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Nur zwei Schritte vom Herd entfernt stand ein kleiner Tisch samt an die Wand gelehnter Bank und einem Stuhl – da hätten drei Leute Platz gehabt, aber es war nicht anzunehmen, dass er Besuch bekäme, zumindest nicht, bevor der Winter zu Ende wäre. An diesem Tisch also würde er von nun an seine Mahlzeiten zu sich nehmen, seinen Tee trinken, lesen, vielleicht seine persönlichen Aufzeichnungen niederschreiben. Dieser Tisch wäre der Mittelpunkt seines Lebens in dieser kleinen Stube. An der Wand über dem Tisch war ein Bord befestigt – man musste direkt Obacht geben, sich beim Hinsetzen oder Aufstehen den Kopf nicht anzustoßen –, und auf diesem Bord fanden sich, in einiger Schräglage und Unordnung, Bücher und zerlesene Schriften. Darüber würde er sich vielleicht am Abend ein besseres Bild machen, und wenn nicht an diesem Abend, dann am nächsten oder übernächsten.
Zunächst bedurfte es eines guten Platzes für sein kleines Grammophon und die Schelllackplatten. Hatte er das Geschenk fast nicht annehmen wollen, gar geglaubt, etwas Derartiges nicht zu benötigen, war ihm jetzt bewusst, dass die Musik ihm zum Freund werden würde.
Eine winzige Kommode gleich neben der Bank erschien ihm als der beste Platz. So konnte er das Grammophon bedienen, wenn er am Tisch saß, brauchte sich gar nicht zu erheben, um ein neues Musikstück aufzulegen.
Vorsichtig, geradezu liebevoll klappte er den Deckel des Gerätes auf, drehte den kleinen Trichter zum Raum hin und setzte die Kurbel ein. Aber er verkniff es sich, jetzt, am Vormittag, eine Platte aufzulegen und den Mechanismus in Gang zu setzen. Er klemmte die Platten, die in weißen, papiernen Hüllen steckten, hinter die Musikmaschine, besah sich dabei jede Einzelne und freute sich ganz besonders darauf, den italienischen Tenor Caruso mit der Arie »Celeste Aida« zu hören. Später.
Den Tee, stark und mit wenig Zucker, trank er draußen, vor seinem Turm. Ein paar Dohlen waren oben auf dem Geländer der Aussichtsplattform und in den nahen Felsen gehockt und flogen nun heran und hüpften um ihn herum, darauf spekulierend, vom neuen Wetterwart ein paar Bröckchen zugeworfen zu bekommen. Aber der aß ja nichts, der trank ja nur Tee. Und freute sich über die Mitbewohner seines Gipfels.
Dohlen waren ihm von jeher sehr lieb gewesen. Auf seinen Ausflügen ins Gebirge hatte er immer wieder bestaunen können, welche Meister der Flugkunst sie waren. Mag schon sein, hatte er gedacht, dass man den Adler den König der Lüfte nennt. Majestätisch und gefährlich. Aber die Dohlen mit ihrem pechschwarzen Gefieder, mit ihren gelben Schnäbeln und karottenroten Beinchen, sie waren für ihn die wahren Beherrscher der Luft und der Thermik. Und sie zeigten das ja auch fast unablässig in ihrem übermütig erscheinenden Spiel. Sie waren Könige und Clowns in einem. Und Anselm Straub beschloss, ihnen fortan immer ein paar Krümel zu geben. Lange würden sie ja ohnehin nicht mehr auf dieser Höhe ausharren. Den Hochwinter verbringen Dohlen in abgelegenen Talregionen. Sie würden erst wieder zurückkehren, wenn die Sonne im späten Frühling am Gipfel mildere Temperaturen mit sich brächte.
Umso dankbarer konnte er sein für die Tage, an denen sie ihm noch Gesellschaft leisten würden.
Er sah sich die possierlichen Vögel genauer an. Sie hüpften so nahe heran, dass er ihnen in die kugeligen schwarzen Knopfaugen sehen konnte. Und sie hielten dabei doch Abstand genug, dass sie vor ihm sicher waren.
An dem Morgen, dachte er, an dem sie nicht mehr da sind, wenn ich vor das Haus trete, wird der Winter anfangen.
