickflüssiger Fertigsauce aßen.
Als wir in eine breite Ebene einbogen, änderte sich nicht nur die Landschaft, die nun von flachen Feldern geprägt wurde, sondern auch die Überbauungen. Verwaschene Wohnblöcke mit Wänden aus Beton, die aussahen, als wären sie von einem schimmelfarbenen Ausschlag bedeckt, lugten zwischen den schroffen Felswänden hervor, die an uns vorbeiflogen. Es sei doch gut, sagte David. Wieder mal rauszufahren und so. Ich nickte und dachte daran, dass diese Gewerbegebiete, die Werkhöfe und ländlichen Einkaufszentren mit fußballfeldgroßen Parkplätzen davor bei mir eigentlich schon immer leichte bis mittelschwere Tristesse ausgelöst haben. Vielleicht lag das daran, dass Karlina und ich nach der Scheidung meiner Eltern einige Jahre in einer Wohnung am Rand des Industriequartiers gelebt hatten, wo je nach Wetterlage morgens schon der Geruch der benachbarten Schweinemast herüber wehte. Meine Mutter arbeitete in einem nahen Ausflugsrestaurant als Kellnerin. Speckplatte und grüner Veltliner, geschwollene Füße und Venen, die sich fächerartig unter ihren Nylonstrümpfen auszubreiten begannen. Obwohl sie jeden Monat stattliche Unterhaltsbeiträge von meinem Vater bekam, wie wir beide wussten.
Der Parkplatz an der Talstation war bereits so überfüllt, dass David den Bus etwas außerhalb des Dorfes neben eine Weide stellte. Die Kühe drängten sich in den Schattenwurf des einzigen Baumes, den sie innerhalb der elektrischen Zäune erreichen konnten. Bald würden sie zu hecheln beginnen. Bevor ich mich ärgerte, dass der Bauer wohl erst etwas unternehmen würde, wenn die Milchleistung zurückginge, schnappte ich mir den Rucksack aus dem Kofferraum und ging voran in die Richtung, wo die Kabinen der Gondelbahn an einem dicken Seil den Berg hinauf schwebten.
Es kitzelte im Bauch, wenn der Sessel über die Rollen an den Masten ratterte. Wir waren nach der ersten Station umgestiegen, um mit der Bahn bis über die Baumgrenze zu fahren, damit wir uns vor der Dämmerung noch einen geeigneten Schlafplatz suchen konnten. Der Wind pfiff in den Ohren und die Häuser unten im Tal wurden zu Häuschen, bis sie nur noch so groß wie Kieselsteine waren, die jemand zufällig hingeworfen hatte. Der breite Fluss, die Straßen, die Masten, die den Strom von den Stauseen in die Städte brachten, alles wurde zu einem einzigen Gewächs, das ganz hinten am Horizont mit einem großen See verschmolz.
Als wir dann da lagen, von der Nacht verschluckt, hoch oben unter dem Sattel, wo der Himmel wie eine weit geöffnete Tür ist, musste ich wieder daran denken. An das Netz, das die Lichter der Schaufenster, Scheinwerfer und Straßenlaternen bildeten. Wenn ich mir unsere Stadt vorstellte, blieb wenig Schwarz übrig. Vielleicht noch der See. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass wir mit der absoluten Dunkelheit, dem Verschwinden der Sterne und den schwarzen Löchern nicht nur eine tröstliche Verbindung, sondern auch ein wenig die Ehrfurcht verloren haben. David zeigte auf die leuchtend helle Kassiopeia über uns, dabei streifte er kurz die Außenseite meiner Hand und ich merkte, dass es nur diese winzige Berührung brauchte, um uns zu einem einzigen Körper zu verbinden.
Später in dieser Nacht bin ich nochmals aufgewacht. Der Himmel war auf einmal ein bedrohlich hoher Raum. Davids Arm wog schwer auf meiner Schulter. Wir lagen noch immer nebeneinander, Bein an Bein, Bauch an Rücken. Auf unsere Matten gebettet, die wir zwischen die scharfen Felskanten gelegt hatten. Auf die vielen Schichten aus Stein, die sich im Laufe der Zeit überlagert hatten. Und ich spürte, dass sich auch in mir etwas verschob, wie Gneis, der erst durch die Verschmelzung von anderen Gesteinen entsteht und nur unter starkem Druck und hohen Temperaturen. Vielleicht war es das Kind, das durch seine feine Blase hindurch Dinge emporhob, die viel zu lange gelegen hatten.
