Gespräche

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Kungs Name hatte in jener Zeit schon Klang genug, um es dem dortigen Fürsten wünschenswert erscheinen zu lassen, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Er hat verschiedene interessante Unterredungen über Staatsangelegenheiten mit ihm geführt. Auch hatte er Lust, ihn in seinen Diensten zu verwenden. Die Sache scheiterte jedoch an den Gegenvorstellungen des Ministers Yän. Kung wollte auch die Politik auf ethische Grundlage gestellt wissen. Yän hielt das für Utopie; Tsi war damals die erste Militärmacht im Lande. So erkaltete dann allmählich das Verhältnis. Der Fürst ließ verlauten, er sei zu alt und könne sich nicht mehr mit Reformplänen abgeben. Man wollte den Weisen aus Lu mit einem Ehrentitel und ausreichendem Einkommen abfinden. Kung war jedoch nicht gewillt, eine solche Sinekure anzunehmen. Er verließ Tsi und kehrte um eine Erfahrung reicher in seine Heimat zurück.
Dort wurde er von den herrschenden Adelsfamilien lebhaft umworben; aber er widerstand allen Versuchungen, in ihre Dienste zu treten, und wartete ruhig, bis seine Zeit gekommen war. Endlich kam es wieder zu einigermaßen geordneten Verhältnissen. Der alte Fürst war gestorben, das Haupt der mächtigsten Lehnsfamilie war ihm im Tode nachgefolgt. Der neue Fürst, der zur Regierung gekommen war, suchte die Dienste seines berühmten Untertanen, indem er ihm zunächst einen Kreis zur Verwaltung übergab. Kung war damals 50 Jahre alt, und nun beginnt die kurze, aber glänzende Zeit, die wir als seine Meisterjahre bezeichnen können, jene Jahre, da er Gelegenheit bekam, zu zeigen, was seine Prinzipien auf dem praktischen Gebiet der Staatsverwaltung zu leisten imstande waren. Es war eine glänzende Rechtfertigung. Es sind uns einzelne Züge aus seiner öffentlichen Wirksamkeit überliefert, die zeigen, mit welcher Umsicht und Energie er in unglaublich kurzer Frist in den verrotteten Verhältnissen, die er antraf, Wandel zu schaffen vermochte. Selbstverständlich tragen diese Überlieferungen in ihren Details legendarische Züge. Sie sind aber als Symptome für den Eindruck zu werten, den seine Wirksamkeit auf das Volksleben gemacht hat. Die hauptsächliche Quelle, aus der wir diese Traditionen übernehmen, sind die sogenannten Gia Yü, die, anfechtbar nach der Art ihrer literarischen Entstehung, immerhin altes Traditionsmaterial enthalten. Als er sein Amt antrat, herrschte Lug und Trug in Handel und Wandel. Das Verhältnis der Geschlechter war mehr als zweideutig, die Straßen waren unsicher. Nach drei Monaten war alles umgewandelt. Der Marktverkehr war musterhaft; all die kleinen Kniffe, womit man sonst die Waren täuschend herausgeputzt hatte, waren abgeschafft, die Beziehungen der Geschlechter waren geregelt, und das ging soweit, daß selbst auf den Straßen Männer und Frauen auf verschiedenen Seiten gingen – die Männer rechts, die Frauen links. Die Sicherheit des Verkehrs war so groß, daß niemand es wagte, verlorene Gegenstände für sich zu nehmen, sondern der Verlierer sie regelmäßig zurückerhielt. Auch die Verwaltungsangelegenheiten waren in bester Ordnung. Die Lasten der Steuern und Frohnden waren der Leistungsfähigkeit entsprechend verteilt. Die Toten wurden in allen Ehren bestattet, doch wurde verhindert, daß der Dienst der Toten auf den Lebenden laste. Aller unnötige Prunk bei