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1968
In der Nacht wacht er auf, weil seine Hose nass ist. Er traut sich nicht, nach der dicknasigen, schwarzen Frau zu rufen. Sie ist ihm unheimlich in dem schwarzen Mantel, der sogar das Haar bedeckt. In seiner Kirche haben die Frauen anders ausgesehen. Die, die ihm die Kekse gegeben haben.
Ganz vorsichtig schlüpft er ins Bad, zieht sich die Hose aus und klettert mit einem Handtuch wieder ins Bett. Aus Furcht, die anderen zu wecken, traut er sich nicht, etwas Trockenes aus dem Schrank zu holen, weil die Tür so quietscht. Die nasse Hose versteckt er am Fußende unter dem Laken, spürt die ganze Nacht das verräterische Knäuel. Es ist nicht gemütlich mit dem kratzenden Handtuch um den Po. Der Junge wälzt sich unruhig im Bett hin und her.
Schließlich schläft er doch wieder ein. Als er morgens aufwacht, liegt die Decke auf dem Boden. Die anderen Jungen stehen um sein Bett herum.
Sie lachen und ziehen das Handtuch weg. »Bettnässer! Der Neue ist ein Bettnässer!«
Der Junge ist froh, dass sie seinen Namen nicht sagen. So kann er sich einbilden, dass gar nicht er gemeint sei.
»Bettnässer, Bettnässer …« Die Töne gleiten wie Wellen auf und nieder, erst hoch, dann abschwellend und wieder ansteigend. Tückisch tragen sie dieses böse Wort, mit dem der Junge in der Mitte getroffen und verletzt werden soll. Weil er neu und angreifbar ist.
Der Junge schließt die Augen, taucht in den monotonen Gesang ein. Er flüstert leise die Worte seiner Mutter. »Ich komme und ich hole dich! Bald.«
Von dem Krach angelockt, kommt die schwarze Frau. Sie sieht den nackten Jungen im Bett. »Hast du an dir gespielt?« Der Junge schüttelt heftig den Kopf. »Du bist vier Jahre alt und so verdorben!« Die Frau zerrt ihn aus dem Bett und stellt ihn unter die kalte Dusche. Das helle Lachen der Jungen, der Hohn und Spott ihrer Stimmen, schicken ihn in einen schützenden Tunnel. Nur noch entfernt kommen die gesungenen Worte bei ihm an. »Bettnässer, Bettnässer …«
Das kalte Wasser schlägt Risse in die schützende Hülle. Der Gesang hat aufgehört, einzig die Wassertropfen klatschen auf seinen Körper. Der Junge beginnt zu zittern.
Schließlich kommt eine andere Frau, die nach Pfefferminz riecht. Sie umwickelt ihn mit einem Handtuch und schließt ihn in die Arme.
Freitag 10.3.
»Gib mir mal den Kleister, ich muss hier noch etwas nachschmieren.« Thiemo hielt Linda die Hand auffordernd hin.
Sie merkte, dass seine Laune zum Schneiden schlecht war. Seine Bewegungen, die normalerweise ruhig und ausgeglichen, immer ein bisschen selbstgefällig waren, wirkten abgehackt und fahrig. Dazu stand sein Haar widerspenstig vom Kopf ab. Thiemo musste sich mehrfach mit der Kleisterhand hindurchgefahren sein.
Sie wollten in zwei Wochen einziehen und es war nicht sicher, ob sie es schafften, bis dahin mit jedem Zimmer fertig zu werden. Thiemo kam ständig so spät von der Arbeit, dass Linda ihn, außer auf der Baustelle, fast nur noch schlafend zu Gesicht bekam. Und die Wochenenden verbrachten sie zur Zeit mit irgendwelchen Malerarbeiten oder anderem Kleinkram. Meist bekamen sie sich irgendwann in die Wolle und Thiemo rannte vor die Tür, um sich zu beruhigen.
Linda reichte ihm den Quast und er verschmierte damit den Kleister an der Rückseite der Tapete.
»Wir sollten den Maler kommen lassen«, sagte Thiemo. Er riss wütend die ganze Bahn ab, weil sie sich oben schon wieder löste. »Mir fehlt einfach die Ruhe.«
»Ich glaub auch«, sagte Linda. »Ein Cappuccino wäre jetzt wohl nicht verkehrt!« Sie flüchtete in den Raum, der einmal die Küche werden sollte.
