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Sie spazierte auf St. Anton zu, ließ das hoch gelegene Wallfahrtskirchlein dann aber sein, machte mehr oder weniger eine Spitzkehre und nahm den gar nicht so kurzen Weg nach dem Nachbarort Garmisch.
Wie ein Magnet schien der Bahnhof auf sie zu wirken. Er zog ihre Schritte an, sodass sie Partenkirchen verließ und durch abgemähte Wiesen hinüberwanderte, um wenigstens eine Viertelstunde lang den einfahrenden und viel mehr noch den abfahrenden Zügen zuzusehen.
War es Fernweh? Oder lag es einfach nur daran, dass sie den Dampf, den Rauch und den Ruß der Lokomotiven so liebte?
Fernweh allein konnte es gar nicht sein. Schließlich fuhren die Züge von Garmisch aus nicht gerade in die große ferne Welt. Hier hielt kein Orient-Express. Nach Murnau fuhren sie. Und nach München.
Und doch: Sie ertappte sich immer wieder dabei, lustvoller auszuschreiten, je näher sie dem Bahnhofe kam. Sie mochte es, die Fahrpläne zu studieren. Und es machte ihr Freude, jene Menschen zu beobachten, die oft mit viel Gepäck aus den Abteilen stiegen und sich in der neuen Umgebung erst einmal mit gewisser Hilflosigkeit umsahen. Gern besah sie sich die Frauen, ihre üppigen Kleider, ihren Kopfputz und ihre Besorgnis, sich beim Verlassen eines Waggons irgendwo schmutzig zu machen.
Natürlich hatte sie auch ein heimliches Auge für die Männer, die mit den Zügen ankamen oder abreisten. Die strammen und stolzen und dabei doch in ihrer Eitelkeit unerträglichen Herren Offiziere zum Beispiel. Die Sommerfrischler aus den flachen Regionen des Landes, von denen sich manche den Aufenthalt im Gebirge von der Suppe abgespart hatten. Hin und wieder auch Herren von Stand. Bisweilen erschienen ihr gerade die unfreiwillig komisch. Kaum einer aber entlockte ihr ein zweites Hinsehen, gar den Gedanken, wie so ein Herr wohl ohne sein teures Gewand, ohne die zünftige Lodenhose, ohne das Jägerjackett und ohne den Hut samt prächtiger, steil aufgerichteter Feder aussehen würde.
Gern sah sie die Bergsteiger, die mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen über den Perron klackerten, pralle Leinenrucksäcke und derbe Hanfseile über den Schultern. Ihre Gesichter und ihre ganzen Erscheinungen legten Zeugnis davon ab, dass diese Welt voller Abenteuer war – man musste nur aufbrechen, hinaus und hinauf.
Und ganz besonders gern beobachtete sie die Kinder. Wenn sie voller Begeisterung ankamen oder wenn sie beim Losfahren die Gesichter gegen die Scheiben drückten und irgendjemandem winkten. Ja, dachte sie dann, für die Kinder ist alles noch Abenteuer.
Und dann war sie immer ein wenig traurig, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war.
Ein Kind wenn ich hätte, dachte sie. Aber sie führte diesen Gedanken nie bis zu einem Ende. Nur einfach: Ein Kind wenn ich hätte …
Auch heute nicht.
In melancholischer Stimmung spazierte sie weiter. Die mondänen Quartiere, die in Garmisch entstanden waren, interessierten sie nicht. Das alles hatte sie andernorts bis zum Überdruss genossen. Sie schaute zu den Bergen, die heute nicht ganz klar vor einem milchig bedeckten Himmel standen. Selbst auf den höchsten Gipfeln lag noch kaum Schnee. Die Zugspitze war von Norden her weiß angezuckert, da hatte beim letzten Unwetter Schnee die Felsen verpappt. Aber mehr war es noch nicht. Sie hatte die Berge schon mal im August winterlicher gesehen als nun im vorgerückten Herbst.
Sie musste daran denken, wie am Tag zuvor der Wetterwart verabschiedet worden war. Ein ganz fescher junger Mann. Die Blasmusik hatte gespielt. Der Bürgermeister von Partenkirchen hatte gesprochen und ein Herr von der Meteorologischen Zentralstation München. Die Reden waren langweilig. Aber die Musik war schmissig. Und wenigstens war überhaupt etwas los.
