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Aura
Den Begriff der Aura hat Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935) geprägt. Darin beschäftigt er sich mit der Veränderung der menschlichen Wahrnehmung durch die Einführung von Reproduktionstechniken, durch die Kunstwerke breiten Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht werden. Benjamin definiert die Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, und beschreibt damit die Einmaligkeit, die Kunstwerke auszeichnet, oder die „materielle Dauer“ und „geschichtliche Zeugenschaft“, die dinglichen Überresten eigen ist. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, so Benjamin, verkümmere diese Aura, da das Einmalige durch die Vervielfältigung überwunden werde und man der Dinge aus nächster Nähe im Abbild habhaft werden könne. Diesen Verfall der Aura sieht Benjamin durchaus positiv, da sich Kunstwerke erstmals von ihrem Kultwert, der aus ihrer Unnahbarkeit resultiere, emanzipieren und andere soziale Funktionen übernehmen könne, die auf ‚die Massen‘ gerichtet sind.
Im Museumskontext findet sich der Aura-Begriff zur Beschreibung von historischen Objekten. Diesen wird die Fähigkeit zugesprochen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln, indem sie das historisch Ferne räumlich nah präsentieren und dadurch gewissermaßen eine Brücke zwischen dem lebenden Individuum heute und der abgeschlossenen Vergangenheit schlagen. Eine Beschäftigung mit der Aura von Museumsdingen fand unter anderem im Zusammenhang mit einer an Objekten ausgerichteten Ausstellungsdidaktik statt, für die sich etwa Gottfried Korff ab den 1970er Jahren starkgemacht hat. Wie Roman Weindl in seiner Überblicksdarstellung erläutert, lag der Aufforderung, im Museum Originale zu präsentieren, die Annahme zugrunde, dass von der Aura der Museumsdinge eine positive pädagogische oder bildungspolitische Wirkung ausgehe, beispielsweise in Form einer ‚Ganzheitswahrnehmung‘. Diese Bewertung von Originalität steht Benjamins Begriff von Aura diametral entgegen. Gegenwärtig wird vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung das Potenzial von Originalobjekten besprochen. Auch wenn die Aura dieser Objekte an ihre Geschichtlichkeit gebunden wird, ist sie maßgeblich von ihrer Präsentation und Inszenierung abhängig. Insofern weist die Aura eine ähnlich paradoxale Struktur auf wie die Authentizität: Ihre Unmittelbarkeit ist medial konstituiert. Weindl kommt in seiner Analyse von geschichts- und museumsdidaktischer Literatur zu dem Schluss, dass viele Autor_innen den Begriff der Aura unscharf gebrauchen. Er stellt fest, dass er vor allem als Hilfsbegriff fungiert, da theoretische Überlegungen zur Wirkung von Museumsobjekten fehlen.
Leseempfehlung
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 2010 (1935); Weindl, Roman: Die „Aura“ des Originals im Museum. Über den Zusammenhang von Authentizität und Besucherinteresse, Bielefeld 2019, S. 15–19.
Konstruktion und Medialität von Authentizität
Authentizität weist wie schon gesagt eine paradoxale Struktur auf, da sie immer konstruiert und medial vermittelt ist. Sie setzt die Kommunikation der durch Expert_innen vorgenommenen Authentifizierung voraus und geht mit einer spezifischen Präsentation der jeweiligen Objekte einher, auf die wir unten anhand von konkreten Beispielen zurückkommen werden. Die Verfahren und Strategien, mit denen die Authentizität von Objekten konstruiert und inszeniert wird, sind vielfältig. Sie unterscheiden sich je nach Medium und performativem Ansatz und werden in der Literatur-, Theater-, Kultur- und Medienwissenschaft aus verschiedenen Perspektiven analysiert und theoretisiert.28 Häufig stehen hierbei Fragen nach textuellen und paratextuellen Verfahren im Mittelpunkt, die Authentizitätseffekte erzeugen.
