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Der schweinsäugige Kommissar drehte den Bildschirm zu sich herum und studierte die Einträge. Er grunzte hin und wieder. Dann nickte er. »Sie sind aber modern mit Ihrer Digitalisierung.«
Thiemo wusste nicht, ob das ein Kompliment oder eine Kritik sein sollte, und schwieg. Der Kommissar las noch immer. Schließlich lehnte er sich zurück und sagte: »So weit stimmen Ihre Angaben. Ich denke, es war ein schlechter Scherz mit dem Anruf. Die Leute sind ja ganz irre wegen der Prozesse gegen die Todesschwestern und so.«
»Für mein Personal kann ich garantieren, Herr Rothko. Wir sind da sehr eigen.« Selbstgefällig lehnte Thiemo sich in seinem Sessel zurück. Sein Pflegeheim war sauber. Daran würde auch der Kommissar nicht rütteln können.
Er hoffte, der Mann würde seinen Besuch endlich beenden. Frau Lambacher war mit ihren siebzig Jahren zwar noch recht jung gewesen, aber sie hatte ja auch nicht gerade zur Verbesserung ihrer Situation beigetragen. Ihre amputierten Beine waren nun mal das Ergebnis eines seit Jahren schlecht eingestellten Diabetes. Da kam es, so traurig es war, eben vor, dass solch ein Mensch an einer Entgleisung starb.
Rothko griff nach einem herumliegenden Kugelschreiber und tippte mit dem Ende gegen sein Kinn. »Warum«, setzte er langsam an, »warum hat Ihr Personal eigentlich nicht rechtzeitig etwas gemerkt?«
Thiemo spannte unmerklich den Rücken an und holte tief Luft. Dabei bemühte er sich, gelassen zu wirken. Er griff ebenfalls nach einem Stift und klopfte ihn leicht auf die Schreibtischunterlage, als mache er eine Zigarre zum Anzünden klar. Er wollte Zeit gewinnen, denn das war genau die Frage, die er liebend gern vermieden hätte. Es war der einzige heikle Punkt, denn Frau Lambachers Unterzuckerung hätte vielleicht schneller entdeckt werden können.
Thiemos gewohntes Lächeln kämpfte sich unaufhaltsam durch die müden Gesichtszüge und seine Stimme klang ruhig und bestimmt, als er den Stift beiseite legte. »Die zuständige Schwester ist davon ausgegangen, dass der Sohn da war, wie jeden Nachmittag. Wir haben über den Türen Leuchten. Grün heißt, dass die Schwester im Zimmer ist, bei Rot ertönt eine Klingel. Bei Frau Lambacher war es so, dass sie auf dem Brennen der grünen Lampe bestand, wenn der Sohn zu Besuch war. Dann sollte keiner das Zimmer betreten, sie wollten nicht in ihrer Privatsphäre gestört werden. Und die Leuchte war den ganzen Nachmittag an.«
»Aber Herr Lambacher war gar nicht da, oder?«
»Nein. Aber er war sonst jeden Nachmittag hier. Wirklich jeden. Immer zur gleichen Zeit. Ein dummer Zufall, dass die Schwester ausgerechnet an diesem Tag vergessen hatte, das Licht auszumachen. Ein wirklich dummer Zufall.«
»Ein menschlicher Fehler, nicht ungewöhnlich«, sagte Rothko.
»Sie waren schon komisch, die beiden. Der Sohn und die Mutter, so – zusammen«, rutschte es Thiemo heraus. Er hatte das immer wieder bei den Personalgesprächen mitbekommen: Die Beziehung von Herrn Lambacher zu seiner Mutter hatte eindeutig etwas Pathologisches gehabt.
Der Kommissar reagierte nicht auf Thiemos Bemerkung, vielleicht hatte er sie einfach auch nur zu leise ausgesprochen. »Das wäre es erst mal. Ist eine unangenehme Geschichte. Wir melden uns!« Er drehte den Bildschirm in die Ausgangsposition zurück und stand auf. Thiemo hatte den Eindruck, dass auch der Kripobeamte sehr müde war, und was sollte man von zwei so müden Menschen an Hochleistung heute erwarten …
*
Hubert Lambacher hatte das Gefühl, dass seine Finger am Lenkrad festfroren. Er stand vor dem Eingang des pompösen Seniorenpflegezentrums Sanfte Wellen und konnte den Blick von keinem der Menschen lassen, die das Gebäude betraten oder verließen.