Es lief überhaupt nicht mehr gut in den letzten Wochen. Thiemo wurde unruhiger, je näher der Einzug rückte. Sie konnte nicht genau ausmachen, ob seine Nervosität mit der Baustelle an sich oder eher mit der unterschwelligen Furcht vor dem Freiheitsverlust zusammenhing. Er äußerte ein bisschen zu oft, dass sich in Zukunft doch einiges für ihn ändere. Dazu kam, dass es zwischen Laurin und Thiemo immer mehr Spannungen gab. Es war nicht gerade die große Freundschaft, so wie Linda es erhofft hatte. Sie waren oft eifersüchtig aufeinander. Ständig hatte sie das Gefühl, keinem der beiden wirklich gerecht zu werden. Dadurch wurde sie täglich fahriger, ließ bei Laurin viel zu viel durchgehen. Ständig war sie dabei, die schlechte Laune von Thiemo abzufangen und so zu drehen, dass kein Streit daraus hervorbrach. Immer wieder sagte sie sich, es sei nur für kurz, wenn sie erst eingezogen waren, würden sie alles irgendwie in den Griff bekommen.
Linda sah auf die Uhr. Es war bald Zeit, Laurin von der Tagesmutter abzuholen. Sie gähnte. Der Kaffee würde ihr gut tun. Sie stellte den Wasserkocher an und setzte sich für einen Augenblick auf ein Brett, das sie als Bank auf ein paar Kalksandsteine gelegt hatte.
Sie war so müde. Jede Nacht erwachte sie davon, dass Thiemo aufstand, um ein Glas Wasser zu trinken. Danach schlief er zwar wieder ein, wälzte sich aber unruhig im Bett hin und her. Sie lag dann den Rest der Nacht grübelnd neben ihm und lauschte seinem unruhigen Atem. Oft merkte Linda, dass er die Decke anstarrte, als bekäme er von dort eine Antwort auf all die Fragen, die sie nicht kannte.
»Ich denke, wir werden dort glücklich und es läuft besser«, hatte Thiemo eines Nachts flüsternd gesagt. Eher zu sich selbst als zu Linda, von der er annahm, sie schliefe.
Damit hatte er wohl seine ureigensten Gedanken das erste Mal in Worte gefasst, aber der Blick seiner Augen war weiter düster und schwer. Er wirkte gehetzt, eine Regung, die Linda an ihm nicht kannte und sie das erste Mal darüber nachdenken ließ, dass sie von ihrem Mann eigentlich nur wenig wusste.
Er sprach nicht viel über sich. Thiemos Vater führte als Steuerberater eine Kanzlei und seine Mutter, eine rundliche Frau, verblasste hinter der Dominanz ihres Mannes. Sie trat nur in Form von gebackenem Apfelkuchen in den Vordergrund, verschwand aber ebenso schnell, wie dieser gegessen wurde.
Thiemo schien nichts dabei zu finden. Er kannte es auch nicht anders, aber Linda kam es immer recht armselig vor. Seine Mutter war für sie das beste Argument, sich doch recht schnell wieder Arbeit zu suchen, damit sie sich nicht unter Zimtschnecken und Schweinebraten als die Frau an Thiemos Seite verlor.
Irgendwann stand sie in solchen Nächten dann meistens auf und sah nach Laurin, der sich inzwischen, trotz Thiemos Anwesenheit, dazu bequemt hatte, in sein eigenes Zimmer zu ziehen, statt in ihrem Bett zu übernachten. Erst sein gleichmäßiger Atem, der beruhigend durch den Raum zog, ließ Lindas Lider wieder schwerer werden. Danach konnte sie dann neben Thiemo endlich einschlafen.
Ein lautes Ratschen nebenan verriet, dass Thiemo eine weitere Tapetenbahn wieder von der Wand gerissen hatte. Er war einfach kein Handwerker.
Das Wasser für den Cappuccino blubberte gerade vor sich hin, als es klingelte.