Als der Tross losgezogen war, der Wetterwart, der Bergführer, die Träger und ihre Maultiere, da hatte sie die Männer beneidet um den Aufstieg zur Zugspitze. Ja, da wäre sie am liebsten mit. Wie sie überhaupt nur zu gerne einmal auf die Zugspitze, die höchste Erhebung des ganzen Reiches, hinaufgestiegen wäre. Einmal das Land von ganz oben sehen, wo nichts Höheres mehr ist.
»Wer weiß«, hatte Karl Schaffler, ihr Hauswirt, am Morgen gesagt, »wie lange der Winter noch hinterm Berg hält. Der Himmel … ich weiß net … er macht mir den Eindruck, als wenn der Herbst jetzt bald vorbei wäre.«
Am frühen Nachmittag trank sie ein Kännchen Tee. Sie konnte dabei windgeschützt auf der Veranda sitzen, wo auch einige andere Gäste der Villa Alpenblick die Sonne des späten Jahres auskosteten.
Der Blick war herrlich: Das ganze Massiv lag als malerisch ausgebreitetes Gebirgspanorama vis-à-vis: Die formschöne Alpspitze, die hohe Zugspitze, ein markanter, geradezu Ehrfurcht gebietender Anblick.
»Darf man fragen, gnä Frau, was Sie heut noch vorhaben?«, fragte die immer neugierige, dabei aber gründlich verschwiegene Frau Schaffler.
Lidia von Berneis hatte gar nichts gegen eine kleine Konversation mit den Hausleuten. Schließlich kannte man sich seit etlichen Jahren. Hierher zu kommen war für sie – und für die Schafflers auch – immer mit einer ehrlichen Wiedersehensfreude verbunden.
»Ich werde mir nun endlich mal diese Villa Orient ansehen«, gab Lidia lächelnd zurück. »Seit Jahren weiß ich davon, hab oft davon reden gehört. Und jetzt, am Bahnhof, da hing sogar ein Plakat.«
»Aber was G’scheites ist das nicht«, sagte die Frau Schaffler. »Man hört nicht nur Gutes über den Mann, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Aber das macht doch nichts«, sagte Lidia mit einem breiten Lächeln. »Es geht ja gar nicht darum, das wirklich ernst zu nehmen. Aber es mag doch immerhin ein wenig unterhaltsam sein. Glauben Sie nicht, liebe Frau Schaffler?«
»Ich weiß net«, sagte die Hauswirtin. »Ich weiß net. Mir wär’s schad ums Geld. Er verlangt ja doch fünfzig Pfennig Eintritt dafür …«
»Aber Sie wissen doch: Wer sich nichts gönnt …«
Aus ihrer kleinen, in Brokatarbeit gefertigten Handtasche zog Lidia eine Postkarte. Vorne drauf war eine Abbildung der Villa Orient zu sehen. Auf der Rückseite pries ein Text die wahrhaft wundersamen Sehenswürdigkeiten und empfahl den Besuch dieses privaten Museums ganz nachdrücklich:
»Sehr reichhaltige Sammlung fremdländischer Gegenstände, Kostüme verschiedener Nationen, sehr wertvolle Waffensammlung. Seidenstickereien, Musikinstrumente. Geweihe, Holzschnitzereien. Perlmutteinlagen. Muschelarbeiten. Indische Götzen und Götzentempel. Großartige Käfer- und Schmetterlingssammlung. Mehrere hundert ausgestopfte und präparierte fremdländische Tiere. Reptilien in Spiritus. Völkergalerie (zwanzig verschiedene Menschenrassen in Wachs). Mumien. Lebende Leoparden, lebende Schlangen, lebende Affen. Jeder Besucher wird überrascht sein …«
Sie steckte die Karte wieder weg und sagte: »Ich schau mir das an.«
Und so schlenderte sie dann am Nachmittag unter rost- und gelbfarbenen Bäumen ins sogenannte Hasenthal und zur schon von weitem überaus ungewöhnlich wirkenden Villa Orient. Dabei wäre diese Anmutung mit orientalisch gar nicht so richtig beschrieben gewesen. Eine Skurrilität war es, ja, genau. Eine Mischung aus kindlicher Märchenwelt und exotischem Sammelsurium. Ein maurischer Turm, angelehnt an eine umgebaute Partenkircher Villa. Ein orientalischer Torbogen, so bunt bemalt wie Teile der Hausfassade. Palmen im Park, die dem hier doch oft rauen Klima zu trotzen schienen. Und all das inmitten einer voralpinen Umgebung, wo auf freiem Hang verstreut noble Anwesen thronten. Musste schon ein sonderbarer Kauz sein, der Mann, der das alles geschaffen hatte.