Einer von ihnen hatte seine Mutter auf dem Gewissen, einer von ihnen hatte sie getötet, er war ganz sicher. Von allein war sie bestimmt nicht gestorben.
Der Kommissar war kurz bei ihm gewesen, hatte ihn nach seiner Mutter gefragt, wegen der Zuckerkrankheit. Hubert war zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz Herr seiner Sinne gewesen, zu sehr hatte ihn der Schmerz über den Verlust aus der Bahn gefegt. Er fühlte sich wie ein Blatt, das vom Baum gefallen war und nun willenlos vom Wind durch die Welt getragen wurde.
Drei Nächte hatte er nicht geschlafen. Zuerst war er unter dem Strom der Tränen erstickt und dann hatte er versucht, einen Sinn in dem Ganzen zu finden. Ein Mal, ein einziges Mal war er nicht bei seiner Mutter gewesen und schon passierte so etwas. Hubert fühlte sich entsetzlich schuldig, konnte die kalten Blicke seiner Mutter fühlen, wusste, was sie in ihren letzten Minuten gedacht hatte. Sie war böse gewesen, hätte ihn bestraft, wenn er das nächste Mal gekommen wäre.
Stockend hatte Hubert dem Kommissar von seiner Anbetung für sie und von ihrer Krankheit erzählt. Doch der Mann mit den kleinen, stechenden Augen hatte gar nicht richtig hingehört, war so schnell wieder weg gewesen, dass Hubert ihm in all seiner Trauer nichts von den zerstochenen Reifen gesagt hatte. Das war ihm erst später eingefallen, als er nicht mehr von den ständigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Hubert hatte dann bei der Polizei angerufen, aber da war Rothko unterwegs gewesen. Ein seltsamer Typ. Allein der Name war lächerlich. Aber wenigstens hatte er zurückgerufen.
Dabei war der Kerl aber wieder die Unfreundlichkeit in Person gewesen. Ganz klein und dumm hatte Hubert sich gefühlt, als er vergeblich versucht hatte, ihm von den Todesschwestern zu erzählen, die überall auf der Welt nur darauf warteten, ihre Patienten zu töten.
»Es ist aber ein eindeutiger Fall. Ihre Mutter war hoffnungslos unterzuckert«, hatte der Kommissar ihn gleich unterbrochen. »Sie war einfach undiszipliniert. Es tut mir leid!«
Dieser Ton ließ Hubert verstummen, obwohl er sich vorher die Worte zurechtgelegt hatte. Das höhnische Tuten, das ihm dann der Hörer entgegenspuckte, war einfach nur brutal.
Er hatte das mit den kaputten Reifen wieder nicht sagen können. Der Kommissar hätte ihn ja ausgelacht. Der hatte seine Wahrheit schon festgelegt, da war kein Platz mehr für die Theorien eines unglücklichen Sohnes. Seine Worte wären schon im Vorfeld klar gewesen. Der Mann war wie seine Mutter und die hatte auch immer recht gehabt. Herr Lambacher! Sie sind Mathelehrer an einem Gymnasium. Da können Sie sich doch ausrechnen, wer so etwas macht. Erstatten Sie Anzeige und wir nehmen den Schaden auf.
Und so war Huberts Verdacht, dass die Reifen etwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun haben könnten, unausgesprochen durch sein Denken gekrochen, bis er sich irgendwann festgesetzt hatte und Stück für Stück seine Hirnwindungen zermarterte. Am Ende war ein brennender Kopfschmerz entstanden, den er mit nichts löschen konnte.
Es gab einen Menschen in diesem Heim, der seine Mutter getötet hatte. Er konnte es nur nicht beweisen.
Bestimmt war sie einer der Altenpflegerinnen auf den Schlips getreten. Und die war dann zum Todesengel geworden, wie die ganzen anderen Schwestern und Pfleger, die ihre Patienten getötet hatten. Hubert hatte alle Berichte, die er finden konnte, in den Nächten verschlungen.
