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Linda schüttelte den Kopf. »Das Brot reicht, ich habe noch Käse.«
Sinje schob ihr einen Stuhl hin. »Setz dich. Es dauert ja einen Moment, bis das Brot kross ist.«
Linda ließ sich auf den Korbstuhl gleiten und sah sich um. Die Küche war im Landhausstil eingerichtet, ganz anders als ihre hypermoderne Küche in Lackweiß mit anthrazitfarbener Arbeitsplatte.
Sinje und Hanno hatten terracottafarbene Wände und Linda fand es gar nicht schlecht, in der Wärme des Tontopfes zu leben.
»Gut, dass ihr jetzt endlich einzieht, dann wird alles ruhiger«, unterbrach Sinje Lindas Betrachtungen und zog ihre dunkle Winterjacke an. »Ich meine, Thiemo wird dann ruhiger. Der benimmt sich im Augenblick so gehetzt wie ein Hirsch bei der Treibjagd.«
Linda grinste, der Vergleich war nicht schlecht. Aber dann stand sie auf, ging zum Erker und suchte das Küchenfenster ab. Von Laurin war nichts zu entdecken.
»Der kann das schon, keine Sorge!« Sinje strich Linda über den Arm. »Ich weiß echt nicht, wo Hanno vorhin, nach dem Kranzaufhängen, noch hingefahren ist, also erschrick nicht, wenn er hinten durch die Tür kommt. Zu dumm, dass er sich nie abmeldet. Männer eben!« Sie nahm den Autoschlüssel vom Brett und ging nach draußen.
Linda setzte sich wieder an den Küchentisch und wartete. Das Summen des Backofens lullte sie ein. Erst jetzt merkte sie, wie schläfrig sie war, wie sehr die letzten Wochen sie mitgenommen hatten. Fast war Linda versucht, den Kopf auf den Tisch zu legen und einfach abzutauchen. Dann siegte doch ihre innere Unruhe. Sie sprang auf. Am liebsten wäre sie kurz nach Hause gelaufen, wegen Laurin, aber Sinje hatte recht: Es wäre albern.
Sie sollte lieber den kurzen Moment der Ruhe und Entspannung genießen. Hektik hatte sie in den nächsten Tagen und Wochen noch genug. Linda warf einen Blick aus dem Fenster.
Die Sonne färbte das umliegende Brachland jetzt in einem schönen Rot. Es schien, als habe sich der Tontopf aus Sinjes und Hannos Haus über ganz Neustadtgödens gestülpt, um den Ort an der Gemütlichkeit dieses Hauses teilnehmen zu lassen. Aber genau das erweckte in Linda ein seltsames Gefühl des Eingesperrtseins, eine Unruhe, die sie nicht erklären konnte. Sie sollte wohl aufhören, sich mit ihren Rutengängen und den anderen Sachen zu befassen. Vielleicht hatte Thiemo recht, sie steigerte sich dadurch in irrationale Ängste. Sie war jetzt erwachsen. Niemand verfolgte sie mehr. Ihre Mutter war tot und sie war für ihren Vater jetzt eher Trost als Konkurrenz. Es war alles in Ordnung. Alles gut.
Linda begann ruhig zu atmen und entspannte sich wieder.
Sie stand auf, wollte nach dem Brot schauen und sah, dass Sinje die Backtemperatur nur auf 50 Grad gestellt hatte. Kein Wunder, dass das Baguette nicht fertig wurde.
Linda stellte die Temperatur um, ging ins Wohnzimmer und schaute erneut aus dem Erkerfenster. Laurin winkte ihr fröhlich zu.
Als das Brot fertig war, holte Linda es mit den neben dem Ofen liegenden Topfhandschuhen heraus und wickelte es in ein Geschirrhandtuch.