Diese mediale Konstruktion von Authentizität unterscheidet sich grundlegend von der wissenschaftlich untermauerten Authentifizierung historischer Objekte, weshalb Saupe und Sabrow zwischen wissenschaftlicher Authentifizierung einerseits und Authentisierung als Inszenierung andererseits differenzieren.29 In Disziplinen mit medienbasierten Forschungsgegenständen besteht diese begriffliche Differenzierung nicht.
Erleben von Authentizität
Die Konzeption von Authentizität als (diskursiv erzeugte) Eigenschaft eines Objekts oder als Effekt textueller Verfahren greift jedoch zu kurz. Authentizität resultiert vielmehr aus der Relation zwischen Objekt und Subjekt, denn sie muss als solche wahrgenommen bzw. erfahren werden (vgl. Kap. 5 Erlebnis und Erfahrung).30 Es kommt also nicht nur auf eine Fremdbeglaubigung (Heterologie) von Authentizität an, sondern auch auf eine Selbstbeglaubigung (Autologie).31 Mit Bezug auf Geschichte ist dabei Plausibilität von zentraler Bedeutung, die dazu beiträgt, dass Objekte als Originale wahrgenommen (vgl. Infobox pastness in Kap. 11.1) oder nachgestellte Handlungen und Situationen als authentisch erlebt werden.
Authentizität in der Geschichtswissenschaft
Als analytischer Begriff wird Authentizität in der Geschichtswissenschaft nicht systematisch verwendet; Eingang in das wissenschaftliche Vokabular fand er vor allem mit Bezug auf den Status von Objekten. Er markiert die Echtheit einer Quelle und zeigt an, dass diese zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und von bestimmten Akteur_innen hervorgebracht wurde. Über den Wahrheitsgehalt der Quelle gibt die Authentifizierung hingegen nicht zwangsläufig Auskunft. Authentifizierungen sind grundlegende Voraussetzung jeder historiografischen Arbeit und Teil der Quellenkritik. Zudem gibt es wissenschaftliche Tätigkeitsfelder wie die Provenienzforschung, in denen die mit der Authentifizierung einhergehende Herkunftsforschung zu den Haupttätigkeiten zählt. Für die Auseinandersetzung mit der Darstellung von Vergangenheit spielt der Begriff in der Geschichtswissenschaft hingegen bis auf wenige Ausnahmen keine Rolle.32
Typologisierung authentischer Darstellungen
Zu diesen Ausnahmen zählt die Typologisierung von Authentizität, die der Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel erarbeitet hat. Er legt dabei ein weites Begriffsverständnis zugrunde und versteht unter Authentizität „eine Eigenschaft, die Aussagen, schriftlichen und bildlichen Quellen, Dingen sowie Orten zukommt, um ihre Echtheit, Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit zu kennzeichnen“.33 Dabei unterscheidet er zwischen Personen- bzw. Ereignisauthentizität, Typenauthentizität, Repräsentationsauthentizität und Erlebnisauthentizität.34 Unter der erstgenannten Form von Authentizität versteht er, dass eine Person tatsächlich gelebt bzw. ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Typenauthentizität bezeichnet den Umstand, dass eine dargestellte Person zwar fiktiv, ihre Figureneigenschaften jedoch als typisch für die dargestellte Zeit, soziale Stellung und Region sei. Repräsentationsauthentizität ist nach Pandel vorhanden, wenn die fiktiven Elemente einer historischen Narration für die dargestellte Epoche und Region nach aktuellem Forschungsstand repräsentativ sind. Und mit dem Begriff der Erlebnisauthentizität erfasst er, dass die „inneren Erfahrungen und Emotionen vom Erzähler in der betreffenden Situation tatsächlich so empfunden wurden“.35 In einer Ergänzung dieser Überlegungen hat Pandel darüber hinaus ein Koordinatensystem vorgeschlagen, anhand dessen die „Authentizitätsgrade“ von Quellen (in der Vergangenheit entstanden), Darstellungen (gegenwärtige Präsentationen von Geschichte) und Imaginationen (fiktionalisierter Geschichte) bestimmt werden können. Diese Systematisierung übersieht jedoch, dass auch Repräsentationen von Geschichte Quellen sein können, und kommt darüber hinaus ohne eine begriffliche Trennung von empirischer Triftigkeit und simulierter pastness (vgl. Infobox in Kap. 11.1) aus. Pandels Typologisierung ist vor allem dann hilfreich, wenn sie zur Analyse von medialen und performativen Repräsentationen von Vergangenheit herangezogen wird.36
Authentizität als Aneignungsmodus von Geschichte
Auch wenn Pandels Überlegungen kritisiert werden können, verweisen sie auf die Notwendigkeit, sich auch in der Geschichtswissenschaft mit Authentizität auseinanderzusetzen und den Begriff über die Qualifizierung von Quellen hinaus analytisch zu nutzen. Vor allem seine populäre Verwendung im Kontext von Public-History-Angeboten legt nahe, ihn weniger als Beleg für empirische Triftigkeit sondern als Aneignungsmodus von Geschichte zu konzipieren. Es gilt also, Authentizitätseffekte wie die bereits erwähnte pastness in den Blick zu nehmen.
Gerade im Bereich der Public History zeigt sich, dass Authentizität nicht zwangsläufig aus der inhärenten Qualität von Objekten oder der Glaubwürdigkeit von Zeugnissen abzuleiten ist. Neben authentischen Objekten oder Zeugnissen spielt hier auch das ‚authentische Erleben‘ eine zentrale Rolle. So stellen Living History oder Reenactments eine Aneignungsform von Geschichte dar, deren Authentizität auf dem Nacherleben von vergangenen Situationen oder Ereignissen beruht. Auch hier ist die paradoxale Struktur von Interesse, denn ‚authentisches Erleben‘ im Sinne einer Körpererfahrung (vgl. Kap. 5) wird dadurch ermöglicht, dass Repliken von historischen Objekten zum Einsatz kommen, die angefasst, getragen und sinnlich wahrgenommen werden können. Für dieses Erleben spielt die Herkunft der verwendeten Objekte, die aus Sicht der Provenienzforschung nicht authentisch sind, dabei eine untergeordnete Rolle.
Geschichtsangebote sind daher darauf hin zu befragen, wie sie ihre Referenz zur Wirklichkeit und gegebenenfalls Wissenschaft inszenieren. Das ökonomische Potenzial von Geschichte ergibt sich gegenwärtig nicht zuletzt aus dieser Dimension von Authentizität. Am Beispiel zahlreicher geschichtskultureller Produkte zeigt sich, dass die ‚Echtheit‘ der jeweils präsentierten Geschichte ein effektives Verkaufsargument darstellt,37 wobei Anbieter_innen häufig auch eine damit zusammenhängende spezifische ‚Atmosphäre‘ heraufbeschwören.
Atmosphäre
Insbesondere bei Videospielen und im Living-History-Bereich ist in Forschungskontexten zur Beschreibung von authentisierenden Arrangements von Atmosphäre die Rede. Der Begriff wurde vor allem von dem Philosophen Gernot Böhme geprägt. In der Geschichtswissenschaft finden sich erste Ansätze zur Nutzung dieses Zugriffs z. B. bei der Analyse touristischer Angebote, die unter Phänomenen wie (hi)storyscapes oder themed environments erfasst werden.