Er betrachtete wieder seine weißen Fingerkuppen, die am Lenkrad klebten und sich nicht lösen konnten, wischte mit der Wange über die Schultern und merkte, dass er dabei feuchte Spuren auf seiner Jacke hinterließ.
Die zerstochenen Reifen könnten der Schlüssel sein. Aber nichts im Leben machte Hubert bei irgendeiner Sache wirklich sicher. Alle Gedanken, alle Ideen waren immer nur vage und auf Hypothesen ausgelegt, einzig die mathematischen Formeln folgten einer unumstößlichen Logik, um die er sein ganzes Leben formierte.
Hubert glaubte aber einfach nicht, dass einer seiner Schüler die Reifen zerstochen hatte. Zum einen hatte er nie jemanden durchfallen lassen und zum anderen wohnte er in Wilhelmshaven, unterrichtete aber an dem zwanzig Kilometer entfernten Schlossgymnasium, einer privaten höheren Schule in Jever. Und wenn er ehrlich war: Den Schülern war er zu unwichtig.
Sie nannten ihn Weichei und Muttersöhnchen, hatten herausgefunden, wie sehr er an seiner Mutter hing. Er war sicher nicht beliebt, eher die Witzfigur der Schule, weil er mit seiner Hornbrille und dem kurzgeschorenen Haar den klassischen Mathelehrer verkörperte. Außerdem war er Junggeselle, da kam es schon mal zu Sprüchen, wie: »Der sollte mal so richtig … dann ist er auch ein echter Kerl.«
Nur, dazu brauchte Hubert keine Ehefrau, es gab in Wilhelmshaven und Umgebung genug Etablissements, die diesen Zweig seiner Männlichkeit befriedigten – und von ihm keine weiteren Verpflichtungen forderten.
Mit diesen banalen Dingen des Lebens musste er sich nicht befassen, daher hatte er genug Zeit für seine Mutter gehabt. Sie hatten nicht ihr ganzes Leben miteinander verbringen können, zu viel Zeit war schon verschwendet worden. Da wollte er nun ausschließlich für sie da sein. Und jetzt war er allein. Ganz allein, ohne sie.
Hubert löste eine Hand vom Lenkrad und wischte mit dem Jackenärmel über die beschlagene Scheibe, weil ihm am Seiteneingang eine Bewegung auffiel.
Thiemo Hanken trat aus dem Haus. Er sah übernächtigt aus, vielleicht machte ihm die Geschichte doch mehr zu schaffen, als er zugeben wollte. Obwohl wahrscheinlich so oft ältere Herrschaften verschieden, dass er sich normalerweise bestimmt keine Gedanken darüber machte.
Hubert wusste nicht, wie lange er hier noch mit dem Auto vor dem Gebäude stehen wollte, er wusste nicht einmal, was es bringen sollte. Zu Hause lag noch der Stapel mit den Leistungskursklausuren, die dringend zu bearbeiten waren. Aber irgendetwas sagte ihm, dass er hier, vor der Tür der Seniorenanlage, das finden würde, das ihn weiterbringen musste.
Es dämmerte, als er die Pflegerin aus dem Haus gehen sah, die seine Mutter am Freitagnachmittag hätte betreuen sollen – wenn sie nicht diesem irrsinnigen Licht aufgesessen wäre und gedacht hätte, er sei anwesend. Es wäre trotzdem ihre Pflicht gewesen, reinzuschauen. Egal, was seine Mutter angeordnet hatte. Sie war schließlich verantwortlich. Hubert Lambacher ließ den Motor an und folgte der blonden Frau.
*
Als Thiemo in Jever ankam, war es bereits dunkel. Linda hatte Erbsensuppe gekocht und war gerade dabei, Laurin aus der Wanne zu lotsen, als er in den kleinen beengten Flur trat.