Linda trat vor die Tür. Alles war still. Das Rot der Sonne war von der Dämmerung abgelöst worden. Kein Mensch war mehr in den Straßen. Dieses Dorf schien mit der Sonne schlafen zu gehen. Es war noch nicht mal richtig dunkel und doch hatte die nächtliche Schwermut sich über die Häuser gelegt und das leise Summen der nicht weit entfernten Bundesstraße wirkte wie ein Schlafgesang. Linda sog die Luft ein, die hier klarer als in Jever zu sein schien, wo oft der Hopfengeruch der Brauerei durch die Straßen zog, den sie nicht mochte.
Sie hastete an dem Rohbau vorbei und empfand beim Anblick des grellen Lichtes, das Laurin in ihrem Haus eingeschaltet hatte, eine Kälte, die sich mit dem Begriff »Zuhause« nicht vereinbaren ließ. Linda drückte das warme Brot an sich.
*
Die Sonne war noch am Himmel und das Geschrei der Möwen forderte Tanja Wildbruch auf, sich noch einmal vom Sofa zu erheben und nach draußen zu gehen. Es war ein zu schöner Abend, um ihn vor dem Fernseher zu verbringen. Das hatte auch später noch seinen Reiz.
Wenn Tanja frei hatte, machte sie oft so spät noch einen Spaziergang durch die Salzwiesen im Groden. Sie liebte die Nähe des Meeres, nur umgeben von den Seevögeln und den seltsamen Pflanzen, die es auf der ganzen Welt nur hier gab. Am liebsten hatte sie den Geruch des Strandwermutes, dessen Duft so einzigartig in der Nase brannte, wenn man eines der silbrigen Blätter zwischen den Fingern zerrieb. Und der Friedhof der Wattentiere unter der Strandsalzmelden war eben auch ein Geheimnis, das nicht jeder kannte.
Sie hatte es einmal mit … – Tanja zuckte mit den Schultern. Nicht an ihn denken. Nie mehr. Es war vorbei und das war auch gut so. Sie hatte die Nase von männlichen Wesen seitdem gestrichen voll. Ihr Glaube an die große Liebe war von ihm zerstört worden. Am Ende hatte sie allein und völlig blamiert dagestanden. Sie hätte nie geglaubt, was für menschliche Abgründe dieser Mann barg. Zunächst war er der große Charmeur gewesen. Er hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Aber je länger sie zusammen gewesen waren, desto stärker hatte er sich verändert. Manchmal hatte Tanja fast Angst vor ihm gehabt. Am Ende hatte er sie wie ein abgebranntes Streichholz fallen lassen und in den Boden getreten.
Aus lauter Panik, dass sie irgendwem von ihrem Verhältnis erzählen könnte, hatte er sie damals mit nächtlichen anonymen Anrufen bombardiert und auf der Arbeit so lange bedroht, bis sie nur noch ein Nervenbündel gewesen war.
Sie hatte sich verändert seitdem. Tanja war ängstlicher geworden und vorsichtiger. Sie hätte gleich weggehen sollen, damals. Einfach weg und vergessen. Aber es hatte gedauert, bis sie ihre Lähmung überwunden hatte und in der Lage war, sich mit der Zukunft und dem, was sie wirklich wollte, auseinanderzusetzen. Das Einzige, was sie sicher wusste, war, dass sie in jedem Fall an der See bleiben wollte; schon des Wattenmeeres wegen.
Tanja atmete durch. Sie hatte letzte Woche eine Zusage von einem Altenheim in Husum bekommen und ihren Job im Pflegezentrum gekündigt. Im Juni würde sie weggehen.
Sie flocht die blonden, langen Haare zu einem Zopf und schlüpfte im Keller in ihre hohen Gummistiefel. Der Parka und das Fernglas hingen griffbereit am Haken. Als sie durch das Treppenhaus nach draußen ging, hörte sie in ihrer Wohnung das Telefon klingeln und blieb stehen.
Sie hatten vor ein paar Tagen wieder begonnen, diese Anrufe. Wie damals schellte das Telefon mitten in der Nacht. Wieder dieses lautlose Innehalten, als stünde die Welt für diesen einen Moment still – um nach dem Begreifen, dass sich am anderen Ende der Leitung ein Mensch an ihrer Angst ergötzte, ein erschreckendes Getöse in ihrem Inneren auszulösen.