Als Konzept wird Atmosphäre seit wenigen Jahren genutzt, um ‚authentische Räume‘ zu beschreiben, also Räume, die (vermeintlich) historisch authentisch inszeniert sind und für einen bestimmten Zweck so erschaffen wurden. Dieser Ansatz hilft nicht nur, eine spezielle Objekt-Subjekt-Relation zu fokussieren, sondern das erlebende Subjekt in einem spezifisch gestalteten Raum zu beschreiben. Atmosphäre, genauer Vergangenheitsatmosphäre, ist dann ein analytischer Begriff, der es erlaubt, den Raum, in dem eine Performance stattfindet – sei es eine nachgestellte Schlacht, die Quest im digitalen Raum oder aber der Gang durch einen speziell gestalteten Ausstellungsbereich –, als Wahrnehmungs-und Empfindungsraum der Reenactors/Living Historians, von digital Spielenden oder aber von Besucher_innen zu beschreiben. Das Konzept berücksichtigt also dezidiert die Empfindungsebene der teilhabenden Subjekte und verharrt nicht bei der Anordnung von Objekten im Raum. Betrachtet wird auch die ästhetische Gestaltung des Raums im Hinblick auf seine Eignung, pastness (vgl. Infobox in Kap. 11.1) zu erzeugen. Der Rückgriff auf den Atmosphären-Begriff erlaubt somit stärker als etwa der Fokus auf Objektauthentizität, das Verhältnis von rezipierendem Subjekt und inszenierter Geschichte im Raum in den Blick zu nehmen. Solche Atmosphären sind zeitlich und kulturell gebunden. Das Beispiel der digitalen Spiele verweist aber auf deren (potenzielle) räumliche Entgrenzung. Da diese oftmals für den globalen Markt designt werden, können diese kosmopolitische Vergangenheitssettings etablieren, die dann gleichsam populärkulturelle Vorstellungen von Geschichte prägen.
Leseempfehlung
Kerz, Christina: Atmosphäre und Authentizität. Gestaltung und Wahrnehmung in Colonial Williamsburg, Stuttgart 2017; Zimmermann, Felix: Historical Digital Games as Experiences – How Atmospheres of the Past Satisfy Needs of Authenticity, in: Marc Bonner (Hg.): Game | World | Architectonics – Transdisciplinary Approaches on Structures and Mechanics, Levels and Spaces, Aesthetics and Perception, Heidelberg 2021, S. 19-34.
Authentizität ist ein kultur- und zeitgebundener Begriff. Er ist eng mit der westeuropäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte verbunden und lässt sich nicht als universelle Größe voraussetzen, wie wir im Beitrag zum Kulturerbe (vgl. Kap. 7) anhand des UNESCO-Welterbes kurz skizzieren. In der Geschichtswissenschaft gelangen die Praktiken der Authentisierung zum einen durch das zunehmende Interesse an Fragen der Performativität (vgl. Kap. 10) langsam in den Fokus der Forschung,38 zum anderen durch die Etablierung der Wissen(schaft)skommunikation als Forschungsfeld und als Praxisbereich. Und auch die Public History als neue Teildisziplin der Geschichtswissenschaft treibt die Auseinandersetzung mit Fragen der Authentizität an.
2.4Operationalisierungen
Im Folgenden zeigen wir exemplarisch, wie Authentizität in vier Feldern der Public History erzeugt wird, um zum einen das analytische Potenzial und zum anderen die semantische Vielfalt des Authentizitätsbegriffs zu demonstrieren.
2.4.1Authentische Geschichte im Museum
Authentizität ist ein Kernelement des musealen Ausstellungswesens, denn die ausgestellten Exponate sind in der Regel Originale und fungieren als Objektivationen vergangener Realität, die die im Museum erzählte Geschichte als wahr bekräftigen sollen. Authentizität bezeichnet im Museum somit die Echtheit des Dargestellten und ist eng mit der Aura des Exponats verbunden. Sie wird als Qualität des Objekts verstanden, die aus seiner Geschichte resultiert (womit sich das Exponat von einer Replik unterscheidet). Allerdings liegt die Authentizität von Objekten im Museum nicht nur in deren Originalität begründet, sondern auch in ihrer Präsentation und Rezeption.39 Stefan Burmeister spricht daher von einer Umwertung des Authentizitätsbegriffs, mit dem zunehmend das Echtheitserlebnis der Betrachter_innen, auf das wir noch näher eingehen, in den Blick genommen wird und der somit eine Qualität der Beziehung zwischen (inszeniertem) Objekt und Besucher_innen bezeichnet.