»Hallo!« Sinje hielt Linda einen Korb mit Tassen und Tellern entgegen. Sie rümpfte die Nase. »Mensch, stinkt das hier nach nassen Tapeten und Kleister.« Sie schüttelte sich. »Brr, bin ich froh, dass wir das hinter uns haben.«
»Wir wollten euch mal was Gutes tun und haben frischen Kaffee und Butterkuchen mitgebracht«, sagte Hanno. Er stand etwas linkisch hinter ihr und trug eine Thermoskanne und eine Kuchenplatte. Das war typisch für die beiden: spontan aufkreuzen und Hilfe anbieten.
»Super! Wir wollten nämlich gerade einen Cappuccino trinken.« Linda trat beiseite, um Hanno und Sinje hereinzulassen.
»So ein Mist!«, hörten sie aus dem Wohnzimmer.
»Ist dein Gatte etwas ungeduldig heute?« Sinje stellte den Korb auf den Boden. Die Tassen schepperten leise. »Habt ihr kein Radio? Ein bisschen Musik würde seine Stimmung vielleicht etwas heben.« Sie ging zum Fenster, das vor Feuchtigkeit beschlagen war. Mit dem Zeigefinger malte sie das ›Haus vom Nikolaus‹. »Kannst du das auch?«, fragte sie.
Linda nickte. »Von früher, klar. Ich fange aber immer unten links an.«
Hanno feixte und stellte die Kuchenplatte aufs Brett. »Wo ist Thiemo?«
Linda deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer.
»Ich helfe ihm mal.«
Sinje baute mit Hilfe zweier Kartons und eines herumliegenden Brettes einen Tisch. »Ich weiß, wie anstrengend die Endphase ist. Nichts kann schnell genug gehen und die Männer sind dann einfach … seltsam.« Sie öffnete die Thermoskanne und goss etwas Kaffee in die Tassen. Dann hob sie den Deckel der Kuchenplatte. Der Geruch frisch gebackenen Butterkuchens wehte ihnen entgegen. »Schon besser als der Baustellengeruch!«, sagte sie zufrieden.
»Wann hast du denn den gebacken?«, staunte Linda. »Du hast doch den ganzen Tag gearbeitet!«
Sinje winkte ab. »Organisation ist alles«, strahlte sie. »Hatte am Morgen schon alles vorbereitet, der Backofen ist programmierbar …«
Von nebenan hörte man Thiemo wieder fluchen.
»Ich kenne ihn so gar nicht. So schlecht gelaunt.« Linda runzelte die Stirn.
»Im Augenblick ist nix mit Sunnyboy, was?« Sinje schnitt ein Stück Kuchen ab und reichte es Linda. »Komm, iss! Lass die beiden das mal machen. Seine Laune wird schon wieder besser, wenn der Spaß hier vorbei ist.« Sie nahm sich selbst auch ein Stück. »Hanno ist jetzt in seinem Element«, sagte Sinje kauend. »Es gibt einfach nichts, was er lieber tut, als den Retter zu spielen. – Ganz schön nervig manchmal.«
»Musst du heute nicht mehr arbeiten?«, fragte Linda.
»Nein, habe frei. Und Hanno hat Schlechtwetter!« Sinje kaute bereits am nächsten Stück Kuchen.
»Haben die Männer denn bei solch einem Wetter nachher überhaupt Training?« Linda sah auf die Uhr. Freitagabends nahm es Laurins Tagesmutter immer sehr genau.
»Die trainieren immer. Fußballer eben« sagte Sinje. »Solange sie nur trainieren …«
Linda sah auf und entdeckte in Sinjes Gesicht zum ersten Mal etwas Nachdenkliches, das so gar nicht zu ihrem fröhlichen Gemüt passte. »Wie meinst du das?«
»Ach, nichts. Männer eben.«
»Du meinst, Bier trinken in der Kneipe und so?«
Sinje nickte schnell und Linda dachte für den Hauch des Moments, dass ihre Nachbarin vielleicht auch noch etwas anderes für möglich halten könnte. Doch sie wehrte die Vermutung ab. Sinjes Andeutung sollte sich nicht in ihrem Gehirn einnisten wie eine Schlange und womöglich, wann immer es ihr beliebte, wieder zum Vorschein kommen, um das Vertrauen, das Linda in ihren Mann hatte, zu vergiften.