Oft genügte eine unerwartete Bewegung hinter ihr, diesen Schrecken auszulösen. Zu der Angst kam dann noch der Ärger bei der Arbeit. Wenigstens hatte sich diese Anschuldigung wegen der alten Lambacher als haltlos herausgestellt.
Tanja atmete tief ein. Es war gut, dass sie sich endlich traute, neu anzufangen. Sie musste diesen Schlussstrich ziehen.
Bis sie fort konnte, zu einer neuen Arbeitsstelle, gaben ihr die Einsamkeit und die Ruhe am Saum des Meeres Halt. Hier konnte sie sich beweisen, dass alles normal war und seinen Gang ging. Hin und wieder machte sie auch Führungen. Anderen Menschen die Schönheit dieser Landschaft näherzubringen, war eine erfüllende Aufgabe neben ihrem Job.
Tanja sog die salzige Luft tief ein. Sie hatte jetzt eine ganze Woche frei, brauchte keine Windeln zu wechseln, niemandem das Essen anzureichen und sich nicht mit Angehörigen auseinanderzusetzen. Es war ein guter Auftakt, heute Abend noch einmal hinauszugehen.
Tanja lief über den Deich und kletterte über das Holzgerüst, um auf die Salzwiesen zu gelangen. Die Sicht war noch gut, mit der Flut würde Nebel aufkommen. Das erkannte Tanja am Horizont, der schon in milchigem Weiß verschwamm. Aber jetzt am Abend hatte sie große Chancen, ein paar Vögel mehr im Deichvorland beobachten zu können. Das war Freiheit, das war Glück.
Sie lief auf dem ausgewiesenen Pfad. Um diese Zeit begannen die ersten Vögel zu brüten, da war es fatal, wenn man die Wege verließ. Denn so geschickt wie die Bodenbrüter des Wattenmeerraumes tarnte kaum ein Vogel sein Nest.
Tanja blieb stehen und nahm das Fernglas. Eine Schafstelze hob und senkte sich über der Rotschwingelwiese, flog dann weiter und ließ sich auf dem Zaun nieder. Es war friedlich hier. Um diese Zeit waren nur noch ein paar Hundebesitzer auf dem Deich, aber sie durften nicht hier herunter ins Naturschutzgebiet.
Tanja folgte dem Pfad. Sie hielt immer wieder an, um sich mit dem Fernglas umzusehen. In der Ferne gingen in Wilhelmshaven die Lichter an. Der Schornstein des Kohlekraftwerkes blinkte selbstgefällig über den Jadebusen.
Tanja ging weiter. Sie kam schließlich an den Wattsaum, wo sie mit den Stiefeln immer tiefer im Schlick versank. Es quatschte jedes Mal, wenn sie den Fuß anhob. Tanja suchte sich eine Quelleransammlung und stellte sich darauf. Noch schien das Wasser weit entfernt, aber schon bald würde es mit seiner ganzen ungezähmten Kraft durch die Priele schießen und das Watt überfluten. An der Kante der Salzwiesen würde die Nordsee heute aber nur lecken wie eine feuchte Zunge an einem süßen Eis. Tanja hatte es allerdings schon ein paar Mal erlebt, dass das Wasser bis an den Deich gekommen war, wenn der starke Wind die See in den Jadebusen gedrückt hatte. Die Kinder hier hatten die Auflage, sofort in den Schutz des Deiches zu kommen, wenn die Priele der Salzwiesen voll liefen. Denn dann würde es nicht lange dauern, bis das Meer die Wiese verschluckte. Aber heute war es windstill. Tanja sog noch einmal die klare Luft ein. Es tat gut, richtig tief durchzuatmen.
Eine Ansammlung von Kiebitzregenpfeifern war schon aus der Tundra eingetroffen und rannte am Wasser auf und ab. Daneben watschelten zwei Brandgänse und ein Rotschenkel bohrte seinen spitzen Schnabel immer wieder in das Watt.