Beerdigungen wurde vermieden, die Gräber durften nur auf unfruchtbaren Hügeln angelegt werden, keine Grabhügel wurden aufgeschüttet, keine Totenhaine nahmen dem Lebenden das Brot weg. In wenig Monaten war er soweit, daß, vom Ruf dieses Paradieses auf Erden angezogen, von allen Seiten die Bevölkerung herbeiströmte, um sich dort anzusiedeln, und die Fürsten der Umgegend sich bei Kung in Verwaltungsfragen Rat erholten. Wenn wir auch diese Legenden auf das Maß des Wahrscheinlichen reduzieren müssen, so war doch jedenfalls die Leistung Kungs so hervorragend, daß ihm sein Landesfürst einen Ministerposten übertrug: zuerst in der Verwaltung der öffentlichen Arbeiten, dann in der Justiz. Auch hier hatte er in kurzem glänzende Erfolge zu verzeichnen. Ein Schüler hat ihn einmal gefragt, worauf es in der Verwaltung eines Staates vorzüglich ankomme. Er antwortete: »Auf ein tüchtiges Heer, auf Wohlhabenheit des Volks und darauf, daß das Volk Vertrauen zu seinem Herrscher hat.« Der Schüler fragte weiter: »Wenn aber nicht alles zu erreichen ist, worauf kann man am ehesten verzichten?« »Auf das Heer«, war die Antwort. Als der Schüler noch weiter fragte, antwortete er: »Speise und Trank sind zum Leben notwendig, allein früher oder später muß doch jeder sterben; ohne Vertrauen aber ist es unmöglich, daß ein Staat auch nur einen Tag besteht.« Ein anderes Mal fragte ein Schüler beim Anblick einer zahlreichen Bevölkerung, was für sie getan werden müsse, um sie emporzubringen. »Bereichere sie«, sprach der Meister. »Und dann?« »Belehre sie.« Nach diesen Grundsätzen hat er sein Leben gestaltet. Er hat umfassende Anordnungen über die Ausnutzung des Ackerlandes getroffen und durch Versuche feststellen lassen, welche Pflanzen für die verschiedenen Bodenarten am geeignetsten seien.
Als Justizminister fängt er mit großer Energie an. Ein Vater verklagt seinen Sohn wegen Ungehorsams. Nun ist ja bekanntlich Pietät und Kindlichkeit das Grundprinzip in der Lehre des Konfuzius, und man hätte denken sollen, er werde den pietätlosen Sohn strenge bestrafen. Stattdessen nimmt er Vater und Sohn in Haft, ohne sich mit dem Fall weiter zu beschäftigen. Darüber befragt, gibt er zur Auskunft, daß der Ungehorsam dieses Sohnes mindestens ebensosehr der Fehler des Vaters sei, der es an der nötigen Belehrung habe fehlen lassen. Und erst als der Vater von seiner Klage absteht, läßt er beide frei. Dieses Beispiel erläutert, wenn es auch einem modernen Juristen noch so bedenklich erscheinen mag, die großzügige Art seiner Justiz. Er behielt dabei fortwährend Fühlung mit dem Rechtsbewußtsein des Volks und hat es durch diese pädagogische Handhabung der Gesetze soweit gebracht, daß die schlechten Elemente sich verzogen und die guten zur Ordnung und Besinnung gebracht wurden.
Noch interessanter vielleicht ist die Art seiner diplomatischen Tätigkeit. In der inneren Politik war das größte Übel die Terrorisierung des Fürsten durch die drei vornehmen Adelsgeschlechter. Deren Macht stützte sich vornehmlich auf die befestigten Städte, die sie inne hatten und an deren Mauern alle Wünsche des Fürsten sich brachen. Kung hat in der kurzen Zeit seiner Amtstätigkeit die politischen Verhältnisse so umsichtig auszunutzen gewußt, daß jene Geschlechter sich herbeiließen, ihre Mauern selbst zu schleifen, wodurch natürlich das Ansehen des Fürsten sehr gesteigert wurde.