»Wenn Hanno Thiemo jetzt ohnehin noch die halbe Stunde hilft, bis sie zum Fußball müssen, kann ich ja ohne schlechtes Gewissen losfahren, oder?« Linda zuckte mit den Schultern. »Ist immer viel Organisation mit einem Kind.«
»Sei froh, dass du eins hast«, sagte Sinje und verschlang ein weiteres Stück Butterkuchen.
1969
Sie ist nicht zurückgekommen. Der Treter hat gesagt, wahrscheinlich sei sie eine Nutte, die dürften ihre Kinder nicht behalten. Seine Mutter sei auch so eine. Bumst mit jedem für viel Geld. Er sei ein Wechselbalg von irgendeinem idiotischen Freier, der die Gummibarriere durchbrochen hat. »Du bist eben ein Nichts in so einem Spiel«, sagt er.
Der Junge nickt. Er hat keine Ahnung, was eine Nutte ist, aber der Treter hat sicher recht. Er weiß alles.
Manchmal macht er mit den Jungen seltsame Sachen auf dem Klo. Der Junge hat Angst, vor allem, als der Treter meint, demnächst sei er dran. So ein fünfjähriger Hintern hätte was.
Er ist aber nie dran, weil er Schmiere stehen muss. Dabei hört er komische Geräusche, manchmal ein leises Weinen. Dann wird der Treter wütend, schlägt zu. Der Junge legt seine Hände an die Ohren und hält die Klappe. Es ist besser, still zu tun, was der Treter sagt. Einfach nicht auffallen, das machen, was ihm befohlen wird. Der Treter ist schon vierzehn und der Älteste hier. Er sorgt für Ordnung, hat die schwarze Frau gesagt.
»Irgendwann schnapp ich mir eine der Nonnen, irgendwann«, lacht der Treter, nachdem er mit zwei von den kleineren Jungs im Klo gewesen ist. Sie wischen sich verstohlen die rotgeränderten Augen, verschwinden schnell und lautlos, als seien sie nie da gewesen.
»Du machst deine Sache gut, heißt von jetzt an Schmierlapp.« Der Treter klopft dem Jungen leicht auf die Schulter. »Schmierlapp. Von Schmiere stehen.«
Der ist glücklich. Bislang ist er wie ein Chamäleon durch die Räume geschlichen, hat versucht, vor allem dem Treter nicht aufzufallen, aber jetzt ist er wer, hat eine Identität. Er hat einen Namen. Jeder, der hier jemand ist, hat einen Namen. Nicht den, den die Schwestern und Pfleger benutzen, sondern einen besonderen, einen, der die Jungen erst dazugehören lässt. Und den der Treter erfunden hat.
Es ist die erste Nacht, in der der Junge nicht ins Bett macht und durchschläft.
Montag, 20.3
Der letzte Möbelpacker hatte soeben das Haus verlassen. Linda ließ sich auf eine der Umzugskisten fallen und sah sich um. Es würde dauern, bis sie in dem neu gebauten Haus so etwas wie Atmosphäre geschaffen hatte. Noch gehörte es nicht wirklich zu ihnen. Sie würde es heimlich nach ihren Vorstellungen polen, aufpassen, dass alle positive Energie gut fließen konnte. Leicht würde es nicht werden, das vor Thiemo geheim zu halten. Wenn er mitbekam, dass sie das Haus unter diesen gewissen Gesichtspunkten einrichtete, würde er vermutlich sauer werden, wie immer, wenn es um das Thema ging. Er hatte einfach kein Verständnis dafür. Es war der einzige Punkt, an dem sie jedes Mal richtig aneinandergerieten. Linda konnte sich auch nicht erklären, weshalb. So schlimm war es ja nun nicht.
Für Thiemo gab es nun mal kein »Dahinter« im Leben. Dabei war es so wichtig, in einer guten Atmosphäre zu leben. Linda seufzte leise und dachte dann an das kurze Gespräch, das sie nach langer Zeit mal wieder mit ihrem Vater geführt hatte.