Der Kaffee schmeckte bitter, doch ich wollte nicht zurück in die Gaststube gehen, wo die Wirtin zu laut mit dem Geschirr klapperte, und sie um eine frische Tasse bitten. Stattdessen setzte ich mich auf die Bank vor der Hütte, stellte die Tasse weg und kramte den Lederbeutel mit dem Tabak hervor. Nebenan plätscherte ein Holzbrunnen, Kinder rannten um einen stilisierten Riesentannenzapfen, der neben einem überdimensionalen Tonkrug stand und wohl alpines Flair verbreiten sollte. Nach zwei Zügen wurde mir schlecht. Eigentlich mochte ich sowieso nicht mehr rauchen. Und das unerwartete Gewusel an der Bergstation war mir unangenehm.
An den Ständen vor den Hotels hingen Mützen mit Gesichtern von Murmeltieren, Bernhardiner aus Plüsch, T-Shirts mit Aufdruck und Zuckerwatte in Plastiktüten, als befände man sich in einer dieser Transitzonen am Flughafen. Vor einer Felsplattform, die zu den grauen Hörnern zeigte, hatte sich eine Schlange gebildet. Einer nach dem anderen knipste ein Bild. Immer neue Leute, immer dasselbe Motiv. Als wären sie ohne dieses gar nicht wirklich hier gewesen. Einige hielten ihre Arme hoch, so dass es auf dem Foto aussah, als würden sie die Gipfel halten, dabei rückten sie gefährlich nahe an den Abgrund. David stand noch immer vor dem besetzten Toilettenhäuschen. Unter dem Schal, den er sich als Sonnenschutz um den Kopf gebunden hatte, wehten seine Haare im Wind. Als er mich sah, winkte er hinüber. Dann schob sich eine Gruppe Wanderer zwischen uns, die einen aufblasbaren Flamingo den Abhang hinauf balancierten. Im Tal, in den Städten und auf dem ganzen Kontinent herrschte, seit der Jetstream über Europa zum Erliegen gekommen war, eine Bruthitze. Also, eigentlich war er nicht wirklich zum Erliegen gekommen, nur mäanderte er einfach um uns herum, in den immer gleichen blockierenden Schlingen. Darum konnten sich die Hoch- und Tiefdruckgebiete nicht mehr abwechseln. Und das, was gerade da war, als sich die Winde verabschiedeten, blieb dann da. So ähnlich hatte das jedenfalls ein Forscher im Radio erklärt. Und während überall Dürre herrschte, paddelten sie auf den Seen herum, die der schmelzende Gletscher bei seinem Rückzug hinterlassen hatte.
David kam zurück und trank den Kaffee, der längst schon kalt war. Als ich etwa neun Jahre alt war, sagte er, bin ich mit meinem Vater dieselbe Route gelaufen. Nur dass sie damals mit dem Gletscher noch einfacher zu klettern war. Jedenfalls war ich schrecklich stolz. Es kam mir alles riesig vor.
Das kenne ich, antwortete ich, dieses Gefühl als Kind. Natürlich hat sich schon immer alles verändert. Aber jetzt fühlt es sich an, als hätten wir zuvor in Zeitlupe gelebt. Es knirschte unter den dicken Sohlen unserer Wanderschuhe, als wir den Steinen mit den weiß-rot-weißen Farbstreifen auf einem immer schmaler werdenden Pfad folgten. Und ich wünschte mir, David hätte die gesamte Tragweite meiner Aussage verstehen können.
An diesem Tag pilgerten so viele Leute in Richtung Gipfel, dass sich eine Menschenkette auf dem Pfad bildete. Besonders an den anspruchsvollen Stellen auf dem Geröllfeld hatte ich Mühe, das Tempo zu halten. Immer wieder rutschte ich aus oder musste mich mit den Händen abstützen. Zu allem Übel sah ich David bald nur noch von hinten, wie er mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen davonmarschierte. Dann schob sich ein älteres Pärchen mit entschlossenem Gang, der vom Klicken ihrer Wanderstöcke wurde, in die Lücke, die sich zwischen uns aufgetan hatte. Sie trugen beide die gleichen karierten Hemden, Sonnenhüte mit breiter Krempe und verspiegelte Brillen. Ich schämte mich, laut nach David zu rufen. Also biss ich die Zähne zusammen. Doch mit dem größer werdenden Abstand, wuchs die Wut in meinem Bauch.