In ähnlicher Weise erprobt er sich in der äußeren Politik: in der berühmten Zusammenkunft der Fürsten von Lu und Tsi bei Gia Gu. Der Fürst von Tsi erschien umgeben von der barbarischen Leibwache der Leute aus Lai, um den Fürsten von Lu zu überrumpeln und unschädlich zu machen, da ja dessen Ratgeber ein Gelehrter sei, der nichts vom Kriege verstehe. Kung hat die Erwartungen der Feinde bitter enttäuscht, indem er bei der Abreise von dem ganz modernen Grundsatz ausging, daß, wie man im Krieg die Werke des Friedens vorbereiten müsse, so auch für die Erhaltung des Friedens der sicherste Weg sei, wenn man zum Krieg gerüstet ist. Auf seinen besonderen Rat nimmt der Fürst eine militärische Bedeckung mit. Es ist uns eine interessante Schilderung des Zusammentreffens erhalten. Der Empfang war frostig. Dreimal macht der Fürst von Tsi den Versuch, seinen Gegner, den Fürsten von Lu, aus dem Wege zu räumen. Erst läßt er verkleidete Soldaten unter den Tönen der wilden Lai-Musik heranrücken, dann versucht er es mit Schauspielern, endlich sucht er ihn zu einem Gastmahl zu gewinnen, um seine Absichten bei dieser Gelegenheit zu verwirklichen. In allen drei Fällen sieht er sich in seiner Absicht von Kung erkannt, der mit Energie und teilweise unter persönlicher Lebensgefahr seinen Fürsten rettet und mit vollendeter Höflichkeit alle jene hinterlistigen Versuche zurückweist. Das Ergebnis dieser Zusammenkunft ist, daß der Fürst von Tsi dieser Überlegenheit gegenüber sich moralisch geschlagen fühlt und einige strittige Grenzgebiete an Lu herausgibt.
Aber lange sollte diese glänzende Zeit steigender Erfolge nicht dauern. Den Fürsten von Tsi ließen die Erfolge des Nachbarstaates nicht schlafen. Da er erkennen mußte, daß er dem staatsmännischen Geschick des Ministers nicht gewachsen war, so kam er auf eine andere Auskunft. Er sandte dem Fürsten von Lu eine Truppe von Schauspielerinnen zum Geschenk. Das wirkte. Der Fürst und seine Großen konnten sich diesen Genüssen nicht verschließen. Drei Tage wurde kein Hof gehalten, und alle Staatsgeschäfte ruhten, weil man dem Schauspiel zusah. Kung, der unbequeme Warner, wurde beiseite geschoben und auffällig vernachlässigt. Mit blutendem Herzen mußte er erkennen, daß seine Zeit vorüber sei. Er ging.
Und nun beginnen die späten Wanderjahre des Meisters, 13 Jahre lang ist er umhergezogen als Fremdling in den verschiedenen Staaten des damaligen China. Diese ganze Zeit lang suchte er nach Menschen, nach einem Menschen auf dem Thron, der Willensenergie und Beharrlichkeit genug besäße, gemeinsam mit ihm die Ideale der alten Zeit ins Leben einzuführen. Er hat vergebens gesucht. Zwar war er ein Mann von Ruf. Die Fürsten der Staaten, durch die er kam, sandten ihm meist Geschenke und waren gern bereit, mit ihm über dies und das zu reden. Aber weiter kam es nirgends. Hatte je ein Fürst im Sinn, ihn anzustellen, so fand sich sicher ein ungünstiger Beamter, eine lebensfrohe Favoritin, die es zu hintertreiben vermochten. »Ach, ich habe noch niemand gesehen, der die Wahrheit so liebt wie ein hübsches Gesicht!