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Der prunkvolle Verkaufstempel sagte ihm, dass es diesem Hersteller ja offensichtlich nicht so schlecht gehen konnte. Er strich um die ausgestellten Fahrzeuge herum und bemerkte, dass zwei junge Kerle vor ihren Monitoren hektische Betriebsamkeit simulierten und er vermutlich gerade störte. Na gut, er war zu einer ungünstigen Zeit erschienen, es war 11 Uhr 56. Es könnte gut sein, dass die Jungs gleich Mittagspause hatten. Er wartete noch genau drei Minuten, dann ging er auf einen der Anzugträger zu.
"Ich möchte ein Elektroauto kaufen" sagte er "da bräuchte ich mal n bisschen Beratung. Ich bin nämlich Schauspieler, und technisch nicht so bewandert."
In den Augen des Verkäufers gab es kein Erkennen, wer er war.
Tom Schiller trug nur den Namen des Dichterfürsten, und hatte noch nie ein Theater von innen gesehen. Wenn er nachmittags aus dem Autohaus abhauen konnte, stieg er zu Hause erst einmal in eine schlabbrige Jogginghose und ein ausgeleiertes T-Shirt um. Dann warf er seinen PC an und zockte erst zum Aufwärmen ein paar Ründchen "Fortnite". Dann wechselte er zu "War Thunder", schoss etliche Panzer oder Flugzeuge zu Klump und kam später noch zu "Cyberpunk", wo er sich tierisch über die Bugs und die Performance aufregte. Den Spieleabend beendete er meist noch mit einer Tour als Kopfgeldjäger in "Red Dead Redemtion 2". Zwischendurch schob er eine Pizza in den Herd und trank mindestens zwei Flaschen Cola. Gegen 23 war er dann ermattet genug, um noch eine Stunde Trash TV zu konsumieren. Am nächsten Tag musste er um 8 Uhr wieder raus, und verfluchte seinen stressigen Job.
"Da kann ich Ihnen sicher helfen" sagte er zu Krause (und dachte sich heimlich, dass die Schauspielerei doch sicher eine brotlose Kunst wäre und er den Typen nach ein paar Preisangaben gleich wieder los sein würde) "aber so ein Hochtechnologie-Fahrzeug ist schon nicht ganz billig. An wieviel denken Sie denn?"
"Das spielt doch jetzt erst mal keine Rolle" regte sich Krause auf "Sie sollen mich beraten. Was weiß ich denn, wie teuer so ne Karre ist."
"Nun ja, unsere Modelle fangen im hohen fünfstelligen Bereich an. Unser Schmuckstück, der Auwi el-thron 55 quakker ist für einen Grundpreis von 81.500 Euro zu haben. Wenn Sie eine vernünftige Ausführung haben möchten, gibt ein Blick in die 40 Seiten umfassende Aufpreisliste eine gewisse Orientierung. Da ist man ruckzuck schnell bei 150.000 und mehr. Dafür hat der Wagen aber auch 664 Newtonmeter."
"Das ist die Länge in Zentimetern?"
"Nein, das Drehmoment."
"Also wie flott er einen Kreis drehen kann?"
"Nein, das Drehmoment. Newtonmeter ist der Betrag des Drehmoments, den eine Kraft von einem Newton bei einem Hebelarm von einem Meter erzeugt" leierte Schiller herunter.
"Und das bedeutet?"
"Wie ich schon sagte, ein Newtonmeter ...."
"Das reicht. Ich bin nicht hierhergekommen, um meine Prüfung in Mathematik zu wiederholen."
"In Physik."
"Wie bitte?"
"Das ist eine physikalische Größe."
"Hörn sie jetzt mal her, Sie Wichtigtuer" wurde Krause laut "ich bin nicht hier, um mir Nachhilfeunterricht abzuholen. Ich will nichts weiter als eine verständliche Erklärung."
Krause war lautes Sprechen aus dem Theater gewohnt.
Ein etwas älterer Anzugträger erschien auf der Szene.
"Kann ich irgendwie helfen" fragte er freundlich "ich bin der Niederlassungsleiter. Mein Name ist Maas, Heino Maas."