Laurin kreischte, wollte noch sein Schiffchen fahren lassen. Heute ging es Thiemo wirklich auf die Nerven. Am liebsten wäre er auf dem Absatz umgedreht, sofort wieder in seine Wohnung nach Sande gefahren und hätte die Beine auf den Tisch gelegt. Heute Abend kam die Live-Übertragung des Spieles Werder gegen Wolfsburg. Das hätte er sich gern in Ruhe angesehen. Aber seine Wohnung war eine Baustelle. Die Jahre des Junggesellendaseins hatten mehr Spuren hinterlassen, als Thiemo vermutet hatte. Deshalb hatte er jetzt begonnen, zu renovieren. So konnte er die Wohnung schließlich keinem Nachfolger hinterlassen. Aber er wollte nicht zwischen Kleister und Tapetentisch hausen. Das wäre vermutlich noch grausamer als das Gekreische aus dem Badezimmer.
Vielleicht hätte er sich mit Hanno zum Fußballgucken verabreden sollen, aber davon wäre Sinje wahrscheinlich nicht begeistert gewesen. Ihr schienen Hannos zwei Trainingsabende und die Wochenendspiele schon völlig zu reichen. So langsam schwante Thiemo, dass es ihm mit Linda bald nicht anders ergehen würde.
Er fläzte sich an den Küchentisch, sagte Linda noch nicht, dass er da war. Noch ein bisschen abspannen, ausruhen, vielleicht schlief der Knirps ja gleich. Thiemo hätte gern einen Abend Ruhe gehabt. Und vielleicht auch Linda mal wieder für sich allein … Das brächte etwas Ablenkung.
Der Besuch des schweinsäugigen Kommissars hatte ihm doch zugesetzt. Er musste morgen unbedingt noch einmal mit der zuständigen Schwester reden. Heute war er einfach zu müde gewesen. Thiemo gähnte und hoffte, dass die Geschichte im Sande verlaufen würde. Mord! Das war doch absurd. Trotzdem hätte die Schwester mal reinschauen sollen.
Thiemo zuckte mit den Schultern. Irgendwie hatte die Lambacher mit ihrer Lampenaktion das Ganze ja selbst heraufbeschworen. Sie hatten lange diskutiert, ob sie sich daran halten sollten. Aber weil diese Giftspritze nur noch zeterte, hatte er grünes Licht gegeben.
Eigentlich schade, dass die Frau so unangenehm gewesen war. Sie hatte trotz ihrer Behinderung nicht viel älter gewirkt als ihr vierzigjähriger Sohn. Dem Aussehen nach hätte er fast der etwas jüngere Ehemann sein können.
Thiemo dachte, dass Elfriede Lambacher früher mit Sicherheit Format gehabt hatte. Das Blond ihrer Haare war zwar längst einem glänzenden Silbergrau gewichen, aber man konnte durchaus noch erkennen, was für ein Kaliber die Lambacher zu ihren besseren Zeiten gewesen war. Dafür hatte Thiemo einen Blick.
»Hallo! Du bist schon da?« Linda umschlang ihn mit ihren Armen.
»Ja, war ein dummer Tag«, sagte er.
Linda blickte erstaunt. Es kam selten vor, dass er Schwierigkeiten zugab. Sie sagte aber nichts, sondern holte ihm ein Bier aus dem Kühlschrank. »Willst du etwas essen? Die Suppe ist noch warm. Laurin hat schon ein Brot gehabt, ich bringe ihn gleich zu Bett.«
Bevor Thiemo antworten konnte, raste ihr Sohn um die Ecke. »Ich geh nicht in mein Bett, ich schlaf bei Mama!« Dabei sah er Thiemo herausfordernd an. Der nickte wortlos und nahm von Linda den Teller Suppe entgegen. Er würde also wieder auf dem Sofa schlafen.
Als Laurin endlich im Bett lag, nahm sich Linda auch ein Bier und setzte sich zu Thiemo auf die Couch. »Was war denn los, dass dein Tag so schrecklich war?«, fragte sie, während sie den Flaschenöffner ansetzte. Der Deckel löste sich mit einem Zischen.
»Gib mir auch noch ein Bier!«, lenkte Thiemo ab. Er nahm die Fernbedienung und begann sich durch die Programme zu zappen.
»Nimm von mir was, ich trink es sowieso nicht ganz.« Linda reichte ihm die Flasche. Die Melodie von Hinter Gittern ergoss sich in den Raum.
»Kannst du das nicht ausschalten? Ich habe dich nämlich was gefragt«, sagte Linda.