Er verbrachte den größten Teil des Tages damit, in gewisser Unorganisiertheit sein Leben auf dem hohen Berg allmählich zu organisieren. Packte Dinge aus den Taschen und Kisten, die noch nach Maultierfell rochen. Inspizierte nach und nach den ganzen Turm – über seinem Wohnraum war da noch das Arbeitszimmer mit Messgeräten, Folianten, Karten, wissenschaftlichen Tagebüchern, und von diesem Arbeitsraum führte eine steile Stiege zu einer Luke, die den Aufgang zur Aussichtsplattform vermittelte. Dort oben zu stehen bedeutete, noch einen Meter höher zu sein als die höchsten Felsen des Gipfels. Im Umkreis von vielen Kilometern war nichts und niemand höher als diese Plattform, auf der Straub jetzt stand, auf der er von nun an fast täglich stehen würde.
Mittels der Gebirgskarte verschaffte er sich einen besseren Überblick. In ihr waren die Entfernungen zwischen seiner Warte und den verschiedenen markanten Gipfeln der Ostschweiz, der vergletscherten Zentralalpen, der Dolomiten und der Hohen Tauern genauso verzeichnet wie die Distanzen zu den oberbayerischen Seen und zu den dunklen Säumen von Schwarzwald und Bayerischem Wald.
Freilich, viele der verzeichneten Berge kannte er dem Namen nach und manche auch von ihrer Gestalt. Doch mindestens ebenso viele waren ihm noch fremd, und er würde erst lernen müssen, sie in der Natur zu entdecken. Denn anhand ihrer Entfernungen waren zweimal täglich auch die Sichtweiten von der Zugspitze aus durchzugeben. Reichte der Blick also beispielsweise bis zum Hochvogel im Allgäu, dann konnte von einer Sichtweite von etwa 52 Kilometern gesprochen werden, sah er den Säntis, der sich über dem jungen Rhein erhob, dann waren es sage und schreibe 120 Kilometer.
Sein Vorgänger als Wetterwart hatte ihm am Vortage alles Wesentliche gezeigt, war mit ihm die verschiedenen Anforderungen durchgegangen, hatte ihn eingewiesen in die Praxis dessen, was er von der Theorie her natürlich schon bestens kannte. Doch jetzt war er auf sich gestellt, und das war doch ganz etwas anderes.
Im Arbeitszimmer hing gerahmt zwischen Karten eine Seite aus den »Münchner Neueste Nachrichten« an der Wand. Das leicht angegilbte Blatt stammte vom Februar 1901, war »Sieben Monate auf der Zugspitze« überschrieben und verfasst vom ersten Zugspitz-Wetterwart Enzensperger, der seinen Aufenthalt hier heroben um nur zwei Jahre überlebt hatte. 1903 war er, ein abenteuerfreudiger Alpinist und Reisender, bei einer Forschungsexpedition in der Antarktis gestorben. Er nahm sich vor, diesen Bericht bald zu lesen, aber nicht jetzt, nicht in den Stunden des Nachmittags, an dem er erstmals ganz alleine die Wetterdaten zu ermitteln und durchzugeben hatte. Unruhig trat er immer wieder vor die Tür, um zu sehen, ob sich die Bewölkung in Farbe und Dichte veränderte, ob die Sichtverhältnisse besser wurden oder sich verschlechterten, er prüfte die Luftfeuchtigkeit, den Luftdruck, die Windrichtung. Und immer hielt er dabei auch Ausschau nach den Dohlen, ob sie noch da waren.
Im unteren Geschoss schlichtete er das neu heraufgebrachte Holz zu den anderen Scheiten, er räumte die Briketts auf und kehrte zusammen. Mit der scharfen Axt spaltete er dünnes Anschürholz für den Kanonenofen im Arbeitszimmer. Danach sichtete er die mitgebrachten und die schon länger gelagerten Konserven. Da waren Sülzen dabei und Gulasch, Kraut und Kürbis, gepökeltes Fleisch und gedünstete Karotten. Auf ein Gulasch hätte er Lust verspürt; Kartoffeln gab es ja auch. Aber, so dachte er sich, lieber jetzt ein wenig gegeizt mit den gut eingemachten Sachen und sie aufheben für die kalte Zeit. Von der Decke hingen zwei Schweineschultern, schwarz geräuchert, für die Mäuse unerreichbar. Ja, es gibt Mäuse, hatte der vorherige Wetterwart gemahnt, es gibt sie auch da heroben und sie fressen alles, was ihnen unterkommt. Also, Obacht!