"Ja, Sie können helfen" erwiderte Krause "und zwar, indem Sie einem Menschen ohne Doktortitel in Physik erklären, was Newtonmeter bedeutet."
"Nun, ein Newtonmeter ist der Betrag des Drehmoments, den eine Kraft ...."
"Hörrrrren Sie auf, hörrrrren Sie soforrrrrrrt auf damit" antwortete Krause wütend und laut.
Momentan bereitete er sich auf eine Rolle in einem Stück vor, in dem er als Adolf Hitler auftreten sollte. Nach seinem Triumph als Papst Pius der VII. würde man ihm in der Kritik nicht unterstellen können, dass er mit seinem Spiel den Führer eventuell verherrlichen wollte. Man musste ja vorsichtig sein heutzutage, man konnte schnell unter den Verdacht geraten, den "Falschen in die Hände spielen zu wollen". Aber in "Der Stellvertreter" hatte er die ganze Dramatik und Zerrissenheit des Klerus in Bezug auf seine Nähe zum Nationalsozialismus "brillant und nicht plump schuldzuweisend" (wie der "Kleiderspiegel" geschrieben hatte) herausgearbeitet. Sicher, die Kirche hatte schon immer Einiges zu verlieren gehabt, er dachte da an die riesigen Vermögenswerte an Grundbesitz, Immobilien und so weiter. Dass man sich den jeweils Regierenden andienen musste, lag damit auf der Hand. Heute segelten die Popen sprichwörtlich auf dem Mittelmeer mit dem Zeitgeist mit, und deklarierten diese Aktionen als Nächstenliebe (in Wahrheit sorgten sie für Nachschub in ihren Betreuungseinrichtungen). Da sie zudem noch umfangreiche staatliche Zuwendungen aus uralten Vereinbarungen erhielten, musste man sich dafür schon irgendwie erkenntlich zeigen. Außerdem saßen in den Kanzleien der Kirchen vermutlich bessere Betriebswirte als im Bundesfinanzministerium.
Der Niederlassungsleiter sah ihn aufmerksam an. Krause trug ein schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans und hatte die Hosenbeine in halbhohe Stiefel hineingestopft. Da er sich nicht nur textlich, sondern auch im Habitus und Gestus immer intensiv auf seine Rollen vorbereitete, und ebenfalls historisch zeitgerechte Garderobe zur Eingewöhnung trug, hatte er sich als Oberbekleidung einen knielangen schwarzen Kunstledermantel aus dem Kostümverleih besorgt. Momentan ließ er sich auch gerade einen gestutzten Oberlippenbart wachsen. Auf dem Kopf trug er eine in der Schwulenszene übliche Kunstlederschirmmütze. Seiner Sprachlehrerin in der Ausbildung, die er immer ausdauernd gezüngelt hatte, verdankte er seine Fähigkeit, andere Personen perfekt imitieren zu können. Er hatte sich Szenen aus "Der Untergang" mit dem großartigen Bruno Ganz etliche Male angesehen und bald eine täuschend echte Stimmlage des Führerdarstellers nachahmen können. Da Krause ein Perfektionist war, hatte er sich auf YouTube auch alle verfügbaren Originalaufnahmen von Hitler (natürlich mit Tonaufnahmen) angesehen und diese dann, nachdem er sich den Text eingeprägt hatte, synchron und laut mitgesprochen. Hätte man Krause hinter eine spanische Wand gestellt und seinen Part als Adolf Hitler sprechen lassen wäre es schwer gewesen festzustellen, ob es sich um eine reale Stimme, oder eine Tonaufnahme von damals handelte.
"Sie denken wohl, Sie können Ihre miese Show hier weiter abziehen" giftete ihn der Niederlassungsleiter an "wir sind ein grünes Unternehmen, und haben auch was gegen braun."
"Was sollen Sie damit ausdrücken" fragte Krause irritiert.
"Ich möchte Ihnen sagen, dass wir solche Leute wie Sie hier nicht bedienen."
"Warrrrrrum" dröhnte Krause vor Erregung wieder in seine Hitler-Rolle schlüpfend "werrrrr gibt Ihnen das Rrrrrrecht dazu? Ich bin Bürrrrrger eines frrrrrreien Landes, und ich werrrrde mich überrrrrr Sie an höherrrrrer Stelle beschwerrrrren, weil Sie mirrrr eine Berrrratung verrrrwehrrren wollen. Sie werrrden Ihrrrrrrr widerrrrrrrliches Verrrrrrhalten noch biterrrrr berrrreuen."