Thiemo hielt die Fernbedienung zwischen beiden Händen, als fürchte er, Linda könnte sie ihm entreißen, wenn er sie auch nur für eine Zehntelsekunde losließ.
»Hallo? Erde an Thiemo!«
Er stellte den Fernseher etwas leiser.
»Ist nichts Gravierendes«, sagte er leichthin. »Nur ärgerlich.«
»Ich weiß nicht. So klang das vorhin nicht.« Linda nahm einen Schluck Bier.
Thiemo wischte ihr vorsichtig mit der Seite des Zeigefingers den Schaum ab. »Ein anonymer Anruf. Bei uns soll eine ältere Dame getötet worden sein.«
»Oh.« Linda setzte sich auf. »Ist denn an der Anschuldigung was dran?«
»Ach was. Aber es ist einfach … blöd.« Thiemo wollte den Film wieder lauter stellen, aber Linda legte ihre Hand auf seine.
»Das könnte doch … Ich meine, du bist verantwortlich, oder?«
Thiemo schüttelte den Kopf. »Es stimmt nicht, überhaupt nicht und kann auch nicht sein.«
Erleichtert atmete Linda aus. Jetzt griff sie nach der Fernbedienung und Hinter Gittern verschwand hinter der schwarzen Blende. Linda schnappte mit den Lippen nach Thiemos Zeigefinger und er spürte ihre Zunge daran. Die Hände wanderten zu seiner Hose und krochen Finger für Finger in den Bund. Mit der anderen Hand löste Linda Knopf und Reißverschluss.
1968
Der Bus surrt durch das flache Land. Als der Junge erwacht, sieht er ein dunkelrotes Backsteingebäude mit weißen Fenstern. Im umzäunten Garten steht ein Spielgerüst.
Er muss Hausschuhe anziehen und wird in einen großen Speisesaal geführt. Es ist, trotz der vielen Kinder hier, äußerst leise. Er wird verstohlen gemustert. Seine Gruppe hat die Nummer zwei. Dort muss er auf einem harten Holzstuhl sitzen. Es sind auch ein paar Ältere dabei. »Die helfen mit und sorgen für Ordnung«, hat die Frau mit dem schwarzen Mantel gesagt. Sie hat eine dicke Nase. Der Junge bekommt warme Milch und ein Stück Brot mit Schmierkäse.
Sie holt mich bald wieder ab. Vielleicht schon morgen, denkt der Junge, als er einen Tritt gegen das Schienbein bekommt.
»Hier kommste nicht mehr so schnell weg«, sagt der Treter. Er ist einer von den Älteren. Einer von denen, die für Ordnung sorgen. »Manchmal kommen welche und nehmen jemanden mit. Du bist noch jung genug. Vielleicht haste Glück!«
»Meine Mutter kommt wieder und holt mich ab«, flüstert der Junge.
»Wer’s glaubt! Die hat dich doch abgehakt, sonst wärst du nicht hier.«
Der Junge schüttelt so heftig den Kopf, dass der ganze Körper vibriert und dabei die Milch umfällt. Ein harter Griff fasst seinen Oberarm und zerrt ihn in die Ecke des Speisesaales.
Erst als alle fertig mit dem Essen sind, darf er von dort weg. Sein Magen knurrt die ganze Nacht und sein Kissen hat einen nassen Fleck.
Mittwoch, 1.3.
Thiemo bahnte sich einen Weg durch die Stadt. Es war eine elendige Gurkerei von Jever zur Südstadt Wilhelmshavens. Bald konnte er von Neustadtgödens aus fahren. Wenn er die Strecke über Mariensiel wählte, ging es schnell, weil er die großen Straßen komplett vermeiden konnte.
Thiemo war jetzt ganz zu Linda gezogen, nachdem sich spontan jemand für seine Bude in Sande interessiert hatte und er sie mit all dem Abstand, den er gezahlt haben wollte, losgeworden war.
Die restlichen Möbel hatte er verschrottet. Sie würden eine neue Küche bekommen, auch das Wohnzimmer hatten sie schon bestellt. Die anderen Sachen wollten sie von Linda nehmen. Sie waren Laurin vertraut, darauf legte Linda Wert. Außerdem hatte sie so ihre Vorstellungen, wie ein Möbelstück beschaffen sein musste, um keine schlechte Aura auszustrahlen. Was verstand er denn schon von diesem Spinnerkram. Aber es war ihm egal, schön waren die Möbel von Linda ja. Wenigstens stand sie nicht auf Schnörkel und Troddeln.