« ruft er einmal verzweifelt aus. Neben die Lauheit der Fürsten trat der Spott pessimistischer Philosophen, die fernab von dem Getriebe der Öffentlichkeit lebten, und die ihn verhöhnten, daß er noch immer meine, die Welt könne gebessert werden. Verschiedene Mal sieht er sich durch Mißverständnis oder Mißwollen in ernste Lebensgefahr gebracht. Einmal ist er am Verhungern, weil sämtliche Lebensmittel ausgegangen waren. Aber immer hält er sich aufrecht, und er läßt sich auch im tiefsten Unglück den Glauben an seine Bestimmung nicht nehmen. »Ich habe meinen Beruf vom Himmel, was können mir Menschen tun?« Mit diesem Wort tröstet er seine Jünger, als diese nach einem mißlungenen Anschlag auf sein Leben ihm erschreckt zur eiligen Flucht raten. Auf die Dauer konnte er sich dennoch dem Eindruck nicht verschließen, daß seine Zeit noch nicht gekommen sei. Vorübergehend hat er wohl den Gedanken erwogen, mit dem einen oder anderen energischen Aufrührer, die seine Dienste suchten, gemeinsame Sache zu machen und durch Umsturz des Alten die ideale Ordnung zu begründen. Auch wirft er einmal hin, daß er ins Ausland wolle – da in China kein Boden für seine Lehren sei – um unter den Barbarenstämmen des Nordens und Ostens eine neue Kultur zu gründen. Mehr als flüchtige Gedanken sind diese Stimmungen nie bei ihm geworden; dazu war er innerlich zu fest mit der chinesischen Gesamtkulturentwicklung verbunden, als daß er die Möglichkeit gehabt hätte, ein derartiges Abenteuer zu wagen. Leicht ist ihm die Resignation aber nicht geworden. Er sieht die Not der Zeit, er weiß in sich die Kraft, ihr abzuhelfen, und dennoch fehlt ihm die Möglichkeit, diese Kraft zu entfalten. Da reift in ihm der große Verzicht. Was er während seines Lebens nicht erreichen konnte, das will er als Erbe der Zukunft überliefern. Deshalb steigt in ihm die Sehnsucht auf nach seinen Jüngern. Zu ihnen will er wieder heim, um ihre guten Eigenschaften durch seine Anwesenheit zu vervollkommnen und so in ihnen einen Stamm von Getreuen heranzuziehen, die geeignet wären, seine Lehren dereinst auf die Nachwelt zu bringen. In diesem Zusammenhange kann man auch das Wort verstehen, in dem er es als seinen Beruf bezeichnet, zu beschreiben und nicht schöpferisch tätig zu sein, treu zu sein und das Altertum zu lieben. Endlich, nach langen Jahren in der Fremde, erreicht ihn der ehrenvolle Ruf, in die Heimat zurückzukehren, nachdem ein neuer Fürst dort auf den Thron gekommen war. Dort vollendete er das Werk, das er früher begonnen, und an dem er auch auf seinen Wanderungen immer gearbeitet hatte, die Festigung und Ausbildung der Schüler, die sich um ihn gesammelt. Allmählich wurde es einsam um den alten Mann, seine Schüler traten in ihre Ämter ein, mehrere mußte er auch vor sich ins Grab sinken sehen, so den hoffnungsvollsten von allen, den einzigen, der ihn ganz verstanden hatte, seinen Liebling Yän Hui. Das hat ihm fast das Herz gebrochen und ging ihm näher als selbst der Tod seines Sohnes. Sein Leben erlosch im 72. Jahre nach viel Arbeit, viel Mühe und viel Enttäuschung, aber ohne daß er sich hätte verbittern oder an seinem Ziel irre machen lassen.