"Verlassen sie sofort unserrrr, unser Autohaus, oder ich rufe die Polizei."
"Sie haben doch einen an der Waffel" bellte Krause und verließ mit wehenden Mantelschößen den Palast.
Er stieg in seinen Porsche und wurde dabei vom Niederlassungsleiter weiter beobachtet.
"Sehen Sie" sagte er zu Tom Schiller "sehen Sie sich das Kennzeichen an. Fällt ihnen etwas auf?"
"Nein."
"Er hat eine 88 im Nummernschild."
"Ja, und?"
"Sind Sie immer so schwer von Begriff? Denken Sie mal ans Alphabet Na, klingelt es jetzt?"
"Es gibt doch keine Zahlen im Alphabet und gleich gar keine 88."
"Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie Komiker. Welcher Buchstabe steht an achter Stelle im Alphabet?"
Schiller zählte mit den Fingern und bewegte stumm seine Lippen.
"Das H."
"Weiter."
"Soll ich bis 88 weiterzählen?"
"Nein, natürlich nicht. 8 und 8 bedeutet also H und H. Und das heißt?"
"Soweit ich weiß, steht das für Hansestadt Hamburg."
"Nein, es steht eben nicht für Hansestadt Hamburg, sondern für "Heil Hitler". Ist das jetzt klar?"
"Aber das könnte doch auch für "Heiße Hexe" oder "Hohes Haus" stehen. Woher sollen wir denn wissen, dass der Kunde so was meint?"
"Sie wollen das wohl jetzt ins Lächerliche ziehen Schiller, ernsthaft? Wissen Sie was, ich werde Sie ab sofort etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ihr Demokratieverständnis scheint mir sehr mangelhaft ausgeprägt zu sein, wenn Sie solche Extremisten noch nicht einmal aus nächster Nähe erkennen können. Ich behalte Sie im Auge, verlassen Sie sich darauf. Und ich will Ihnen noch mit auf den Weg geben, dass ich es nicht dulden werde, dass Sie hinter Ihrer angeblichen Unwissenheit eventuell heimlich mit solchen Leuten sympathisieren und Ihr eigenes braunes Süppchen kochen. Dann sind Sie hier fehl am Platz, und können sich einen neuen Arbeitgeber suchen."
Tom Schilling war ähnlich verwirrt wie Frank Krause und sehr verunsichert nach Hause gefahren. Um sich abzureagieren zockte er anfangs "Wolfenstein - The new Collossus". Die Nazis, die er dort bekämpfte, hatten nirgendwo eine 88 auf ihren Uniformen stehen. Vielleicht lag der Niederlassungsleiter vollkommen schief, und 88 bedeutete "Hip Hop" oder "Happy Hippie". Aber die Drohung seines Vorgesetzten lag ihm doch schwer im Magen. Er würde dem Niederlassungsleiter morgen sofort erklären, dass er einen Fehler gemacht hätte, und nicht wachsam genug gewesen war. Ab sofort würde er ihm sofort Bericht über verdächtiges Verhalten der Kunden erstatten. Schließlich würde er, Tom Schiller, ja fest zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen. Was das genau bedeuten sollte wusste er nicht, aber er hörte solche Worte ja täglich im Radio oder Fernsehen. Und er würde noch ergänzen, dass er auch beim Kampf gegen Rechts mit dabei wäre.
Die Bedeutung der 88 ließ ihn nicht mehr los, auch als er schon schlaflos im Bett lag.
Dann fiel ihm ein, dass er auf der Heimfahrt im Autoradio ein Interview mit einem Typen gehört hatte, der sich selbst als "Hubert Heil" bezeichnet hatte. Das musste eindeutig ein Fake-Name gewesen sein, der ihn an "Schwanzus Longus" aus einem Stück von "Monty Python" erinnerte. Die Sache war für Schiller eindeutig, weil er das Lügengebilde klar durchschaute. Der Begriff "Heil" deutete auf einen Extremisten hin. Den Namen "Hubert" hatte er noch nie gehört, vermutlich war er in der Nazizeit aktuell gewesen. Dieser "Hubert Heil" war also ganz offensichtlich ein Gefährder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland. Man musste ihn den zuständigen Behörden melden.