Mit dem Kleinen lief es auch etwas besser. Hin und wieder schlief er jetzt sogar in seinem Bett. Thiemo hatte die vage Hoffnung, dass Laurin ihn langsam akzeptierte.
Das Pflegeheim lag, von der Sonne angestrahlt, im Morgenlicht. Thiemo war froh, sich für die Leitung dieses Heimes entschieden zu haben. Es war zwar eine große Verantwortung, allein schon wegen der Größe des Hauses und der Anzahl der Mitarbeiter. Doch es war einfach schön hier und er konnte seine Vorstellungen von optimaler Altenbetreuung durchsetzen, auch wenn er an der Pflege selbst nicht mehr beteiligt war.
Die Sache Lambacher schien wohl im Sande zu verlaufen. Gut, dass er das nicht an die große Glocke gehängt hatte, obwohl es durchaus zum Personal durchgesickert war. Aber nachdem der Kommissar noch einmal da gewesen war und ihm mitgeteilt hatte, dass die Anschuldigungen offensichtlich haltlos waren, kehrte in den Abteilungen wieder Ruhe ein.
Thiemo grinste. Linda, die gar nichts damit zu tun hatte, war besonders erleichtert gewesen. Sie hatte die Sache als ganz böses Omen gesehen. Linda dachte so. Thiemo fand, dass sie sich zu sehr mit Schicksal, Aura und solchen Dingen beschäftigte und hoffte, sie würde in der neuen Umgebung damit aufhören. Es war ihm etwas unheimlich. Er wusste, dass sie damals in ihrer Zeit in Köln damit begonnen hatte. Wahrscheinlich war sie in ihrer Gutgläubigkeit diesem Spinner aufgesessen, hatte sich nicht nur das Kind machen, sondern auch noch das Hirn vergiften lassen. Es würde hier in ihrer alten Heimat sicher bald besser werden. Er war da, also brauchte sie solche Sachen nicht mehr.
Thiemo schaute optimistisch in die Zukunft. Er hatte alles im Griff.
Der Tod des Drachen war weiß Gott kein böses Omen für ihre Zukunft. Hätte Linda die Lambacher gekannt, würde sie so etwas mit Sicherheit nicht denken.
Thiemo und die zuständigen Schwestern waren pflichtbewusst zur Beerdigung erschienen und hatten Hubert Lambacher ihr ehrliches Beileid ausgesprochen. Es war ein sonniger Wintertag gewesen, der eher gute Laune als Trauerstimmung ausdrückte. Während sich die Sonne funkelnd in den Raureifkristallen brach, wurde der Sarg in die Erde gelassen. Die Trauergemeinde war denkbar klein gewesen, die Lambachers hatten kaum Familie und scheinbar keine Freunde gehabt. Die paar Gesichter waren wahrscheinlich Kollegen von Hubert Lambacher, die sich verpflichtet gefühlt hatten, ihm beizustehen.
Der Mann war jetzt ganz allein. Thiemo fragte sich, was Lambacher nun mit seiner vielen Freizeit anfangen würde. »Wahrscheinlich denkt er sich jetzt so richtig fiese Mathearbeiten aus«, dachte er und parkte sein Mercedes-Cabrio elegant in der für ihn vorgesehenen Lücke.
*
Tanja Wildbruch hatte gerade eine Führung durch die Salzwiese gemacht. Ihre blonden Haare hatte sie unter ein buntes Tuch gezwängt, und sie scherzte mit einem Mann, der neben ihr die Straße herunterlief. Der Rest der Gruppe folgte in kurzem Abstand.
Vor Tanjas Wohnung, die in einem Haus gleich unterhalb des Deichfußes lag, blieben sie und der Mann stehen. Er gab ihr die Hand, hielt sie einen Augenblick länger fest, als es nötig war. Dann beugte er sich nach vorn, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Es musste ein guter Witz gewesen sein, beide lachten lauthals los.