In den letzten Jahren nach seiner Rückkehr in die Heimat hat er dann noch das Werk zum Abschluß gebracht, das seinen Namen mit der chinesischen Kultur unauflöslich verbunden hat: die Herausgabe der heiligen Schriften. Um die Bedeutung dieser Arbeit zu verstehen, muß man sich klar machen, daß er wie kein anderer in den Geist der alten Kultur eingedrungen war. Er war sozusagen im Besitz der Pläne dieses hohen und erhabenen Hauses. Er hatte sein Leben lang versucht, die zerfallenen Trümmer an der Hand dieser Pläne vor dem Untergang zu retten. Es ist ihm nicht gelungen. Niemand unter den Herrschenden hat seine Dienste hierfür begehrt. So mußte er den andern Weg einschlagen: Nachdem der alte Bau der chinesischen Kultur nicht mehr zu retten war, mußte man ihn dem Untergang überlassen. Was aber Kung vollbracht hat, das ist die Rettung der Baupläne dieser alten Kultur. Nach diesen Plänen konnte dann seinerzeit beim Erstehen eines neuen Herrschers aus den Ruinen des gesellschaftlichen Zusammenbruchs der Bau der chinesischen Kultur aufs neue errichtet werden.
Bei der Sammlung der Urkunden des Altertums ging er von diesem Gesichtspunkt aus. Es lag ihm nichts daran, eine aktenmäßige Darstellung des zufälligen Geschichtsverlaufs zu geben, nicht ein antiquarisches Interesse war es, das ihn bestimmte, sondern er gab die Urkunden der Vorzeit heraus, in einer Weise, daß daraus die Grundlinien der großen Kulturideen, die ihnen zugrunde lagen, hervorleuchten sollten. Mit diesem, seinem größten Werk schließt seine Lebensarbeit.
Es ist ohne weiteres verständlich, daß es sich für ihn nicht darum handeln konnte, neue Lebensordnungen ausfindig zu machen, vielmehr kam es ihm nur darauf an, die vorhandenen auf spätere, bessere Zeiten zu retten. Wir dürfen daher erwarten, daß er nur die Lebensordnungen der Dschoudynastie mit neuem Leben erfüllte. Das trifft auch durchaus zu. In seinem eigenen Leben war er bestrebt, diesen Lehren nachzuleben. Er hat nichts gelehrt, das er nicht auch in seinem Leben zur Darstellung gebracht hat. Bis in die kleinsten Züge hinein ist sein Leben ein Kunstwerk; darin beruht die Macht seiner Ideen, daß sie nicht bloß Gedanken, sondern Wirklichkeit waren. Die Grundfrage für ihn war die Lösung des Problems: Was ist zu tun, damit das Zusammenleben der Menschen so gestaltet wird, daß es den großen Gesetzen der Weltordnung entspricht und dadurch zum Glück der Gesamtheit führt? Um zwei Brennpunkte bewegt sich dabei alles: die Kultur der Persönlichkeit und die Gesetze des sozialen Lebens. Um die Welt in Ordnung zu bringen, dazu braucht es durchgebildeter Persönlichkeiten an der maßgebenden Stelle. Nur der vornehme Charakter (gündsï, im Text mit: »der Edle« übersetzt) kann wirklich Menschen beherrschen. Das Grundgesetz dieses Charakters ist die Gewißenhaftigkeit (dschung), ein Begriff, den wir mit dem Kant’schen Begriff der autonomen Sittlichkeit gleichsetzen dürfen, wenn auch zugegeben werden muß, daß die Form des Ausdrucks einen gewißen Anachronismus enthält. Das Verhältnis zu den andern Menschen ist »die freie Anerkennung ihrer Persönlichkeit, als eines dem eigenen Ich gleichgeordneten Selbstzwecks« (schu, das gewöhnlich fälschlicherweise mit Gegenseitigkeit übersetzt wird.)