Auch darüber würde er mit Heino Maas reden müssen.
Anreise aus Niedersachsen
"Du trägst deinen Namen wahrlich nicht zu Unrecht" sagte Renate Fuchs zu ihrem Mann.
"Wie soll ich das verstehen" fragte Jürgen Fuchs grinsend zurück "beziehst du diese Aussage auf mein bestes Stück, oder auf meine Schläue?
"Such dir aus, was dir selbst am besten gefällt."
"Ich nehme beides. Weil wir gerade dabei sind, ist er dir immer groß genug gewesen?"
"Sag mal, spinnst du" empörte sich Renate Fuchs "hat es jemals Beschwerden gegeben? Nein. Also, das dürfte ja dann geklärt sein."
"Sagst du. Aber ich habe mal einen Fall bearbeiten müssen, da waren in einer Stadt drei Kerle im mittleren Alter in sehr kurzen Zeitabständen bestialisch umgebracht worden. Einem war die Kehle durchgeschnitten worden, der andere war offensichtlich mit einer Drahtschlinge erwürgt worden, und dem dritten hatte man das Genick gebrochen. Alle waren an relativ weit voneinander entfernten Orten aufgefunden worden, an den Tatorten waren alle Spuren verwischt beziehungsweise akribisch entfernt worden. Was hatten wir also in der Hand? Drei Männer mittleren Alters, alle verheiratet, Kinder, normaler bürgerlicher Hintergrund, beruflich ganz normal aufgestellt, keine Schulden, keine Drogengeschichten, alle absolut unauffällig. Der normale deutsche Spießbürger also. Es war 1978, da war ich gerade einmal 22 Jahre alt, ein absoluter Jungspund bei der Kripo. Um diese Zeit herum, also im Oktober 1977, hatte die "Rote-Armee-Fraktion" den Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer entführt und umgebracht. Alle waren also sehr auf einen eventuellen politischen Hintergrund der Mordserie fixiert. Da haben wir uns die Opfer alle nochmal in Bezug auf ihre Biografien angesehen. Was soll ich dir sagen, alle waren Mitglied in der CDU."
"Na und, das warst du doch auch zu dieser Zeit. Es war auch damals schon klar gewesen, dass du ohne das richtige Parteibuch nicht vorankommen konntest. Je nach Zielrichtung hat man sich eben bei den Schwarzen oder den Roten politisch engagiert. Das waren damals noch wirkliche Volksparteien, heute sind das doch nur noch Vereine für gescheiterte Existenzen wie Studienabbrecher oder Hochstapler. Die Beispiele kennen wir ja alle. Und so was soll ein Industrieland führen, nach Arbeit im Callcenter oder Kaffeekocher bei einem Bundestagsabgeordneten. Aber erzähl weiter."
"Es war tatsächlich eine falsche Fährte. So sehr wir auch grübelten, diese Morde folgten keinem Muster, selbst die Tötungsart war vollkommen verschieden. Pass doch auf, du Rindvieh" brüllte Fuchs plötzlich los und stieg auf die Bremse "so ein dummes Schwein! Überhöhte Geschwindigkeit und dann noch in den Sicherheitsabstand hinein abbiegen. Den zeig ich an."
Renate und Jürgen Fuchs waren auf dem Weg zum Treffen der Sippe.
"Reg dich ab Jürgen. Das bringt doch nichts. Hast du Beweise? Kameraaufzeichnungen?"
"Ich habe dich als Zeugen."
"Ich habe nichts gesehen, erzähl weiter."