Er entschied sich dafür, abends ein Stück vom Geräucherten zu essen, einen Ranken Brot dazu und vielleicht ein oder zwei Seidel Bier. Auch mit dem Biervorrat würde er haushalten müssen, das war ihm schon klar. Aber dem Bier maß er, anders als der Großteil der männlichen bayerischen Einwohnerschaft, keine ans Lebenswichtige grenzende Eigenschaft bei. Bisweilen schmeckte ihm eine Halbe, zur Starkbierzeit auch ein Bock und auf der Festwiese eine süffige Mass, aber dann vergingen wieder Wochen, ohne dass es ihn nach Hopfen und Malz gelüstete. Und wenn kein Bier mehr da wäre, so würde er nicht groß daran leiden. Verdursten würde er sicher nicht: Das Wasser, das er brauchte, kam als Schnee vom Himmel. Und der Schnee würde meterhoch fallen …
Um vier Uhr am Nachmittag, eine Stunde vor dem Zeitpunkt, da er seine Messdaten ganz offiziell durchzugeben hatte, telefonierte er nach München. Er wollte ganz sicher gehen, dass Verbindung bestand.
Der Kollege im Institut – es war Gstatter, der Dienst tat, und den Straub recht gut kannte – wollte nur zu gerne wissen, wie es ihm da oben so erginge und ob er sich schon eingelebt habe und wie das wohl auszuhalten wäre, so ganz ohne, er wäre doch schließlich verlobt.
»Es ist alles noch fremd für mich«, sagte Straub. »Ungewohnt, wenn du verstehst, was ich meine. Ich weiß noch nicht so recht, ob ich besorgt sein soll wegen des einsamen Winters oder ob ich mich freuen soll darauf. Seit ich heraufgekommen bin, weiß ich jedenfalls ganz sicher, dass es für mich ein ganz besonderes Erlebnis wird, eine besondere Erfahrung. Ob eher positiv oder eher negativ – das muss man erst sehen.«
Gstatter räumte ein, dass er für eine oder zwei Wochen selbst auch gern Dienst tun würde auf dem Berg. »Aber so lange wie du … also das würde ich nicht aushalten.«
»Ich hab den Trost«, sagte Straub, »dass ich jeden Tag zweimal mit einem von euch telefonieren kann. Und wenn ihr dann so gut seid, mir auch zu erzählen, was sonst so los ist auf der Welt, dann werde ich das schon schaffen.«
In den folgenden Stunden befasste er sich eingehend mit den Messungen, führte jede mindestens zweimal durch, um die Fehlerquote so gering wie möglich zu halten, er bestimmte von seiner Plattform aus die Sichtweiten in der bereits aufkommenden Dämmerung, er schrieb alles in die dafür vorgesehene große Kladde und gab schließlich Daten und Fakten telefonisch an Gstatter durch. Diesmal war ihr Gespräch ganz sachlich, emotionslos.
Sie wünschten sich einen guten Abend, Gstatter fügte an »… und eine gute Nacht« und er vergaß nicht zu erwähnen, dass nächstentags Lohmeyer da sein würde, um die Zugspitz-Ergebnisse aufzunehmen und weiter zu melden, sodass in den Zeitungen im gesamten Land das Wetter zumindest vage vorhergesagt werden konnte.
Straub setzte sich an den kleinen Tisch, aß vom Geräucherten, trank ein paar Schlucke Bier und packte danach, als er sich die Hände mit dem warmen Wasser aus dem Ofengrandel gereinigt hatte, ein kleines Wachstuchpäckchen aus, das ihm die Kollegen vom Institut zum Abschied geschenkt hatten. »Aber ja nicht aufmachen, bevor du am Gipfel bist! Versprochen?«
»Versprochen.«
Das Päckchen enthielt eine kleine Sammlung sogenannter künstlerischer Aktfotografien.