Wie sehr Kung von allen eudämonistischen Begründungen entfernt war, geht aus der Stelle hervor, die sich in Lun Yü XV, 1 in Übereinstimmung mit Sï-ma Tsiäns Biographie Kungs findet. Als eines Tages auf der Wanderung infolge von Feindseligkeiten mächtiger Beamten die Lebensmittel so knapp wurden, daß die Begleiter vor Hunger krank wurden und nicht mehr imstande waren, sich zu erheben, da hielt sich Kung immer noch aufrecht, redete und las, spielte die Laute und sang, ohne sich niederschlagen zu lassen. Der Jünger Dsï Lu trat mit der Äußerung lebhaften Mißfallens vor ihn und sprach: »Muß der Weise auch in solches Unglück kommen?« Kungdsï antwortete: »Der Weise erträgt es mit Festigkeit, im Unglück zu sein, aber wenn ein gemeiner Mensch ins Unglück kommt, so kennt er keine Schranken mehr.« Dsï Lu errötete. Eine besonders charakteristische Parallelerzählung, die den zugrunde liegenden Gedanken noch deutlicher hervorhebt, findet sich bei dem Philosophen Sün dsï (Han schï wai tschuan, Kap. 7). Dsï Lu fragte, wie es möglich sei, daß der Meister in solches Unglück komme, vorausgesetzt, daß der Satz wahr sei, daß der Himmel den Tugendhaften durch Verleihung von Glück belohne und den Schlechten durch Verhängung von Unglück bestrafe. Kung antwortete: »Erstens dringen die Weisen nicht immer durch in der Welt. Die Geschichte hat das Andenken einer großen Zahl von Männern bewahrt, die durch ihre Tugend berühmt waren und dennoch ein tragisches Ende fanden. Das einzige, worüber der Mensch Meister ist, ist sein eigen Herz. Erfolg oder Mißerfolg hängt von den Umständen ab. Zweitens gibt es viele Fälle, in denen wir Menschen, die sich in verzweifelten Umständen befanden, späterhin zu der höchsten Bestimmung aufsteigen sehen. Man kann daher nicht sagen, daß äußeres Unglück immer ein Übel ist. Es ist häufig nur eine Probe, aus der der Charakter gestählt hervorgeht. Endlich haben die Zeitumstände, unter denen man lebt, einen großen Einfluß auf das Leben des Einzelnen. Wer unter einem weisen Herrscher zu den höchsten Ehren gelangt ist, würde vielleicht zum Tode verurteilt sein, wenn er am Hof eines Tyrannen gelebt hätte. Glück und Unglück sind daher in keiner Weise ein Maßstab für den inneren Wert eines Menschen.« Die vollständige sittliche Autonomie geht auch aus einer anderen Stelle hervor, wo es heißt: »Unter Wahrheit der Gedanken ist der Zustand zu verstehen, da auf sittlichem Gebiet Selbsttäuschung ebenso ausgeschlossen ist, wie auf natürlichem, wo jeder sich von einem schlechten Geruch abwendet, zur Schönheit aber sich hingezogen fühlt. Dies ist die wahre Selbstgewißheit. Deshalb achtet der Edle zumeist auf sich, wenn er allein ist, der Gemeine macht vor keiner Schlechtigkeit halt, wenn er unbeobachtet ist; trifft er mit einem Edlen zusammen, so sucht er sich zu verstellen, er verbirgt seine Schlechtigkeit und kehrt seine guten Seiten hervor, aber es nutzt ihm nichts, der andere durchschaut ihn bis auf Herz und Nieren. Das ist der Sinn des Wortes: der wahre Zustand des Innern drückt sich in der äußeren Erscheinung aus; darum achtet der Edle zumeist auf sich, wenn er allein ist.« Die Sache liegt tatsächlich so, daß für Kung nichts gut ist, denn allein ein guter Wille; und daß als Triebfeder für den Willen nichts anderes in Betracht kommt, denn allein die erkannte Pflicht.