"Na gut, du musst wissen, einen Menschen umzubringen, ist nicht so einfach. Ich muss allerdings sagen, seitdem ich deinen Vater kenne, kann ich einige der Täter durchaus verstehen. Jedenfalls muss man schon sehr abgebrüht sein, einem den Hals durchzuschneiden, denn das ist eine ziemliche Sauerei. Hast du schon mal Bilder vom Schlachten gesehen? Oder man schleicht sich von hinten an einen ran, stülpt ihm eine Drahtschlinge über den Kopf, und zieht ruckartig zu. Stell dir mal ne Klavierseite vor. Der Kerl vor dir röchelt und zappelt rum, und du drehst ihm gerade den Lufthahn ab. Noch schlimmer muss es wohl sein, einem das Genick zu brechen. Weißt du wie laut das kracht? Und dazu braucht man wirklich viel Kraft. Ich hab dann in die Diskussion eingebracht, dass wir wohl einen kräftigen Typen suchen sollten, der vermutlich einen Job hat, in dem er mit Chemikalien in Berührung kommt. Wie ich darauf gekommen bin? Na die Tatorte waren allesamt von Spuren gesäubert worden. Und zwar ziemlich fachmännisch. Die älteren Kollegen haben mich ausgelacht. Dann hab ich mir noch mal die Obduktionsberichte angesehen. So vom Körperbau fielen die Opfer nicht aus dem Rahmen. Max Mustermann sozusagen. Dann hatte ich ein Detail gefunden, welches hätte wichtig sein könnte. Ich fuhr also in die Pathologie. Die drei Opfer lagen noch in den Kühlboxen."
Fuchs machte eine kurze Pause, weil sich vor ihm drei LKW gleichzeitig zu überholen versuchten.
"Alles verboten" sagte er "aber es hält sich doch keine Sau mehr an irgendwelche Regeln. Die Umgangsformen verlottern, es wird gleich gepöbelt, bei manchen Bevölkerungsgruppen sitzen die Messer locker. Als ich ein junger Mann war, da zählte noch Bildung, Disziplin, Fleiß und Höflichkeit. Davon ist nicht mehr viel übriggeblieben. Work-Life-Balance ist das Zauberort. Viel Kohle für wenig Ahnung und schlechte Leistung, aber maximale Freiheit und Freizeit. Manchmal kann ich der Merkel schon zustimmen: das ist nicht mehr mein Land."
"Jetzt erzähl nicht solchen Quark. Du warst bis vor kurzem in einer sehr herausgehobenen Position im Öffentlichen Dienst. Das ist doch verlogen, du warst doch über bestimmte Dinge am besten im Bilde. Aber das bringt alles nichts, wie wir zum wiederholten Male heute schon feststellen müssen. Also, wie ging es weiter?"
"Ich hatte immer einen Horror vor den Besuchen in der Pathologie gehabt. Schon der Geruch. Aber am schlimmsten waren die Typen dort. Nicht die Toten, die Lebenden. Alle hatten einen Sprung in der Schüssel. Aber einen mächtigen. Wer kuckt sich schon gern eine Wasserleiche an, die nach fünf Wochen gefunden worden ist? Eine hab ich mal gesehen, und hatte dann ein halbes Jahr Alpträume. Und wer offenbar höchste Befriedigung daran findet, einem Toten erst den Brustkorb aufzusägen und dann den gesamten Körper vom Hals mit dem Skalpell bis zum Unterbauch zu öffnen, und dann noch in dem Leib rumzuwühlen um die Organe rauszuholen, denkst du, dass der noch normal ist? Dort stank es ja immer mächtig nach Formalin, aber ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass die Typen, die dort arbeiteten, bis unter die Schädeldecke mit Drogen und Alkohol zugedröhnt waren. Anders konnte das ein normaler Mensch doch sonst nicht ertragen. Ich hab mir dann die drei Leichen in einen separaten Raum fahren lassen. Sie lagen nackt auf so komischen Pritschen. Was hättest du dir bei einem vor dir liegenden nackten Mann zuerst angesehen?"
"Wahrscheinlich das Gesicht."
"Aha. Der erste hat eine ganz übel klaffende Wunde an der Kehle. Dem zweiten hängt die Zunge aus seinem blau angelaufenen Gesicht aus dem Mund. Dem dritte ist der Kopf wegen dem Genickbruch fast ganz nach hinten gedreht. Und da willst du dir die Gesichter ansehen?"
"Na bei Toten vielleicht doch nicht."
"Ich sage dir jetzt drei Zahlen. 19, 23 und 20. Was könnte das bedeuten?"
"Die Länge der Schlüsselbeinknochen."
"Nein."
"Der Rippen."