»Das dauert, bis ein Haus richtig zu einem gehört, Linda«, hatte er am Telefon gesagt. »Ich weiß noch, wie es bei uns damals war, als wir eingezogen waren. Mit dir als Säugling.« Dann hatte er geschwiegen und kurz danach aufgelegt. Weil ihn die Erinnerung an Lindas Mutter übermannt hatte und er deshalb nicht mehr sprechen konnte. So endeten ihre Gespräche immer.
Sie hatte immer schon das Gefühl gehabt, sie sei für ihren Vater eine Konkurrenz um die Gunst der Mutter. Er hatte Linda oft in ihr Zimmer geschickt, wenn sie sich nach seiner Ansicht zu lange miteinander beschäftigt hatten. Das war ein Grund für sie gewesen, nach Köln zu gehen. Sie wollte weg von ihm und seinen Eifersüchteleien. Von allein wäre sie niemals wieder zurückgekommen. Auch nicht nach Mutters Tod.
Denn in Köln hatte es aufgehört, dieses seltsame Gefühl, anders zu sein. Etwas zu vermissen und gleichzeitig in Panik zu geraten, weil sie dachte, jemand sei hinter ihr her. Martin, Laurins Vater, hatte damals gemeint, es läge sicher daran, dass sie mit ihrem Vater in solcher Konkurrenz gelebt hatte. Linda wusste nicht, ob es stimmte, aber die Distanz zu ihrem Vater hatte ihr mehr als gut getan. Dank Martin hatte sie gelernt, mit Ängsten umzugehen. Sie hatte ein gesundes Bauchgefühl entwickelt, gelernt, positive Energie für sich zu nutzen. Die Zeit in Köln war zu Anfang ganz leicht, ganz einfach gewesen. Gemeinsam hatte sie mit Martin die Schwangerschaft erlebt, die Geburt von Laurin und seine ersten drei Jahre.
Aber dann hatte Martin eine andere gehabt, eine Göttin, wie er sich ausdrückte. Von da ab kannte er Linda und Laurin nicht mehr. Ein großer Freundeskreis existierte nicht, sie hatte zu eng in Martins Radius gelebt.
So war sie doch nach Jever zurückgekehrt, wo sie ihren verbitterten Vater vorgefunden hatte, der ein Nichts ohne ihre Mutter war. Seit ihrem Tod brachte er das Gespräch immer wieder auf sie und verharrte mit seinen Gedanken genau dort, wo er vor drei Jahren stehen geblieben war: an ihrem offenen Grab.
Linda schaute auf die Uhr und hoffte, dass Thiemo gleich kommen würde, um sie beim Auspacken zu unterstützen. Es war nicht gut, wenn sie grübelte. Aber das kam halt, wenn man so viel allein war. Thiemo war noch immer angespannt und gereizt. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie das größte Chaos erst allein bewältigte. Obwohl es schon seltsam war, dass Thiemo sich am Tag des Umzuges nicht frei genommen hatte.
Wenn sie nur trainieren … Linda war für einen Augenblick wütend auf Sinje, die mit diesem einen unbedachten Satz Misstrauen gesät hatte, wo Linda vorher keins gekannt hatte. Aber Sinje war so, das hatte Linda schon festgestellt. Sie liebte es, vage Andeutungen zu machen, die in der Regel haltlos waren. Ansonsten kam Linda mit ihr gut aus. Immer, wenn es Schwierigkeiten gab, waren Sinje und Hanno zur Stelle, nahmen ihr Laurin ab oder packten ohne Worte mit an.
Trotzdem wünschte sich Linda jetzt Thiemo an ihre Seite.
»Es wird später heute«, hatte er vorhin gesagt. »Viel Ärger hier, aber ich will tun, was ich kann.«
Linda stand auf und versuchte in der Küche etwas Essbares zu zaubern. Das war mit einem jammernden Fünfjährigen am Bein gar nicht so einfach.
In der elektrischen Kühlbox fand sie etwas Käse und in der einen Küchenkiste eine Flasche Dornfelder, etwas Apfelsaft und ein Baguette zum Aufbacken. Klang gut, nur wurde der Backofen erst morgen angeschlossen. So hatte sie die Wahl, entweder pappweiches Baguette zu essen oder Sinje schon wieder um einen Gefallen zu bitten.