Beruht nun die eine Seite der konfuzianischen Ethik auf dem denkbar einfachsten Grundverhältnis der absoluten Verpflichtung des Sittengesetzes ohne alle Rücksicht auf äußere Belohnung oder Strafe, so ist auch für das soziale Zusammenleben der Menschen auf ein möglichst einfaches Grundverhältnis zurückgegriffen – die Familie. Innerhalb der Familie haben alle Beziehungen etwas Natürliches, da sie schon durch die Bande des Blutes gefestigt sind. Die Familie bildet für Kung sozusagen die Zelle, auf der sich der gesamte Staatsorganismus aufbaut. Die menschliche Gesellschaft setzt sich für Kung nicht zusammen aus einzelnen Individuen, die einander unterschiedslos gegenüberstehen, und deren Beziehung höchstens durch utopische Theorien geregelt werden könnte. Er dagegen sieht in der menschlichen Gesellschaft einen fest gegliederten Organismus, in dem jedem Individuum seine bestimmte Stelle zugewiesen ist. Das ist der Sinn der berühmten fünf Beziehungen, die das sittliche Verhalten der Menschen zueinander regeln, der Beziehungen zwischen Vater und Sohn, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder, Fürst und Beamten, Freund und Freund. Dementsprechend ist für die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen in der Welt notwendig, daß zuerst die Familien in Ordnung kommen, auf Grund davon die Territorialstaaten und auf Grund davon endlich das Reich. Alles ist patriarchalisch gedacht, indem der Kaiser der Vater des Reiches ist, wie die Fürsten Landesväter sind und die einzelnen Bürger Familienväter. So rundet sich alles in wohldurchdachter Ordnung, und die so geeinigte Menschheit bildet mit Himmel und Erde zusammen die große Dreiheit der Grundprinzipien.
Jeder Geist braucht seinen Leib, ebenso braucht jede Gesinnung ihren adäquaten Ausdruck. Die Gesinnung der Ehrfurcht und Liebe, die allen diesen menschlichen Beziehungen zugrunde liegt, braucht ihre Form, durch die sie sich äußern kann. Diese rechte Form für die rechte Gesinnung, das chinesische »Li«, wird nicht in ihrer ganzen Tiefe erfaßt, wenn man darin nur Anstandsregeln oder äußere Zeremonien sieht. Diese Formen sind vielmehr moralisch bindend und geben die ästhetische Abrundung und Durchbildung des gesamten Lebens, sie sind Ausdruckskultur im höchsten Sinne des Wortes. Hand in Hand damit muß die Harmonie der gesamten Seelenstimmung gehen, denn nur ein tiefes und zugleich wohlgestimmtes Gemüt ist imstande, in all seinen Äußerungen Maß und Mitte zu treffen, ohne seine Grenzen zu überschreiten oder hinter dem Rechten zurückzubleiben. Diese Harmonie der Seelenstimmungen wird für Kung vorzugsweise erreicht durch die Pflege der Musik, die daher als Abschluß des gesamten Systems eine besonders große Bedeutung hat.
Sein Verhältnis zur Religion ist von dieser Betonung der ethischen Grundlagen des Menschenlebens aus zu verstehen. Er hat nicht die Absicht gehabt, an den überkommenen Religionsvorstellungen etwas zu ändern; er ist weit entfernt davon, der Skeptiker oder Agnostiker zu sein, den man unter Heranziehung einiger mißverstandener Stellen aus ihm hat machen wollen. Daß er mit Vorliebe statt des Ausdrucks Gott den Ausdruck »tiän« (Himmel) anwendet, hat seinen Grund darin, daß in jener Zeit der Ausdruck Gott oder höchster Herrscher in ziemlich weitgehendem Maß mißbraucht worden war. Er hat ein sehr starkes Bewußtsein seiner göttlichen Berufung gehabt, das in Zeiten höchster Not verschiedene Male zum Ausdruck kam. Vgl. Lun Yü Buch IX, 5: Als der Meister einst in Kuang in Lebensgefahr war, sprach er: »Ist nicht nach dem Tod des Königs Wen seine Kulturaufgabe mir zugefallen? Hätte der Himmel diese Kultur vernichten wollen, so hätte nicht ich, ein Sterblicher späterer Jahrhunderte, das Verständnis für diese Kultur erreicht. Wenn aber der Himmel diese Kultur nicht verloren gehen lassen will, was können dann die Leute von Kuang mir anhaben?