Der Wind blies Wolken über die schneebedeckten Gipfel. Die Felsen fielen steil ab, nur an einigen Stellen hatten sich ein paar Blümchen festgekrallt. Viel lieber wäre ich dort unten im Gras gelegen, wo der Berg in geschwungene Hügel überging, in wachsende Abschnitte mit berggrünen Wiesen, voll von Arnikasprenkeln. Meine Blase drückte schon wieder. Mach doch, was du willst, sagte ich so leise, dass nur ich es hören konnte. Dann sank ich auf den glatten Stein am Wegrand. Während ich die Augen schloss, bemerkte ich, wie meine Hände den Bauch bedeckten.
David saß mit baumelnden Beinen auf einem Felsen und blickte hinunter auf den Karsee, der die Farbe von Grünspan hatte. Warum hast du nicht gewartet? Im Wissen darum, dass wir hier oben aufeinander angewiesen waren, bemühte ich mich um Haltung. Ich dachte, du willst lieber allein laufen, sagte er und strich mir so ganz nonchalant über den Arm. Ich schüttelte seine Hand weg, suchte mir einen eigenen Felsen und kramte ein paar Nüsse hervor. Ich spürte, wie die Energie langsam wieder zurückkam. Der Plastikflamingo trieb auf dem Wasser, das nicht mehr als ein paar Grad kalt war. Die Besitzer mussten runtergerutscht sein, oder vielleicht war das Gummiboot auch nur vom Wind fortgeweht worden, so dass sie es zurückgelassen hatten. Mich fröstelte ein wenig und ich zog die Jacke an, die einzupacken in der Hitze der Stadt noch eine irrwitzige Handlung dargestellt hatte. Dann goss ich Tee in den Deckel der Thermoskanne, pustete und sah mich erneut um. Etwas weiter links musste sich der Gletscher befinden. Ich hatte mir vorgestellt, wie die spitz zusammenlaufende Zunge daliegt und das Schmelzwasser in das Becken bluten würde, das die früheren Eismassen gebildet hatten. Ein überhitzter Körper, der im Sterben lag. Doch das letzte Toteis war längst unter Schutt und Geröll begraben, kaum mehr auszumachen zwischen den verschiedenen Grautönen. Und dann war da nur dieser verlorene Flamingo im Karsee, der an Palmen, Meer und tropische Früchte erinnerte.
Mittags breitete ich im Schatten eines Felsens das bunt bedruckte Tuch auf den Boden aus, das ich extra für diesen Moment eingepackt hatte. Die Zeit hing hier oben, wie ein Greifvogel am Himmel, der mit weit ausgebreiteten Schwingen von der aufsteigenden Luft getragen wird. Wir aßen kalte Kartoffeln und den Alpkäse, den wir im Ausflugsrestaurant gekauft hatten. Dann saßen wir da, in der Stille. Und es war diese Art von Stille, die manchmal zu den Worten führt, von denen man gar nicht wusste, dass man sie sagen will. Und während ein Teil von mir noch überlegte, ob das jetzt hier der richtige Ort und die richtige Zeit war, um David von der Schwangerschaft zu erzählen, vernahm ich ein leises Rumpeln, das rasch zu einem dumpfen Grollen anschwoll. David sprang auf. Er zeigte auf die gegenüberliegende Bergflanke. Dort hatten sich einige Gesteinsbrocken gelöst. Sie flogen durch die Luft, unterbrochen von kurzen heftigen Aufschlägen, bei denen sie weitere Gesteinsmassen mit sich rissen. Erst Hunderte von Metern weiter unten, wo es wieder flacher wurde, blieben die Brocken in einer Schutthalde liegen. Das Schmelzwasser musste in den Felsen eingedrungen sein, dort, wo nun eine graue Kerbe klaffte. Ich zitterte vor Aufregung. Es beförderte Wärme in den Untergrund, dorthin, wo es eigentlich nie tauen dürfte. Der Berg hatte zu bröckeln begonnen.