Hubert Lambacher stand nicht zum ersten Mal mit seinem schwarzen Golf auf dem Parkplatz am Fußballplatz in Cäciliengroden und beobachtete die Altenpflegerin.
»Naturführungen«, dachte er. »Dabei hat sie wahrscheinlich den Mord an meiner Mutter geplant.«
Hubert Lambacher hatte nachgeforscht. Tanja Wildbruch hatte an dem besagten Nachmittag Dienst gehabt und war für seine Mutter zuständig gewesen. Und die hatte sich oft über diese impertinente Pflegerin beklagt. Tanja sei arrogant und unverschämt, ihr fehle jeglicher Funke von Anstand. Hubert solle doch mal mit ihr reden. Das hatte er dann versucht, aber als die schöne Frau vor ihm gestanden hatte, war Hubert sich nicht mehr sicher gewesen, ob die Anschuldigungen seiner Mutter vielleicht nicht doch ungerechtfertigt waren. So hatte er Tanja nur um eine zusätzliche Tasse gebeten, die sie ihm – sichtlich genervt, weil er sie von der Arbeit abhielt – in die Hand gedrückt hatte.
Tanja zupfte sich jetzt das rote Tuch vom Kopf und ihr Pferdeschwanz wackelte dabei hin und her. Diese Frau war zwar schön, aber sie konnte ihn jetzt nicht mehr einlullen. Hinter ihrem Gesicht schlummerte die teuflische Fratze des Todes.
Ihr Chef, Thiemo Hanken, glaubte ihr wahrscheinlich alles, wenn sie mit ihren blauen Augen rollte und lächelnd die kleinen, ebenmäßigen Zähne freigab. Hubert Lambacher dachte, dass sie wahrscheinlich mit ihm schlief. Doch wie immer sagte er sich, auch das sei nur eine Hypothese. Denn zusammen gesehen hatte er sie nie. Aber die Frau hatte diesen gewissen Blick, das erkannte er sofort. Hubert verachtete solche Frauen. Sie nahmen sich die Männer, vergnügten sich und warfen sie dann weg wie faules Obst, das nicht mehr schmeckte. Er wusste schon, warum er zu den Professionellen ging. Oder die Liebespaare belauschte, die es in der freien Natur oder auf den Parkplätzen trieben. Davon gab es schließlich genug und er konnte so tun, als sei er dabei. Nicht, dass ihn diese Frauen weniger abstießen, aber er musste kein Gefühl investieren und wenn er nicht so konnte, wie er wollte, lachte keiner darüber.
Die Teilnehmer der Führung begannen sich zu zerstreuen. Nur Tanja unterhielt sich noch immer mit dem Typen. Sie würde ihn bestimmt mitnehmen in ihre Wohnung und dort … Hubert Lambacher merkte, dass ihn dieser Gedanke nicht kalt ließ.
Aber dann winkte der Mann Tanja zu und ging zu seinem Wagen. Sie verschwand rasch in ihrem Haus. Hubert Lambacher wartete noch und stellte sich vor, was sie jetzt in ihrer Wohnung tat. Wahrscheinlich stand sie unter der Dusche. Die Wassertropfen perlten an ihr ab, verloren sich erst in der Spur zwischen ihren prallen kleinen Brüsten und glitten dann zielstrebig in die dunkle Tiefe zwischen ihren Beinen. Ihre geschlossenen Lider zuckten unter der Wohltat des heißen Wassers und der Mund war leicht geöffnet, während ihre Hände den Schaum des Duschbades mit dem Wasser vereinten.
Hubert wandte sich ab. In Tanja Wildbruch schlummerte ein Hass, der sich unter ihrer Vollkommenheit verbarg, nur heimlich aus den Poren herausleckte, sich aber dann schnell zu einem tödlichen Fluss auswachsen konnte. Sie war eine Mörderin, eine Hexe! Nur er würde ihr widerstehen, sich nicht einwickeln lassen. Niemals. Huberts Hände zitterten, die Kapillare gehorchten nicht mehr und verfärbten seine Fingerkuppen binnen kürzester Zeit in ein gelbliches Weiß. Er rieb die schmerzenden Spitzen, bis er wieder Gefühl bekam, startete dann den Motor und fuhr aus dem Dorf hinaus.