Lidia hatte durchaus ein Faible für die Sonderlinge und für die kleinen Absonderlichkeiten im Leben. Es mochte von ihrer Herkunft herrühren, dass sie dem nur geordneten, oft tristen und oft grauen Deutschsein nicht immer viel abgewinnen konnte. Sie mochte das Bunte lieber, jede verspielte Farbenpracht erinnerte sie auch an die Papageienvögel ihrer Kindheit, die den Patio ihres argentinischen Elternhauses in eine gitterlose Voliere verwandelt hatten.
Im Sächsischen, wo sie nun ihren Stammsitz hatte, gab es solche Sonderlinge zuhauf. Allen voran jener in Mode gekommene Schriftsteller Karl May, um den sich manch ein Skandal rankte. In Radebeul bei Dresden hatte er mit großen glänzenden Lettern den Schriftzug »Villa Shatterhand« an der Fassade seines Anwesens anbringen lassen. Angeblich soll er in seinem Arbeitszimmer wie ein amerikanischer Fallensteller herumlaufen, manchmal auch wie ein arabischer Nomade. Angeblich will er all die Abenteuer, die in seinen zahllosen Büchern niedergeschrieben sind, höchstpersönlich und genau so erlebt haben. Angeblich aber soll er ein Stubenhocker sein, vorbestraft zudem, aber ausgestattet mit einer überbordenden Phantasie und ganz gehörigem Fleiß.
Ein alles in allem harmloser Spinner, der mit seinen Kopfgeburten die Jugend – und nicht nur die – zu begeistern wusste. Sie selbst hatte drei oder vier seiner Werke gelesen oder zumindest angefangen: »Durch die Wüste« und »Der Schatz im Silbersee« – diese beiden hatten sie zu fesseln vermocht. Aber ein anderes, in dem es um die Kordilleren ging, war ihr dann doch mehr als abstrus erschienen und sie hatte es nach kaum hundert Seiten weggelegt.
Aber sei’s drum.
Sie entrichtete an der Villa Orient den Eintrittspreis von fünfzig Pfennig und schmunzelte über die protzige Werbetafel, die das nun Folgende als »Erste Sehenswürdigkeit Partenkirchens« anpries. Sie brauchte sich nur umzudrehen und zu den Bergen zu schauen: Da waren die ersten Sehenswürdigkeiten von Partenkirchen und von Garmisch. Majestätisch, gewaltig, fast dreitausend Meter hoch. Dagegen wäre diese Tier- und Monströsitätenschau gewiss nichts anderes als eine kleine Volksbelustigung irgendwo auf einem Rummelplatz …
Ganz so war es dann aber nicht. Der Park war mühevoll angelegt, und bestimmt herrschte hier in den heißen Monaten Juli und August eine üppige Blüte. Denn es gab hier Rankgewächse und Stauden, Büsche und Bäume aus aller Herren Länder. Und es war schon ein Wunder, dass die sich hier, in fast neunhundert Metern über dem Meer, überhaupt halten konnten, dass ihnen der Schnee, der in den Wintern überaus reichlich fiel, nichts anzuhaben vermochte.