Präsentation von Exponaten
Hieran schließt sich die Frage an, wie es Museen gelingt, bei ihren Besucher_innen den Eindruck von Authentizität zu evozieren. Die Authentisierungsstrategien, die sich auf die Auswahl und die Präsentation von Objekten richten, sind dabei maßgeblich durch zwei Elemente geprägt: Zum einen determiniert die durch Expert_innen festgelegte Wertigkeit des Objekts die Art und Weise seiner Präsentation bzw. welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind. Zum anderen bestimmen aber auch die Erwartungen der Besucher_innen, wie ein Objekt ausgestellt wird (vgl. Kap. 11 Rezeption), wobei diese wiederum durch die Schaffung spezifischer Wahrnehmungsbedingungen von Museen mitgeprägt werden. In ihrer Architektur sind Museen als Schutzräume konzipiert. Abgehängte Fenster schützen die Exponate jedoch nicht nur vor zerstörerischem Tageslicht, sondern verdeutlichen auch, dass es sich bei den ausgestellten Dingen um schützenswerte, wertvolle, alte und echte Zeugnisse der Vergangenheit handelt. So erzeugt etwa die Platzierung bestimmter Objekte auf besonders edlen Stoffen in speziell ausgeleuchteten Vitrinen einen auratischen Effekt. Sichtbare Maßnahmen wie diese dienen also nie nur dem Schutz der Objekte als historischer Zeugnisse, sie erzeugen zugleich auch den Eindruck, dass diesen Objekten ein gewisser Wert zukommt. Somit ist es vor allem die Inszenierung, die ein Objekt in ein besonders wertvolles, authentisches und auratisch wirksames Exponat aus der Vergangenheit transformiert. Selbst archäologische Massenware, so Burmeister, kann auf diese Weise auratisch inszeniert werden.40 Darüber hinaus verstärkt auch die Beschriftung der ausgestellten Objekte deren Authentisierung und Auratisierung. Ist diese besonders knapp und verwendet gegebenenfalls nur Fachbegriffe, bietet sie keine Analogien an oder fehlen Hinweise zur Einordung in Wirkungszusammenhänge, trägt die Beschriftung zur Entrückung des Objekts sowie zur Erfahrung seiner Außeralltäglichkeit bei. Werden z. B. in einer Vitrine Fibelarten ausgestellt und in einer Auflistung als Triquetra-Fibel oder Peltafibel bezeichnet, aber weder erläutert oder im Schaubild gezeigt, wie der Schließmechanismus an Kleidung genau funktioniert, noch wie man beide Formen unterscheidet, so trägt das zwar zur Auratisierung, aber nur wenig zum Verständnis des Gezeigten bei.