Tanja schwenkte den Blick Richtung Eckwarden und war begeistert vom Bild der untergehenden Sonne, die im Nebel der Nordsee zu versinken schien. »Postkartenkitsch«, grinste sie.
Tanja harrte lange aus. Sie genoss die Rufe der Seevögel und das Alleinsein mit sich und dem Leben hier draußen.
Dann sah sie auf die Uhr. Es war spät geworden, sie musste sich auf den Rückweg machen. Wie immer hatte sie keine Taschenlampe dabei. Bei Einbruch der Dunkelheit war es nicht die wahre Wonne, durch das mit kleinen Gräben durchzogene Gebiet zurückzulaufen, weil der Weg dann nicht mehr gut zu erkennen war. Außerdem spürte sie schon die Feuchtigkeit, die sich durch alle Poren der Kleidung sog.
Das wehmütige »Tüüt«, des Rotschenkels trieb Tanja zur Eile. »Tjü-dü-dü!« Er flog über sie hinweg. Mit diesem letzten Flöten schienen die Salzwiesen zu verstummen und sich mit dem Nebelschleier, der mit dem aufkommenden Wasser auf die Küste zuwaberte, zudecken zu wollen.
Tanja ging einen Schritt schneller. Sie stolperte über einen kleinen Priel, der sich durch die Wiese gefressen hatte. Es raschelte neben ihr, und in der Ferne sah sie im verblassenden Tageslicht die Sumpfohreule auf der Jagd nach Wühlmäusen. Die hatte sie hier noch nie gesehen, aber ihr kurzer Warnruf war unverkennbar.
Tanja rappelte sich auf und wischte die schlickige Hand an der Hose ab. Sie griff nach dem Fernglas und versuchte, noch einmal einen Blick auf die Eule zu erhaschen, aber irgendwie gelang ihr keine scharfe Einstellung.
Die Stille über dem Deichvorland hatte mit einem Mal nicht mehr den beruhigenden Charakter, der sie sonst wieder und wieder hierher zog. Kein Schaf durchschnitt die Abendluft mit seinem Blöken, der Deich endete verwaist im weißen Nichts.
Am Zaun stand eine Gestalt, es war aber schon zu dunkel, um Genaueres zu erkennen. Wahrscheinlich war es ein Hundehalter, der seinen Köter wieder nah am Zaun rennen ließ. Es war immer das Gleiche mit ihnen, Tanja hatte deswegen schon häufig Stress gehabt. Sie sah sich noch einmal in Richtung Meer um. Der Nebel hatte die Salzwiesen hinter ihr völlig überflutet. Ihre Beine bewegten sich unwillkürlich schneller. Es war so still, dass ihr hektischer Atem wie das Stampfen einer Lokomotive wirkte.
Tanja stolperte über den nächsten Priel. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch den Fuß.
»So ein Mist!« Sie war wütend. Warum hatte sie diese Furcht bloß zugelassen? Es war bescheuert, hier in der Dämmerung unkontrolliert loszurennen. Es geschah ihr ganz recht, dass sie sich nun verletzt hatte.
Bevor Tanja aufzustehen wagte, bemühte sie sich erst, ihren Atem und das laute Schlagen des Herzens unter Kontrolle zu bekommen.
Nach einer Weile wurde sie ruhiger. Es war still bis auf das gelegentliche Rascheln der Mäuse und das unermüdliche leise Quatschen des nassen Bodens.
Tanja rieb sich den Knöchel. »Jetzt ist es gut, Tanja Wildbruch. Auf nach Hause!«, sagte sie laut und war froh, dass ihre Stimme wieder fast normal klang. Es war wirklich nicht mehr weit bis zum Zaun, sie konnte die Umrisse schon erkennen. »Einfach aufstehen und dorthingehen, du alberne Gans!«, forderte sie sich selbst auf.
Aber als Tanja sich gerade erheben wollte, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, die sie auf den Boden zurückdrückte.