« Zwar hat er nicht gerne über diese höchsten Probleme geredet, aus Furcht vor Profanierung; nur ganz gelegentlich erfahren wir ein Wort, das uns über den mystischen Zug des innersten Wesens, den er mit allen wahrhaft Großen gemein hat, Aufschluß gewährt. Vgl. Lun Yü XIV, 37: Der Meister sprach: »Ach es gibt niemand, der mich kennt!« Dsï Gung erwiderte: »Was heißt das, daß niemand den Meister kennt?« Der Meister sprach: »Ich murre nicht wider den Himmel und grolle den Menschen nicht; ich strebe nach Erkenntnis hier unten, doch dringe ich empor zu dem, was droben ist. Einer ist’s, der mich kennt, der Himmel.« Wenn er so in einsamem Streben den Problemen der Gotteserkenntnis nachging, so ist klar, daß ihm der abergläubische Kult der Götter der Masse, geboren aus Furcht und Hoffnung, aufs tiefste zuwider sein mußte. Als ihm einmal jemand eine Frage in Beziehung auf Wirkung und Ranghöhe von Laren und Penaten vorlegte, da schnitt er die ganze Erörterung ab mit dem Wort: »Nicht also, sondern wer gegen den Himmel sündigt, der hat niemand, zu dem er beten kann.« Vgl. hierzu auch die Stelle Lun Yü II, 24.
Dennoch hat er den Ahnenkult, den er vorgefunden hat, nicht nur bestehen lassen, sondern zusammen mit den Begräbnisriten in den Bereich der höchsten Pflichten der Pietät mit aufgenommen. Es braucht aber kaum gesagt zu werden, daß dieser Ahnenkult von allen niederen animistischen Vorstellungen vollständig frei ist. Er hat es ausdrücklich abgelehnt, über die Beziehungen des Opfernden zum Jenseits eine definitive Behauptung aufzustellen, und hat einen Schüler, der ihn über das Schicksal der Verstorbenen fragte, aufs Leben zurückverwiesen, als das Gebiet, das man zuerst kennen müsse, ehe man sich Gedanken über das Jenseits zu machen brauche. Welchen Sinn hat nun aber der Ahnenkult im konfuzianischen System? Man kann im Zweifel sein, ob man ihn überhaupt zur Religion stellen will, oder ob man ihn nicht besser unter die ethischen Verpflichtungen einreiht. Wie wir gesehen haben, ist die kindliche Ehrfurcht gegenüber den Eltern eine in der menschlichen Natur begründete absolute Verpflichtung. Deswegen muß sie einen adäquaten Ausdruck finden, unabhängig von den zufälligen Verhältnissen des Objekts dieser Ehrfurcht. Ebenso wie ein Sohn auch unwürdigen Eltern gegenüber zu dieser Ehrfurcht verpflichtet ist, in welchem Falle die Ehrfurcht sich zwar verschieden äußern wird, aber dennoch als Gesinnung dieselbe bleibt, so ist der Ahnenkult das Mittel, dieser Ehrfurcht einen entsprechenden Ausdruck zu verschaffen, auch über den Tod der Eltern hinaus, und ein Band zu bilden, das Vergangenheit und Gegenwart innerhalb des Kulturkreises der Menschheit verbindet. Darum hat Kung auch immer wieder betont, daß nicht der äußere Prunk der Begräbnisriten und Ahnenopfer irgendwelchen Wert habe, sondern daß alles von der rechten Gesinnung abhänge. Mit derselben Innerlichkeit hat er auch das gesamte System der Riten und geheiligten gesellschaftlichen Beziehungen zu durchdringen gesucht. Auf Schritt und Tritt begegnen wir Äußerungen, in denen aller Wert auf die rechte Gesinnung gelegt wird und die äußere Form nur als das zweite, weniger wichtige bezeichnet wird. Nichts ist darum verkehrter, als aus der Gewissenhaftigkeit, mit welcher er auch die äußere Form beachtete, ihm den Vorwurf des leeren Formalismus zu machen.