Beeindruckt war sie von den Leoparden. Noch nie war sie diesen Tieren so nahe gekommen wie hier an dem Gehege, das allerdings dem Bedürfnis dieser Wildtiere nach Auslauf und nach Bewegung nicht entsprach. Eingepfercht war das Paar. Eingesperrt auf engem Raum. Eines der Tiere schlief, seitwärts hingestreckt. Das andere saß aufrecht und fixierte sie, die im Augenblick einzige Besucherin in der orientalischen Villa. Wunderbar war die Zeichnung des Fells. Rötlichgelb die Grundfärbung, tiefschwarz die unendlich vielen Flecken, die darin verstreut waren. Die Augen, mit denen der Leopard sie ansah, schienen zu leuchten. Sie erinnerte sich an ein Buch, das alle Tiere des Erdkreises behandelte, und worin so oder ähnlich geschrieben stand: »Der Leopard mordet alle Geschöpfe, welche er bewältigen kann, ob groß oder klein, ob sie in der Lage sind, sich zu wehren oder ob sie ihm widerstandslos zum Opfer werden …«
Es hatte etwas Beunruhigendes, von diesem Raubtier durchdrungen zu werden, als wäre sie ein Opfertier. Und doch war es vor allem Mitgefühl, das Lidia für diese eingesperrten Wesen aufbrachte. Sie wandte sich ab und ging davon und versuchte, diese Begegnung rasch zu vergessen.
Sie ging durch die Ausstellungsräume im Haus, fand aber weder an den mit Nadeln aufgespießten Schmetterlingen noch an den präparierten Säugetieren Gefallen. Der Leopard hatte sie erschüttert. Sein Schicksal hinter diesen Gittern, die er wohl kaum lebend hinter sich lassen würde. Eingesperrt bis ans Ende seiner trübseligen Tage.
Als sie schon im Begriff war, die Villa Orient wieder zu verlassen, entdeckte sie im Park etwas, das sie doch noch auf andere Gedanken bringen konnte. Auf ganz andere Gedanken! Auf Gedanken, die schließlich ihr weiteres Leben verändern würden. Wie das manchmal eben so geht, dass einem das Schicksal von einer Sekunde auf die andere auf völlig neue Wege schickt. Wege ohne Wiederkehr.
Unter einem Baldachin stand auf einem dreibeinigen Stativ ein Fernrohr von mindestens einem Meter Länge. Es zeigte in ungefährer Richtung zu den Dreitorspitzen, gewaltigen Felszacken, die sich im Süden über den bewaldeten Vorbergen erhoben. In die Ferne sehen, das Ferne sich ganz nah heranholen, die Distanzen aufheben, hier sein und dort und alles zugleich.
Lidia trat an das Fernrohr heran. Sie steckte sich die schwarzen Haare hinters Ohr, drückte ein Auge zu und das andere nah an das Okular.
Die Optik war wie auf ihre Augenstärke eingestellt. Sie musste das Rohr nur ein wenig nach oben und ein wenig nach rechts schwenken, schon hatte sie die gefurchten Felsen der Dreitorspitzen ganz nah vor Augen, sah den Schnee, der sich in den nordseitigen Rinnen bereits festgesetzt hatte, sah den Himmel darüber.
Sie schwenkte weiter nach rechts, erfasste die Alpspitz-Pyramide, deren letzter Gipfelaufschwung von steilen Felsbändern gebildet wurde; auch hier hatte sich schon erster Schnee abgelagert, dazwischen aber war noch reichlich nackter und bedrohlicher Fels zu sehen. Sie machte sich einen Spaß daraus, den Grat von der Alpspitze über die Höllenthalspitzen und hinüber zur Zugspitze gleichsam mit dem Fernrohr entlang zu klettern. Sie schwenkte ein wenig nach unten, suchte den Höllenthalferner, von dem sie schon so manches gehört hatte, und tastete sich dann nach oben, nach oben und immer weiter nach oben, bis Fels und Schnee aufhörten, bis der höchste Gipfel erreicht war.
Die Zugspitze, dachte sie. Eindrucksvoll, wirklich eindrucksvoll.
Und weiter dachte sie: Da oben möchte ich jetzt sein. Einen Tag und eine Nacht auf dem Berg verbringen, so wie der Wetterwart in seiner Station. Es muss einfach köstlich sein, in völliger Einsamkeit und völliger Stille die Sonne unter- und wieder aufgehen zu sehen. Was gäbe ich dafür.