Echtheitserlebnis der Museumsbesucher_innen
Um das Zusammenspiel von ästhetischer als auratischer Inszenierung, historischer Erfahrung (vgl. Kap. 5) und gesellschaftlichen Authentizitäts-Konventionen besser zu erfassen, wird in den Museum Studies vermehrt auf performative Erklärungsansätze zurückgegriffen. Denn wenn Authentizität nicht länger als Qualität des Objekts, sondern als Relation zwischen Objekt und Subjekt verstanden wird, gerät auch die körperliche Bewegung durch den inszenierten Ausstellungsraum in den Blick und erweitert das Verständnis dafür, wann die Darstellung von Geschichte als authentisch wahrgenommen wird.41
Die analytische Perspektive auf die museale Aura von Exponaten verändert zugleich den Diskurs über Repliken und Hands-on-Ansätze im Museum. Der mit der Aura von Objekten einhergehende Aneignungsmodus bestand im Museum über lange Zeit im An-Sehen. Mit der Einführung von Repliken und Tastmodellen, die zum Anfassen, zur multisensualen Annäherung einladen, findet eine Demokratisierung des Museums statt, insofern diese es ermöglichen, Geschichte barrierefrei und im besten Falle inklusiv zu präsentieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass der an das Museum herangetragene Begriff von Authentizität immer mit gesellschaftlichen Hierarchien verbunden ist, denn das anfassbare, nahbare Objekt galt und gilt als weniger wertvoll. Allerdings verändern sich diese Wertzuschreibun-gen, wenn das Museumserlebnis bzw. die (didaktisierte) Erfahrung von Geschichte im Mittelpunkt steht. Zwar ist durchaus zu beobachten, dass sich viele Ausstellungsorte darum bemühen, den Eindruck von Authentizität zu evozieren. Doch die musealen Praktiken zeigen, dass dies – wenn nötig – auch ohne Original möglich ist.42 Insofern können Museen als Seismografen für gesellschaftliche Authentizitätsvorstellungen verstanden und untersucht werden.
2.4.2Authentische Geschichte in Gedenkstätten
Gedenkstätten definieren sich über die Authentizität des Ortes. Sie unterscheiden sich von Denkmalen, indem sie den spezifischen Ort markieren, an dem etwas Bestimmtes stattgefunden hat. Dieses Kriterium lässt sich unter anderem in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes erkennen, die als förderwürdig nur die Gedenkstätten bestimmt, die an authentischen Orten existieren. Dabei ist eine „Authentizität des Ortes […] gegeben, wenn sich das historische Geschehen in einer für den Besucher sichtbaren baulichen Substanz manifestiert“.43 Dem Ort wird damit eine Aura zugesprochen, die aus seiner Geschichtlichkeit resultiert. Hinsichtlich des Authentizitätsbegriffs lassen sich damit deutliche Parallelen zwischen Gedenkstätten und Kulturerbe-Stätten (vgl. Kap. 7) erkennen.44
Orte und Zeitzeug_innen
Im deutschsprachigen Raum bzw. in Europa wird in Gedenkstätten gern mit einer doppelten Authentizität gearbeitet, insbesondere wenn sie an die NS-Terrorherrschaft und die SED-Diktatur erinnern: Am Ort des jeweiligen Geschehens beglaubigen zusätzlich Zeitzeug_innen aus eigener Anschauung die Echtheit der dargestellten Geschichte. Im Rahmen von Führungen, Gesprächen oder Workshops berichten sie in persona von ihren persönlichen Erlebnissen. Zudem können an Hands-on-Stationen Audio- und/oder Video-Ausschnitte aus digitalisierten Zeitzeug_innen-Interviews angehört bzw. angesehen werden. Sowohl die Orte als auch die Zeitzeug_innen versprechen Authentizität, jedoch sind dabei ganz unterschiedliche Aspekte betroffen.
Die Authentizität der Zeitzeug_innen geht dabei über die oben erwähnte Subjektauthentizität hinaus, denn es geht nicht nur um die ‚Echtheit‘ und Glaubwürdigkeit ihrer Performanz, mit der sie ihre individuellen Erlebnisse darstellen. Vielmehr kommt ihnen in Gedenkstätten die Autorität zu, das Wissen um die ‚ganze‘ Geschichte eines Ortes oder eines Geschehens zu repräsentieren. So führen beispielsweise Zeitzeug_innen nicht nur als Augenzeug_innen die Besucher_innen durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen, sondern auch als Expert_innen für die gesamte Geschichte der Unterdrückung, Verfolgung und Inhaftierung politisch Andersdenkender in der DDR. Diese Praxis ist hoch umstritten innerhalb der Gedenkstättenpädagogik. Was jedoch weniger beachtet wird, ist, dass Orte zur Diktaturgeschichte der DDR häufig auf bürgerliches Engagement zurückgehen. Die Männer und Frauen der ‚ersten Stunde‘ schrieben den Erinnerungsorten ihre eigene Deutung ein. Diese hidden agenda prägt bis heute Ausstellungskonzepte und pädagogische Arbeit. Aufgrund der mangelnden Transparenz ist jedoch kaum mehr erkennbar, dass es sich dabei ursprünglich um die Perspektiven von Zeitzeug_innen handelt und die Darstellung nicht ausschließlich auf historischer Forschung beruht.45 Diese Konstellation verdeutlicht die Machteffekte, die sich aus einer Verknüpfung von Authentizität und Autorität ergeben können.