"Auch nicht."
"Verrate es schon!"
"Nun, es war augenscheinlich. Alle drei vor mir liegenden Leichen hatten extrem lange Schwänze!"
"Gott bewahre" sagte Renate Fuchs "und das in diesem Zustand."
"Genau. Diese Kerle, die waren so zwischen 30 und 40, standen also höchstwahrscheinlich bestens im Saft. Und jetzt stell dir mal vor, die hätten ihre Dinger noch ausgefahren!"
"Jesus, die armen Frauen!"
"Das hatten wir uns auch gedacht. Also haben wir die Witwen verhört. Die waren zwar noch alle mächtig schockiert und durcheinander aber jammerten schon rum, dass mit der Bumserei jetzt wohl Schluss sein sollte. So haben sie es natürlich nicht gesagt, sondern von einem höchst befriedigenden Sexualleben gesprochen. Wir waren wieder auf dem Holzweg. Also hab ich mir wieder unsere Ermittlungsergebnisse vorgenommen. Ich kam nicht weiter. Drei Kerle mit Riesenschwänzen werden umgebracht. Am Tatort fehlen alle Spuren. Dann habe ich mir die Akten der Opfer nochmals angesehen. Ich wollte wissen, ob sie doch etwas gemeinsam hatten. Und siehe da, sie hatten ein gemeinsames Hobby: Hallenbahnschwimmen. In der Stadt gab es zwei Schwimmhallen. Also bin ich in meiner Freizeit dorthin gegangen. Ich wusste nicht, wonach ich suchen sollte. In der ersten Halle war mir nichts aufgefallen. In der zweiten aber hatte ich den Schlüssel zur Lösung des Falls gefunden. Als ich unter der Dusche stand, kam ein Typ in einem Blaumann durch den Raum gelatscht, und sah sich ziemlich ungeniert die nackten Kerle an. Dann verschwand er wieder. Als ich ein bisschen geschwommen war, ging ich zum Leiter des Hallenbades, hielt ihm meinen Ausweis unter die Nase und erfuhr den Namen des Mannes. In der Datenbank war er nicht auffindbar. Aber wir hatten seine Adresse. Ich besorgte mir einen Durchsuchungsbeschluss und war am nächsten Abend mit einer Kollegin vor seiner Wohnungstür. Er war ganz verdutzt und ließ uns rein. Sie befragte ihn zu allen möglichen Sachen, ich filzte die Wohnung. In der Abstellkammer fand ich eine Menge an Chemikalien. Da wusste ich, ich hatte ihn. Um es kurz zu machen, er hat dann alles gestanden. Als ich ihn nach dem Motiv fragte fing er an zu heulen. Er hätte eine Beziehung mit einer Frau gehabt, die ihn aber bald wegen einem anderen Kerl verlassen hatte. Er hatte sie einmal zusammen auf der Straße gesehen, und den Mann dann zufällig im Duschraum des Hallenbades wiedergetroffen. Was ihn bei dem Kerl aufgefallen wäre, du ahnst es ja, wäre eben dem sein extrem langes Ding gewesen. Und deswegen hätte er ihn und dann auch die anderen umgebracht."
"Und was hast du in den Tatbericht als Motiv geschrieben?"
"Penisneid."
Renate Fuchs lachte los und konnte sich kaum wieder einkriegen.
"War er wirklich so schlecht dran" fragte sie dann nach einer Weile.
"Ja, das war er" erwiderte Jürgen Fuchs "er kam auf 5 Zentimeter. Erigiert!"
"Oh Gott, die arme Frau."
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Renate Fuchs ihren Mann:
"Und wo ist jetzt der Bezug zu meinem Vater?"
"Es gibt da mehrere Aspekte" erwiderte ihr Mann "Kriminalarbeit umfasst Recherchen und Schlüsse. Fakt ist, dein Vater hat 1966 eine Spezialklinik in der Schweiz besucht. Da wart ihr Schwestern so um die zehn Jahre alt, natürlich mit Jahresabständen nach oben und unten. Diese Klinik war zu der Zeit auf Untersuchungen zur Fruchtbarkeit von Männern und Frauen spezialisiert. Die Schlussfolgerungen überlasse ich mal dir. Es steht auch fest, und das hat unsere Psychologin bestätigt, dass dein Vater vermutlich sehr darunter gelitten hat, dass er nur Töchter hatte. Sie meint, dass er in seinen eigenen Augen versagt hat, weil er keinen Stammhalter gezeugt hatte. Und daraus zieht sie die Schlussfolgerung, dass dein Vater euch Töchter vermutlich durchaus gern hat, aber seine Schwiegersöhne hasst. Und weißt du warum?"