Es klingelte. Laut und schrill. An diese Klingel musste sie sich erst noch gewöhnen. In Jever hatte sie einen Gong gehabt, der weich und dezent darauf hinwies, dass sich Besuch ankündigte. Sie hätte darauf achten sollen, hier auch so einen zu bekommen; nun war es zu spät.
»Willkommen im neuen Zuhause!« Die Nachbarfamilien standen vor der Tür. Sie waren dabei, einen Kranz aufzuhängen, und überreichten ihr ein kleines Säckchen Salz und etwas hartes Brot.
»Das ist ja toll, aber … ich kann euch gar nichts anbieten!« Linda zuckte mit den Schultern und lächelte die Meute verlegen an. »Ich könnte jetzt den Pizzaservice anrufen und ihn bitten, eine Flasche Grappa mitzubringen …«
Die Frauen der Nachbarn hoben abwehrend die Hände.
»Aber ich glaube, da hier noch das totale Chaos herrscht, dass ich mich jetzt einfach bedanke und …«
In dem Augenblick quetschte Laurin seinen blonden Kopf zwischen die Knie seiner Mutter: »Was wollen die Leute?«, plapperte er. »Wir haben gar nix zu essen. Nur Pappebrot!«
Linda zuckte mit den Schultern. »Sag ich doch!«
»Macht nichts«, grinste Hanno. »Ich glaube, wir hätten euch vorwarnen sollen, aber ich dachte, Thiemo wüsste, dass am ersten Abend die Nachbarn mit einem Kranz kommen.«
»Thiemo ist gar nicht da«, sagte Linda. Nach dem betretenen Schweigen, das sie damit auslöste, wurde ihr die Absurdität ihrer Lage erst richtig bewusst. Ihr Ehemann wusste um die Sitten des Dorfes, sagte aber nichts und kreuzte an dem entscheidenden Einzugstag gar nicht erst auf.
»Er hat einfach so viel um die Ohren in der letzten Zeit«, versuchte Linda ihn in Schutz zu nehmen. Sie merkte selbst, wie hilflos und unehrlich ihre Worte rüberkamen.
»Ich bin übrigens Linda … wer mich noch nicht kennt …« Sie lachte, es klang schrill und sie wünschte sich eine dunkle Stimme, wie Sinje sie hatte. »Ich lade euch alle ein, wenn wir hier fertig sind. Versprochen.«
»Das ist doch ein Wort!«, rettete Hanno die Situation. Er schaute aufmunternd in die Runde. »Da können wir heute wohl verzichten, was?«
»Ich wusste echt nicht, dass ihr kommt. Ich habe nicht mal Schnaps hier – leider!«
»Macht wirklich nichts. Wenn du es nachholst! Wir wünschen noch einen schönen Abend!«
Linda schloss die Tür. »Thiemo hätte mich vorwarnen müssen!«, schimpfte sie leise. Dann hätte sie etwas dagehabt und sich nicht schon am ersten Tag vor den Nachbarn blamiert.
Linda ging zurück in die Küche und befand, dass das ganze Haus grässlich neu roch. Da half nur eines: Es musste in Besitz genommen werden, und zwar schnell. Obwohl sie zweifelte, dass sie diese stur in weiß gehaltenen Räume jemals als gemütlich empfinden würde. Sie hatte ein zartes Terracotta für die Wohnzimmerwand vorgeschlagen, aber Thiemo meinte, er wolle schließlich nicht in einem Tontopf wohnen. Diese warmen Farben hätte er schon den ganzen Tag auf der Arbeit um sich.
Nachdem Linda noch drei andere Variationen vorgeschlagen hatte und er ihr jedes Mal so dumm gekommen war, hatte sie sich dem Weiß gefügt und fühlte sich so manches Mal wie in einem ausgekleideten Sarg. Aber wenigstens hatte sie beim Aufstellen der Möbel freie Hand und konnte so eine gelungene Atmosphäre schaffen.
Linda räumte die Kiste mit den Tellern leer und stapelte sie in den Küchenschrank, als Laurin zu maulen anfing, weil er Hunger hatte und kein Pappbrot essen wollte. Das Baguette lag in Folie eingeschweißt vor ihr. Als sie es auspackte, war es biegsam wie Gummi.