Sie ruckte am Fernrohr, drehte an den Ringen aus Messing, hoffend, sich den Gipfel noch näher heranzuziehen, vielleicht sogar die Wetterstation ins Bild zu bekommen.
Aber sie war nicht zu sehen. Nicht von diesem Standort aus. Die Station und die gleich daneben errichtete Bergsteigerunterkunft, Münchner Haus genannt, waren von Felszacken verdeckt.
Aber da war das Gipfelkreuz, nicht mehr von der Sonne beschienen, aber doch metallisch glänzend. Es auch nur zu sehen, vermittelte schon ein erhabenes Gefühl.
Nach allem, was sie bis jetzt so gehört hatte, bei dem Bergführer beispielsweise, mit dem sie früher unterwegs waren oder auch bei den Bergsteigern, die nach vollbrachter Tour am Bahnhof ihren Zug erwarteten, konnte der Aufstieg durch das Reinthal nicht allzu schwierig sein. Lang soll er sein, dachte sie. Ein ganz, ganz weiter Weg. Aber nicht sehr schwer.
Nach einem letzten Blick zum Gipfel der Zugspitze ließ sie vom Fernrohr ab und machte sich, nachdenklich und unternehmungsfroh zugleich, auf den Rückweg zu ihrem Quartier.
Es müsste doch möglich sein, da hinaufzugehen, dachte sie. Ohne Führer. Auch für eine Frau.
Und während sie es dachte, war ihr Entschluss tief drinnen in ihrem Herzen schon gefallen. Nur, dass sie es sich selbst noch nicht eingestand.
Kapitel 3
Es war ein eigenartiges Gefühl zu sehen, wie die Männer mit ihren Maultieren bereits einige hundert Meter tiefer über den Schneeferner marschierten, und zu wissen, von nun an viele Monate ganz allein zu sein.
Die Männer wirkten von hier oben wie Gletscherflöhe und die Maultiere wie schwarze Ameisen, die den Flöhen den Garaus machen würden.
Doch manchmal hörte er einen Juchzer oder einen Jodler, der zweifelsfrei ihm galt. Ein Abschiedsgruß der Träger, die froh waren, nicht heroben bleiben zu müssen.
Straub sah ihnen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.
Dann war er allein.
Sie waren vorgestern am späten Nachmittag angekommen. Hatten an der Scharte die Maultiere in den Unterstand gestellt und mit den Kraxen all das hinauf getragen, was in diesem ersten Anlauf zu schaffen war. Die ganze Mannschaft war im Münchner Haus untergebracht, der kleinen, hingeduckten Berghütte, zu der er den Schlüssel bekommen hatte. Er war mit den Männern im Münchner Haus geblieben, hatte darauf verzichtet, sein eigenes Domizil schon zu beziehen. Noch wohnte ja auch sein Vorgänger darin. Und er würde ohnehin noch genug Zeit haben, sich häuslich einzurichten.
Gestern dann waren sie alle zum Depot abgestiegen, hatten die Kraxen vollgeladen, waren wieder hinauf, und indem sie diesen mühevollen Vorgang dreimal wiederholten, hatten sie schließlich alles nach oben geschafft. Die Schultern schmerzten ihn jetzt fürchterlich, und die Schenkel brannten von der Anstrengung des Steigens mit den schweren Lasten. Auch er als Wetterwart hatte gehörig mithelfen müssen, damit alles bis zum Abend zum Gipfel geschleppt war!
Eigentlich hätten sie dann todmüde auf ihre Strohlager fallen müssen. Aber die Träger und der Führer hatten nicht darauf verzichten wollen, auf sein Wohl die Schnapsflasche kreisen zu lassen. Es wurde getrunken und gesungen und an zotigen Sprüchen, seine weiblose Einsamkeit betreffend, herrschte kein Mangel.
Am Morgen waren sie dann ganz anders gewesen. Die raubeinigen Männer waren still und der Abschied war ernst, freundlich und ohne Witzeleien vonstatten gegangen. Er spürte aus ihren Blicken, ihren Händedrucken, ihren Schulterklopfen ein gewisses Unbehagen, ihn allein hier zurücklassen zu müssen. Da schien sich bei ihnen etwas dagegen zu sträuben, es war, als haderten sie mit dem Auftrag, ohne ihn wieder ins Tal abzusteigen.