*
Linda wurde unruhig. Und wütend. An ihrem ersten gemeinsamen Abend im neuen Haus saß sie allein zwischen den Umzugskisten. Laurin hatte drei Stücke des aufgebackenen Baguettes verdrückt, dazu ein dickes Stück Käse und war dann, nach einem Glas Apfelsaft, ohne Murren ins Nebenzimmer auf die Matratze verschwunden.
»Cool, Mama«, hatte er mit seiner heiseren Stimme gesagt, die schon fast nach Stimmbruch klang. »Ein Madratzenbett. Ist cooler als ein echtes Bett, weil nur die Madratze eben cool ist.«
Laurin liebte das Wort »cool« und mit dem »T« in der Matratze kam er nicht zurecht. Linda fand das Wort mit dem weichen »D« gesprochen eigentlich auch viel netter.
Als sie wieder heruntergekommen war, sah sie im Licht der Außenleuchte, dass Sinje ihre Einkaufskisten durch den Hauswirtschaftsraum ins Haus schleppte. Sie winkte freudig herüber, als sie Lindas Silhouette im Fenster entdeckte.
Linda musste schlucken. Überall sah das Leben einfach, geradlinig aus, nirgendwo holperte etwas. Ein völliger Friede rings um sie herum. Nur bei ihr waren kleine Ecken und Kanten zu sehen, die immer schärfer und schärfer wurden.
Linda ließ sich auf einen Sessel fallen, der schon ohne Folie im Wohnzimmer stand. Wahrscheinlich sah sie einfach zu schwarz. Es war halt nicht leicht für Thiemo, die neue Familie und seinen verantwortungsvollen Beruf zu vereinbaren. Sie sollte etwas mehr Verständnis aufbringen. Wenn Thiemo in einer halben Stunde immer noch nicht hier war, würde sie ihn anrufen und dann sehen, dass wirklich nichts Außergewöhnliches passiert war.
»Wenn sie nur Fußball spielen …«, hatte Sinje gesagt. Linda fiel ein, dass auch Hanno mit dem Wagen losgefahren war und Sinje nicht gesagt hatte, wohin.
»Wo Hanno sich rumtreibt, weiß ich nicht«, sagte Linda laut. »Aber Thiemo ist bei der Arbeit.« Sie nahm sich ein Glas Rotwein und machte es sich, so gut es ging, bequem. Draußen herrschte dichter Nebel, vielleicht konnte Thiemo auch einfach nicht so schnell fahren. Es war ein seltsames Wetter. Zuerst dieser blutrote Sonnenuntergang und dann diese dicke Suppe, die einen selbst im Haus fast ersticken ließ.
Linda musste eingeschlafen sein, denn sie fuhr erschrocken aus dem Schlaf, als sich eine Hand auf ihr Haar legte.
»Hallo, Spatz!« Thiemo gab ihr einen Kuss. »Es tut mir leid, dass es später geworden ist. Ich wollte dir so gern helfen, aber …« Er zuckte mit den Schultern.
Linda fand, dass er blass aussah. »Ärger?«, fragte sie und stand auf.
»Das Übliche, nichts Besonderes, aber es reichte halt, um nicht hier sein zu können. – Hast du noch was zu essen?« Thiemo ging in die noch unfertige Küche und machte den Kühlschrank auf. »Ein Stück Käse, ein Glas Erdbeermarmelade und das war’s. Lecker. Haben wir denn Brot?«
Linda nickte, stand auf und piekte mit dem Finger in die nun schon wieder weiche Kruste des Baguettes. »Pappbrot. War mal schön knusprig heute. Vor deiner Zeit.«
»Egal, ich habe nur noch Hunger.«
»Morgen gehe ich als Erstes einkaufen«, sagte Linda. »Kann ich ja hier im Ort machen. Es gibt hier ja eine Fleischerei und einen Bäcker.«
»Nicht nur das«, sagte Thiemo. »Es gibt auch einen kleinen Supermarkt, eine Bank und ein Porzellan- und Fahrradgeschäft.«
»Dann kann uns ja nichts passieren«, lachte Linda. »Zur Not kaufe ich ein Fahrrad.«
»Okay. Vielleicht brauchst du das nach der ersten gemeinsamen Nacht in unserem Haus«, grinste Thiemo. »Falls du damit entfliehen willst.« Er holte sich einen Stuhl, den er mit der Lehne nach vorn stellte, und ließ sich rittlings darauf fallen. Dann goss er sich auch etwas von dem Rotwein ins Wasserglas und lümmelte seinen Oberkörper über die Stuhllehne.