»Pass auf, Laurin«, seufzte Linda. »Wir gehen zu Sinje und fragen, ob sie uns das Brot aufbackt.«
»Ich bleibe hier!«
»Kannst du das denn schon? Allein bleiben?«
Laurin nickte eifrig. »Bin doch schon groß!«
Linda schlüpfte in ihren blauen Blouson und stapfte durch die Baustraße.
Der Rohbau auf dem Nachbargrundstück war verwaist. Er wirkte trutzig und klobig. Vielleicht, weil die Vorderfront nur eine senkrechte Reihe kleiner Fenster über der Haustür hatte, die bislang außerdem nur dunkle Löcher in der Klinkerwand waren.
»Da kann später keiner reinschauen«, dachte Linda und warf einen Blick zurück. Laurin balancierte gerade über die Umzugskisten in der Stube.
Sinjes und Hannos gemütliches Haus war ein krasser Kontrast zu dem hohläugigen Bau nebenan, der in Linda immer ein leichtes Frösteln hervorrief. Sie hatte von den Menschen, die es bauten, noch nie etwas gesehen.
Hannos und Sinjes Garten war vollständig gezähmt. Noch hatte hier nicht der Alltag die Zügel in der Hand, der die zunächst akkurat und penibel angelegten Gärten meist doch recht bald in gemütlich angewilderte Gefilde übergehen ließ. Aber bei Hannos Pedanterie war das sicher nicht zu befürchten.
Probst stand auf dem Keramik-Klingelschild, das an der rotgeklinkerten Hauswand angebracht war. Darunter wanden sich in einem riesigen Blumenkübel Efeuranken zwischen blühenden Primeln. Später würde sich die untergehende Sonne rötlich in den Sprossenfenstern spiegeln.
Sinje und Hanno hatten es wirklich perfekt, aber sie waren auch kinderlos und mussten sich neben ihrem Beruf nicht um das Wohlergehen eines Fünfjährigen kümmern.
Als Linda die Klingel betätigte, ertönte ein angenehmes Summen.
Sinje öffnete. »Scheinst ja wirklich Sehnsucht nach uns zu haben. Wir haben uns doch eben erst gesehen. Habe leider nicht viel Zeit, muss gleich noch einkaufen.« Sie zuckte mit den Schultern und lachte. »Ebbe im Kühlschrank. Bei euch gab’s ja nichts!«
»Ich wusste ja nicht …«
»War ein Spaß. Was brauchst du denn?«
»Ich wollte eigentlich nur …« Linda trat einen Schritt zurück, aber von der Auffahrt aus war es ihr unmöglich, in eines ihrer Fenster zu blicken.
»Ich seh schon.« Sinje hatte das Paket mit dem Brot unter Lindas Arm entdeckt. »Na, gib schon her!«, sagte sie und griff danach. »Das mit dem Pappbrot hat Laurin ja laut genug verkündet. Ich backe es euch auf, kein Ding.«
»Danke.« Linda renkte sich noch immer den Hals aus, um nach ihrem Sohn zu sehen. »Ich komme gleich wieder und hole es mir, weil … Laurin ist allein und …«
»Hier in Neustadtgödens kommt keiner weg. Hier kennt jeder jeden und so klein ist er doch nicht mehr. Wenn du aus dem Erkerfenster im Wohnzimmer siehst, kannst du übrigens in eure Küche gucken.«
Linda atmete auf. Sie machte sich wirklich immer viel zu viele Sorgen um Laurin.
Sinje hielt ihre langen Locken mit der einen Hand nach hinten, als sie das Brot in den Backofen schob, der jetzt leise vor sich hin summte. Sie richtete sich auf und warf das Haar noch einmal mit einer kräftigen Handbewegung zurück. »Nimmst es nachher einfach raus und ziehst die Haustür hinter dir zu, okay?«
»Das ist echt total nett. Ich bin völlig aufgeschmissen wegen des Essens«, sagte Linda.
»Brauchst du noch Wurst? Die habe ich nämlich da. Ich war vorhin noch beim Dorfschlachter und habe etwas geholt. Aber sonst … Wird Zeit, dass ich etwas besorge.« Sinje griff nach einem Stapel Klappboxen. »Also, wenn du was Wurstiges brauchst …«