»Schweinsköpfe«, sagte Straub und musste lachen. Die Fotografien, es waren acht Stück, zeigten überwiegend etwas fülligere Frauen, die dabei waren, ihre Reize zu enthüllen oder die bereits alle Hüllen hatten fallen lassen. Eine räkelte sich bäuchlings und wie ein Säugling auf einem weißen Fell und sah dabei den Betrachter mit großen und ernsten Augen an. Eine andere war nackt bis auf die Strümpfe; sie hatte einen Fuß auf einen plüschigen Schlafzimmerhocker gestellt und war im Begriff, einen Strumpf abzurollen. Ihr Hintern war Straub zu groß und zu fleischig. Am besten gefiel ihm die mit den dunklen hochgesteckten Haaren und dem leicht anzüglichen Lächeln. Sie verbarg sich zwischen Palmblättern, tat so, als würde sie Verstecken spielen und zeigte dabei weniger als die anderen, dieses Wenige aber – eine ihrer kleinen Brüste, ein langes Bein und natürlich ihr einladendes Lächeln – war weit erotischer als bei den Damen auf den anderen »künstlerischen Aktfotografien«. Auch hatte diese Karte, im Gegensatz zu den anderen, am unteren Ende so etwas wie ein Motto stehen, einen Titel: »Komm, fang mich doch!«, stand da.
Straub besah sich die Fotografien alle noch einmal. Dann nahm er sieben davon und warf sie in den Küchenherd. Die Versteckspielerin aber legte er in die Schublade seines kleinen Esstisches. Sie gefiel ihm.
Kapitel 4
Etwa eine Woche nach Straubs Ankunft auf der Station, kündete sich der Winter mit allen Vorzeichen an, die ihm zu Gebote standen. Vorzeichen, die wohl jeder Laie falsch gedeutet hätte.
Die Temperatur auf dem Gipfel stieg mittags auf zwölf Grad Celsius, Plusgrade wohlgemerkt. An der schindelgetäfelten Außenwand des Turms staute sich die Wärme, und Straub konnte zu seinem kleinen Mittagsmahl draußen sitzen – im Unterhemd. Die Dohlen kamen angeflattert und balgten sich um ein paar Krümel von Straubs Brot.
Er genoss den Blick auf den weiten weißen Schneeferner. Und wenn er aufstand und einmal am Münchner Haus entlangging, bis die Ausschau nach Norden frei wurde, dann sah er über den spaltendurchfurchten Höllenthalferner und das gleichnamige Tal hinaus in die voralpine Landschaft, wo sich die Berge im flacheren Land auswellten wie das Meer an einem Strand.
Bis um zwei Uhr war der Himmel völlig wolkenlos, und die Sicht reichte bis zu den Dolomiten. Die Luft war seidig weich, der Himmel so klar – alles in allem kein gutes Zeichen zu dieser vorgeschrittenen Jahreszeit.
Am späteren Nachmittag legte der Himmel einen zarten Schleier an. Nun trug er einen wässrigen Grauton, durch den jedoch das Blau immer noch zart durchschimmerte. Und dann kam Wind auf, der sich innerhalb einer Stunde zu einem gehörigen Sturm steigerte.
Straub hatte sich fast schon mit dem Gedanken angefreundet, dass es in diesem Jahr vielleicht gar keinen richtigen Winter geben würde. Dass der Herbst sich halten würde bis Januar – und dann gleich ein ganz frühes Frühjahr einsetzte. Er hätte nichts dagegen gehabt. Den Wetterstatistiken zufolge hatte es diese Spitzen nach oben wie nach unten in den letzten hundert Jahren immer einmal gegeben: Sommer, die besonders verregnet, Winter die besonders schneearm waren. Ausgesprochen kalte Augustwochen, unerklärlich warme Januars und Februars. Aber die Erfahrungswerte besagten doch, dass in der Regel Schnee das letzte Laub von den kahl werdenden Bäumen schüttelte, dass also auf den Herbst der Winter folgte, und dass so ein Winter in diesen Breiten fast ein halbes Jahr lang dauern konnte, bisweilen sogar länger.
Zum Abend hin entwickelte sich der Sturm zum Orkan. Wenn Straub vor die Tür trat, musste er sich festhalten, damit er nicht einfach umgeweht wurde. Die Wolken, die sich allmählich gebildet hatten, um dann als immer gewaltigere Wogen aus dem Westen daherzukommen, wurden über die Gipfel hinweggefegt. Sie lösten sich auf und formierten sich neu. Im Licht des abnehmenden Mondes, der mal vernebelt, mal ganz dominant am Himmel stand, wurde dieses Wetter zum grandiosen und zugleich furchteinflößenden Schauspiel.