»Wir hätten das alles besser timen sollen«, sagte Linda, aber ihr war schon klar, dass auch das beste Timing nichts gebracht hätte, wenn Thiemo kurzfristig im Heim etwas erledigen musste.
»Wenn wir das Chaos hinter uns haben, dann werden wir schön mit dem Rad rumkurven und ich zeig dir alles«, sagte Thiemo. »Nur morgen muss ich dich wieder den ganzen Tag allein lassen. Wir haben ein paar Umstrukturierungsmaßnahmen vor und das Personal ist nicht so begeistert. Wirklich schlechtes Timing!«
»Hauptsache, wir vertimen uns nicht«, sagte Linda.
Thiemo zog sie zu sich heran und küsste sie auf den Mund.
Linda runzelte die Stirn. »Hast du getrunken?«
»Ja, den Wein hier«, sagte er lachend, setzte sich richtig auf den Stuhl und riss Linda auf seinen Schoß. Es störte ihn nicht, dass jeder ins Haus blicken konnte.
Linda wand sich aus der Umklammerung. Sie war sich sicher, dass dieser Alkoholgeruch nicht von dem halben Glas herrühren konnte, das Thiemo gerade getrunken hatte.
»Thiemo!« Er senkte den Blick. Nur kurz, aber Linda bemerkte es doch. »Thiemo, wo warst du?«
»Eine Mitarbeiterin hatte Geburtstag. Wir haben ein bisschen Sekt getrunken. Nach dem Dienst, natürlich. Im Dienst erlaube ich das …«
Linda sprang auf. »Du feierst Geburtstag und ich muss allein den Umzug hinbekommen? Thiemo Hanken, das ist eine miese Nummer!«
Linda merkte selbst, dass sie kurz vor der Explosion stand. Sie kannte ihren Mann wirklich nicht gut. Das war etwas, das sie ihm nicht zugetraut hätte. Thiemo hatte auf ihren Ausbruch noch nicht reagiert, er saß ganz entspannt auf seinem Stuhl und nippte noch einmal am Wein. Linda musterte ihn von oben bis unten. Den Anzug hatte er erst vor kurzem gekauft, es war einer der lässigen, weiten Sorte. Dazu hatte er wieder einen schrillen Schlips erstanden. Selbst, wenn Thiemo so rücklings auf dem Stuhl lümmelte, sah er doch aus wie einer, der es geschafft hatte. Erst die Ausbildung, dann das Studium, schließlich das Pflegezentrum. Linda dagegen saß an der Kasse eines Supermarktes, wenn sie nicht gerade Hausfrau war. Sie bohrte ihre Fingernägel in die Handinnenfläche und biss die Zähne so fest zusammen, dass es bis zu den Ohren schmerzte.
Thiemo hatte wieder sein unbekümmertes Gesicht aufgesetzt. Sein Mund lächelte breit und zog sich dabei bis zu den Ohrläppchen. Er schien sich wirklich keiner Schuld bewusst zu sein. Seine blauen Augen leuchteten Linda spitzbübisch an. Normalerweise war das genau die Mimik, mit der er sie stets zum Einlenken brachte. Heute verfehlte er sein Ziel.
Thiemo merkte es und hob abwehrend die Hände. »Ich bin dort der Chef, da kann ich nicht als Erster gehen.«
»Du kannst eine ganze Menge, Thiemo Hanken«, sagte Linda kühl. »Eine ganze Menge.« Sie drehte sich um und verließ die Küche.
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