Auch den Rest des Aufstiegs ging David voran, doch achtete er jetzt darauf, in meiner Nähe zu bleiben. Als wir bei der Hütte ankamen, ging die Sonne gerade hinter den Gipfeln unter. Rasch aufziehende Wolken legten sich über das letzte Licht. Endlich konnte die im Fels gestaute Hitze in den Himmel entweichen. Nachdem wir unsere Schlafsäcke auf den Stockbetten ausgerollt hatten, traten wir in die Gaststube. Die mit Holz verkleideten Buchten waren gut besetzt, aus den Lautsprechern dudelte Musik und der penetrante Duft von süßlichem Kirschwasser lag in der Luft. Wir quetschten uns in eine freie Ecke, nebenan saß das Pärchen vom Vormittag. Sie blickten von der Vorspeisenplatte auf, die sie sich teilten und grüßten uns, dabei wurde der helle Abdruck um ihre Augen sichtbar, den die Sonnenbrillen hinterlassen hatten. Während ich die Speisekarte studierte, fragte ich mich, ob Aussehen ansteckend sein kann. Und wie David und ich wohl in dreißig Jahren aussehen würden. Vielleicht hätten sich unsere Gesichtszüge ebenfalls angeglichen. Weil wir uns gemeinsam gefreut und gesorgt und dabei unsere mimische Muskulatur auf dieselbe Art und Weise trainiert hätten.
Vor David stand bereits ein großes Bier. Ich tat mich noch schwer mit der Auswahl, wie so oft in letzter Zeit. Beim Bäcker konnte ich eine geschlagene Viertelstunde vor der Auslage stehen und darüber nachdenken, ob ich nun eher ein Walnussbrot, die Kürbis-Quinoa-Brötchen oder doch lieber einen halben Brotlaib ohne Hefe aus dem Gärkörbchen nehmen sollte. Während ich dann die gerösteten Kürbiskerne betrachtete, fiel mir ein, dass man ja Quinoa nicht mehr kaufen soll, weil die Bauern in den Anden sich wegen der steigenden Nachfrage von den traditionellen Anbaumethoden abgewendet hatten und das empfindliche Ökosystem des kargen Hochlandes gefährdeten. Das Walnussbrot sah ebenfalls sehr verführerisch aus, doch dann entdeckte ich, dass es Weizenschrot enthielt, was ebenfalls problematisch war. Zwar nicht für die südamerikanische Gebirgskette, aber für meinen Bauch, der sich sonst wütend aufblähte. Blieb also noch das Sauerteigbrot im Körbchen. Und während ich dann schon fast meine Bestellung aufgab, entdeckte ich eine schlanke wohlgeformte Stange Baguette im Regal. Und mir lief das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an ihren kräftigen Geschmack dachte, der von dem hohen Anteil an Kruste im Vergleich zur Krume herrührte.
Es war nicht so, dass ich grundsätzlich nicht in der Lage gewesen wäre, Entscheidungen zu treffen. Um mir selbst den Alltag zu erleichtern, hatte ich irgendwann begonnen, die Anzahl der täglichen Optionen zu verkleinern. Also kaufte ich das Sauerteigbrot. Immer gleich. Doch hier auf dem Berg und in Davids Gesellschaft, funktionierte das nicht mehr. Eigentlich aß ich schon länger kein Fleisch mehr. Doch ich entschied, mich einfach treiben zu lassen und bestellte das Murmeltierragout, dazu Gemüse und Weißbrot in Scheiben. David hatte mir von dem Ragout erzählt, mit dem er viele Erinnerungen verband, weil er ebenfalls in den Bergen aufgewachsen war. Wenig später stach ich mit der Gabel in eines der dunklen Fleischstücke auf meinem Teller und schob die Gabel vorsichtig in den Mund. Ich war erstaunt, wie zart es schmeckte, und wie gewöhnlich. Vielleicht wie Hirschpfeffer. Vielleicht auch einfach nur nach Nelken, Lorbeer und all dem, in was es sonst noch im letzten Herbst eingelegt worden war.
Der Abstieg am nächsten Tag ging erstaunlich leicht. Nach der Nacht unter dem offenen Sternenzelt war ich so müde gewesen, dass ich sofort in einen traumlosen Schlaf gefallen war. Wieder kletterten wir über die Geröllfelder und gingen entlang steiler Wände, die sich bereits mit Wärme aufgeladen hatten. Als wir nach dem Mittag die Baumgrenze passierten, hatte ich das Gefühl, nur noch aus einem einzigen gleichmäßigen Rhythmus zu bestehen, regelmäßige tiefe Atemzüge wechselten sich mit trittsicheren Schritten ab. An einem Hang am Waldrand waren wir dann auf das verlassene Steinhaus gestoßen. Schwungvoll drückte David die grünen Holzläden auf und winkte mich her. An der Außenwand des Gebäudes stapelte sich Brennholz, zwischen den Ritzen hatten Spinnen ihre Netze geflochten, in denen Mücken hingen. An einigen Stellen bröckelte die Mauer, doch die verwitterte Holztreppe, die auf einen schmalen Balkon führte, schien stabil zu sein. Also folgte ich ihm. Auf dem Herd stand noch eine Pfanne. Die Wände in der Stube waren mit rohem Holz getäfelt, vielleicht Arve. Es roch, wie Räume riechen, wenn sie lange Zeit von niemandem betreten worden sind. Durch das Fenster, das David geöffnet hatte, fiel Licht und ich sah den aufgewirbelten Staubkörnern zu.