Auch und gerade in Gedenkstätten lohnt es sich, zwischen Authentizität als Selbstbeschreibung und damit als Quellenbegriff und als Analysebegriff zu unterscheiden. Der analytische Zugriff ermöglicht es, Techniken der Authentisierung zu erforschen sowie Praktiken der Kommunikation von Geschichte systematisch in den Blick zu nehmen. So lässt sich bei einem authentischen Ort beispielsweise der Zusammenhang zwischen Konservierungstechniken und der dem Ort zugeschriebenen Aura analysieren oder die authentisierende Funktion, die Zeitzeug_innen zuerkannt wird. Dabei ist beispielsweise auch von Interesse, dass Gedenkstätten zunehmend auf mediale Formen von Zeitzeug_innenschaft zurückgreifen müssen, da Zeitzeug_innen aus gesundheitlichen oder Altersgründen immer seltener auftreten können. Kuratorische Eingriffe schränken die Autorität und Deutungshoheit der Zeitzeug_innen dabei deutlich ein, denn für gewöhnlich werden ihre Zeugnisse stark gekürzt und in eine geschichtliche Inszenierung eingebettet, die häufig auf die „Illusion vielstimmiger Erinnerungen“ abzielt.46 Zugleich kommen bei der medialen Präsentation von Zeitzeug_innen jedoch auch spezifische Verfahren zum Einsatz, die deren Authentizität betonen, beispielsweise indem Pausen, die Suche nach Worten oder das Ringen um Fassung in den geschnittenen Interviewaussagen belassen werden. Hierdurch entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit und Authentizität, der die historische Korrektheit der Aussagen jedoch nicht zwangsläufig belegt.
2.4.3Reenactment und Living History
Der Zusammenhang von Authentizität und Inszenierung wird auch im Bereich des Geschichtstheaters deutlich, welches Praktiken wie das Reenactment und die Living History umfasst.47 Hier hängt das jeweilige Verständnis von Authentizität nicht zuletzt vom Ziel der Aufführung ab: Die experimentelle Archäologie, die beispielsweise nachgebaute Objekte testet, um Erkenntnisse über deren Verwendung zu sammeln, benutzt den Begriff anders als Reenactors, die sich für das (Nach-)Spielen einer Schlacht möglichst authentisch einkleiden, um die Erfahrung eines Zeitsprungs, eines period rush, zu machen.48 Im Allgemeinen verstehen die Ausführenden, so Stefanie Samida und Miriam Sénécheau, Authentizität als Verweis auf empirische Belegbarkeit und Wahrheit.49
Nachgebildete Objekte und nachgespielte Ereignisse
Interessanterweise resultiert die Authentizität von Kleidung oder verwendeten Gegenständen hierbei nicht aus ihrer Geschichte, sondern bemisst sich an den zur Herstellung genutzten Materialien und Techniken, die denjenigen der nachgestellten Raumzeit möglichst entsprechen. Je stärker die Annäherung an die historischen Techniken und Materialien, desto größer ist die ‚Echtheit‘, die dem Objekt zugesprochen wird. Der Authentizitätsanspruch beruht dabei nicht nur auf der Qualität der Nachbildung, sondern auch auf ihrer Verwendung für spezifische Handlungen, wobei die Authentizität noch dadurch gesteigert werden kann, dass diese an einem als authentisch wahrgenommenen Ort durchgeführt werden.50