»Pfüatdi«, sagte der Bergführer und drückte ihm mit beiden Händen seine Rechte. »Pass auf dich auf da heroben. Lass es dir gut gehen. Im Juni holen wir dich wieder ab.«
Und sein Vorgänger, der Wetterwart, der es nur ein paar Monate auf dem Berg ausgehalten hatte, ehe er wegen unablässiger Kopfschmerzen diesen Dienst quittieren musste, wünschte ihm noch alles Gute und viel Glück. Der Mann hatte Tränen in den Augen gehabt, ob aus Scham, weil er nicht durchgehalten hatte oder aus Freude, weil es zu Ende war – wer hätte es sagen können.
Dann hatten sie sich an den Abstieg gemacht. Das felsige Gelände hinab bis zum Depot und den Mulis. Und nun stapften sie über den spaltenfreien Gletscher Richtung Knorrhütte. Sie wollten heimkommen, ohne noch einmal übernachten zu müssen.
Am Himmel standen Föhnfischlein. Der warme Südwind hatte das Firmament frei gefegt, nur mehr diese in Fischform ziehenden Wolken zierten das strahlende Blau. Die Sicht war klar und unendlich weit. Straub hätte nicht sagen können, welche Gebirgsgruppen er sehen konnte. Von weit im Westen bis weit im Osten reihte sich Bergkette hinter Bergkette. Selbst die höchsten und markantesten Berge wusste er nicht zweifelsfrei zu bestimmen. Aber das hatte ja noch Zeit. Sein Vorgänger hatte ihn in die Technik der Wetterstation eingeführt, in seine Aufgaben und auch in alles, womit er sich beschäftigen könnte in der nächsten Zeit. Da gab es Himmelskarten und Gebirgskarten, Faltpanoramen und auch einige fotografische Ansichten.
Ein Laie hätte von bestem Wetter gesprochen bei diesen Bedingungen. Womit er ja gar nicht so Unrecht haben würde. Allerdings wusste Straub nur zu gut, dass Föhn immer auch von einem gehörigen Wettersturz kündete. Und der könnte um diese Jahreszeit endgültig den Winter mit sich bringen.
Ein bisschen Zeit lassen könnte er mir schon noch, dachte Straub. Ich werd mir die Station noch lange genug freischaufeln müssen.
Er machte sich daran, sein neues Zuhause nun richtig zu inspizieren und sich einzurichten. Er trug seine Sachen aus dem Münchner Haus herüber in die Station. Denn die Berghütte ging ihn ja eigentlich nichts an: Er hatte den Schlüssel, um die Träger unterzubringen und für den Fall, dass irgendwelche verrückten Bergsteiger im Winter heraufkämen – was eigentlich menschenunmöglich war – und er sie notdürftig beherbergen musste. Außerdem war er gehalten, in der Hütte von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen: ob es keine Frost- oder Wasserschäden gäbe und was halt sonst so von Belang sein könnte.
Sein kleines Reich maß nur etwa vier mal vier Meter. Beim ersten Betreten gleich bei der Ankunft war er mehr als erschrocken. Das war ja kaum größer als ein Zelt!
Aber der Wetterwart, der abzulösen war, hatte auf die Vorzüge dieser Kleinräumigkeit hingewiesen. Dass alles so leicht überschaubar sei, zudem gewiss auch im strengen Winter ohne viel Aufwand zu beheizen. Und da man ja ganz allein hier war, konnte einem auf engem Raum auch niemand anderer auf die Nerven gehen.
Dass sein Domizil keine Luxusvilla sein würde, das hatte er schon vorher gewusst. Auch waren ihm Ansichten und Planzeichnungen der Station vorgelegt worden. Er war also vorgewarnt. Doch zwischen einer vagen Vorstellung und dem erwachenden Erkennen der Wirklichkeit ist nun mal ein enormer Unterschied.
Wie, hatte er sich sofort gefragt, wie soll ich da alles unterbringen?