David fragte, ob ich tauschen wollte. Kein Luxus, gewiss. Aber in seiner Schlichtheit ein klares Leben. Ich stellte mir vor, wie man morgens nach dem Aufstehen hinausrufen und nichts anders als sein eigenes Echo hören würde. Vielleicht könnte David hitzebeständige Bäume in den Wäldern pflanzen. Ich sagte ihm, dass ich mir das sehr wohl vorstellen könnte. Berge reihten sich aneinander, soweit der Blick reichte. Es sah von hier oben aus, als wäre die Zivilisation, die ganze restliche Welt, zwischen ihre Falten gefallen und dort verschwunden.
Früher einmal, sagte ich, hatte ich diese Idee von einem eigenen Haus gehabt. Ich weiß nicht mehr genau, wie es aussah. Aber das war auch gar nicht wichtig. Es ging mehr um das Gefühl, das man hatte, wenn man sich in ihm aufhielt. Wegen der dicken Mauern, die nirgends richtig gerade und über die Jahrhunderte zu einem eigenen Organismus verwachsen waren. Wenn man nachts im Bett lag und hörte, wie der Wind in den Dachbalken flüsterte. Es roch nach rotbackigen Äpfeln, die in Scheiben geschnitten unter der Decke an langen Stangen trockneten und nach Bienenwachs. So ein Haus hält einen fest. Es zeigt, dass man nur ein Teil einer uralten Abfolge ist. David trat zu mir ans Fenster und schlang seine Arme um meinen Bauch, vielleicht gerade dort, wo das Kind lag, von dem er nichts ahnte. Eigentlich wusste ich, dass jeder Tag, der verging und ich es ihm nicht sagte, die ganze Sache noch schlimmer machte. Trotzdem hatte ich noch immer das Gefühl, dass ich die Situation allein in den Griff bekommen musste. Ich fürchtete, dass sich durch sein Mitwissen alles veränderte. Und ich nicht mehr in der Lage sein würde, die richtige Entscheidung zu treffen. Außerdem fühlte sich die Schwangerschaft weniger real an, solange ich sie für mich behielt. David legte seinen Kopf auf meine Schulter. Ich schloss die Augen. Draußen hörte ich die Quellen wispern, es rauschte in den wilden Bächlein und tropfte aus den zusammengekauerten Felsen. Alles zugleich. Ich verliebte mich sofort in das Bild von uns in diesem Wasserwald. Wir brauchten ja nicht viel. Nur uns. Einen Tisch, ein paar Stühle. Ein Bett und das Fenster mit dem Blick auf die unendliche Linie, die den Himmel vom Horizont trennte.
Durch die Schichten der Kleidung hindurch spürte ich die Stoppeln seines Bartes, als er zu erzählen begann. Von seiner Kindheit. Sie hatten in einem Talkessel gewohnt, um den sich die Berge türmten wie ein schützender Wall. Ein Fluss zog sich durch das breite Haupttal. Er war nicht eingemauert, wie die Flüsse in der Stadt, in denen sich der Himmel nicht mehr spiegelte. Der Fluss seiner Kindheit formte mit seinen wilden Armen die Landschaft, die Kiesbänke und Weiher, in denen Forellen, Elritzen und Krebse schwammen, die er und Lena im Sommer mit dem Kescher fingen. An einem Abend, als die Grillen besonders laut in den hohen Wiesen zirpten, hatte er einen Plastikeimer heim geschleppt, der so voll war, dass das herausschwappende Wasser seine Spur nachzeichnete. Er rief nach seiner Mutter. Da hörte er ein Geräusch. Obwohl er sich fürchtete, stieg er die Treppe in den ersten Stock hinauf. Die Tür zu den Praxisräumen war einen Spalt offen und er konnte durch den schmalen Ausschnitt die kleine, bleiche Brust seiner Mutter sehen und den nackten Rücken eines Mannes, der nicht sein Vater war.
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