"Nein, natürlich nicht."
"Weil er höchstwahrscheinlich einen Kurzen hat."
"Was für einen Kurzen?"
"Na eben einen kurzen Schwanz. Und er geht schon die ganzen Jahre davon aus, dass seine Schwiegersöhne einen Größeren haben. Aber das ist vielleicht gar nicht so wichtig. Die Psychologin meint, dass es sehr wahrscheinlich sein kann, dass irgendwo da draußen einer rumläuft, den dein Vater in der freien Wildbahn nach seinem Klinikbesuch oder sonst wann gezeugt haben könnte. Natürlich mit einer anderen Frau, als mit deiner Mutter. Ein Bastard, den er eventuell als Alleinerben einsetzen könnte."
"Gnade uns Gott, dann ist ja alles vorbei."
Fernsehabend
Henriette von Schwarzbach hatte wegen der chronischen Finanzmittelknappheit der Familie (die leider bis heute nie richtig unterbrochen worden war) nach ihrer Hochzeit keinen großen Spielraum bei der Wohnungseinrichtung gehabt. So saßen sie und Klaus-Rüdiger von Schwarzbach auf einem Sofa, welches sie beide seit nunmehr schon mehr als 40 Jahren ertragen musste. Manchmal hatten sich die Kinder früher auch zwischen sie gedrängt und Klaus-Rüdiger sagte sich in solchen Momenten, dass er es doch wohl gar nicht so übel getroffen hatte. Über die Jahre hin war sein Anteil an der Sitzfläche aber erheblich geschrumpft, weil Henriette erwartungsgemäß in der Breite zugelegt hatte. Im Gegenzug hatte ihre Körpergröße abgenommen. Von Schwarzbach erinnerte sich an die Versuche vor langer Zeit, die Gestalt seiner Gattin damals beschreiben zu können. Erst hatte er sich geschämt, einen Menschen so bezeichnen zu wollen, dann aber an seine Ausbildung in Althochdeutsch gedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass die deutsche Sprache schon immer einen sehr direkten Bezug zwischen dem Namen des Menschen und seinem Aussehen oder seinem Beruf hergestellt hatte. Deutsch sein hieß eben auch, nicht zimperlich zu sein. Wer Müller, Meier, Bäcker oder Schmied hieß, wusste, woran er war. Er war aber bei seinen Studien am Institut auf Namen gestoßen, deren Herkunft irgendeinen dunklen Hintergrund haben mussten. Wo kam Ficker her? Warum war jemand Holefleisch genannt worden? Wie hatte sich ein Hodenberg seinen Namen verdient? Verfügte Herr Möse über eben diese?
Irgendwie mussten sich die Vorfahren dieser Namensträger entweder mächtig danebenbenommen haben, oder die Namen hatten in der Zeit ihrer Entstehung einen ganz normalen Prozess widergespiegelt. Das Geld der Familie Schwarzbach hatte immerhin für das billigste IPad und einen Internetanschluss gereicht. Von Schwarzbach hatte den Namen Holefleisch interessant gefunden, und diesen in Google eingegeben. Zu seiner Verblüffung hatte er einen gewissen D. Holefleisch gefunden, der nach eigener Auskunft der Ehemann einer Bewerberin um ein höheres staatliches Amt war. Ihre Lieblingsfarbe war angeblich grün. Julius von Ficker war Diplomat im 19. Jahrhundert gewesen. Aber all dies hatte mit seiner damaligen Namensfindung für Henriette nichts zu tun. Er konzentrierte sich wieder. Einen Körperbau konnte man vielfältig beschreiben. Groß, klein, dünn, dick, schlank, fett, gedrungen, untersetzt, hochgewachsen, verkrüppelt, schön anzusehen, es gab etliche Möglichkeiten.