Aber der erste Endruck hatte zum Glück getäuscht. Die Station, offiziell geführt als »Königlich Bayerische Meteorologische Hochstation Zugspitze«, war ein neun Meter hoher Turm, eingeklemmt zwischen dem Münchner Haus und einem Felszacken des Gipfels. Ein massiver Eisenanker hielt die drei Etagen im felsigen Grund, dazu war der Turm mit übergelegten Stahlseilen gleichsam verzurrt, um den Stürmen, die in dieser Höhe bisweilen fürchterlich wüteten, standhalten zu können.
Die untere Etage mit ihren meterdicken Bruchsteinmauern, war als Lager- und Vorratsraum gedacht. Hier waren Holz und Briketts gestapelt, außerdem Konserven und andere lang haltbare Lebensmittel wie geräucherter Schinken, Hartwurst – und Zitronen! Der Saft dieser Zitronen sollte dafür sorgen, dass der Wetterwart nicht an Vitaminmangel erkranken würde.
Darüber lag seine Behausung.
Klein, aber irgendwie auch heimelig. Auf gerade einmal sechzehn Quadratmetern musste Platz genug sein für Küche, Schlaf- und Wohnraum in einem. Ein richtiges Junggesellenstübchen. Dazu das höchste im gesamten Land – und noch ein kleines Stück darüber hinaus. Als 1901 ein gewisser Josef Enzensperger als erster Wetterwart auf der neu errichteten Station Dienst getan hatte, war er in den »Münchner Neuesten Nachrichten« als der »höchste Einwohner des Deutschen Reiches« bezeichnet worden.
Anselm Straub musste lächeln bei dem Gedanken, nun selbst der höchste Einwohner des Deutschen Reiches zu sein. Ein enormer Aufstieg, dachte er. Und er horchte auf sein lautes Lachen, das er ausprobierte, um zu hören, wie seine Stimme im Alleinsein klingen würde.
Als Erstes suchte er einen guten Platz für die Voliere. Er wollte sie von der Decke seines Gemachs hängen, irgendwo, wo sie nicht im Wege umgehen würde und wo zugleich genug Licht durch eines der kleinen Fenster den Käfig erhellen könnte. Die Vögelchen, so dachte er, mögen wie wir Menschen die Tagesläufe. Mögen es, mit der Dunkelheit müde zu werden und mit dem Morgen den Tag zu begrüßen. Und vor allem mögen sie die Sonne, die Wärme und das Wohlgefühl, das damit einhergeht.
Dass dieses von der Sonne erzeugte Wohlgefühl spärlich bemessen sein würde, war ihm schon klar. Für die Zugspitze war zuletzt ein Jahresmittel von minus sieben Grad festgestellt worden! Für den bevorstehenden Winter verhieß dies nicht gerade milde Zeiten. Allerdings, und das wusste er von seinen Vorgängern auf der Station, konnten die Tage ab März selbst hier, auf fast dreitausend Metern Höhe, Sonnenbäder an windgeschützten Stellen durchaus möglich machen.
Er fand einen umgebogenen Nagel in der Decke aus massiven Holzbalken. Er bog ihn weiter zu einem Haken und befestigte daran den Vogelkäfig, und er fühlte sich gut dabei, nun erste Schritte in dieses neue, auf ein dreiviertel Jahr befristete Leben zu tun.
Ich nenne sie Max und Moritz, dachte er. »Du bist Max …« Er blies dem Vogel durchs Gitter ins Gefieder. »Und du …« Er schnalzte mit der Zunge, »… du bist Moritz. Merkt euch das.«
Im Herd, der zugleich Ofen für den Wohnraum war, knisterte das Holz. »Am besten, Sie lassen ihn von nun an nicht mehr ausgehen, bis Ablösung kommt«, hatte ihm sein Vorgänger empfohlen. »Er verbraucht nicht viel, aber er heizt gut. Immer bei kleiner Flamme halten, dann werden Sie keine Probleme haben.«
Aus dem Fass neben seinem Turm holte er einen Topf voll Regenwasser und stellte ihn auf den Herd. Eine Kanne heißen Tees könnte ja nicht schaden, während er sich genauer umsah und sich nach und nach heimisch machte, so gut es ging.