Ein Föhnsturm, der ungehindert über den Gipfel jagte, der an der Station rüttelte, dass die Balken nur so ächzten, der gegen das Haus schlug und es zum Erzittern brachte, der in den Kamin fuhr und den Rauch beißend in die Räume drängte. Und der den Wetterwart Anselm Straub die ganze Nacht lang kein Auge zumachen ließ. Es erging ihm wie einem Kapitän auf stürmischer See, der nur hoffen konnte, dass sein Schiff den Kurs halten und wenn schon nicht den Kurs halten konnte, so doch wenigstens nicht auseinanderbrach.
In diesen Stunden, allein auf dem hohen Berg, zweifelte er daran, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, sich in eine solche Wildnis zu begeben. Er hatte immer über den Winter nachgedacht und sich gesagt, dass ihm die Kälte nicht so viel ausmachen würde. Er hatte sich gefragt, wie er mit dem Alleinsein zurechtkommen könnte. Und die Antwort war, dass ihm die Zeit allein mit sich selbst bestimmt ganz guttäte, bevor er eine Familie gründen und Kinder in die Welt setzen wollte. Über die Gewalt der Stürme und darüber, dass er Stürme nicht gut ertrug, hatte er vor sich keine Rechenschaft abgegeben. Dabei wäre es so naheliegend gewesen …
Er wusste ja genau, woher seine Angst rührte, wie sie aufgekommen war und sich in ihm festgesetzt hatte.
Vier oder fünf Jahre musste er gewesen sein, damals. Er war an der Hand seiner Mutter in der Stadt spazieren gegangen. Wahrscheinlich hatte er nicht gewusst, dass es sich um die Ludwigstraße unweit des Odeonsplatzes handelte, wo alles geschah, was ihn so verstörte. Sicher hatte er es nicht gewusst, nicht wissen können. Dieses Wissen hatte sich nach und nach hinzuaddiert. Sie waren aus dem Hofgarten gekommen, waren vorbeigegangen am Café Putscher, und er glaubte immer noch, sich erinnern zu können an seine Freude, die vielen Kutschen und Gespanne zu sehen, die auf der breiten Prachtstraße unterwegs waren.
»Oh, dieser schreckliche Trubel«, hatte hingegen seine Mutter gesagt und ihn noch fester an der Hand genommen.
Und dann war es passiert: Eine plötzlich aufkommende, um eine Straßenecke fahrende Windbö hatte seiner Mutter den Hut vom Kopf gerissen. Einen Baretthut, mit Federn und seidenen Blütenblättern kunstvoll verziert. Der Hut wurde in die Luft gerissen, hochgewirbelt, stürzte in den Staub der Straße, geriet neuerlich in die Klauen des Windes, rollte hierhin, rollte nach da, wurde erneut nach oben katapultiert, um schließlich im Pferdedreck zu landen und von den Gäulen der nächsten daherkommenden Kutsche zertreten zu werden.
In dem Moment, da der Wind den Hut fortgerissen hatte, stieß Straubs Mutter einen lauten, hellen, angstvollen Schrei aus. Nur ganz kurz. Aber doch in einer Art, die ihn, den kleinen Buben, bis ins Mark erschütterte. Der kurze Schrecken seiner Mutter übertrug sich auf ihn – um bei ihm ein lang anhaltender, ein ewig währender Schrecken zu werden. Er schrie wie am Spieß. Und er hasste den Sturm.
In dieser Nacht auf der Zugspitze war er voller Angst. Er stellte sich vor, wie der Orkan seinen Turm aus den Verankerungen riss und ihn über sechshundert Höhenmeter auf den Höllenthalferner hinabstürzen würde. Er hörte das Geschirr in den Schränken klappern und konnte geradezu körperlich spüren, dass dieser Sturm versuchte, die Läden an den kleinen Fenstern aus ihren Scharnieren zu reißen.
Straub war nie ein frommer Mensch gewesen, sonst hätte er vielleicht den Blick zum kleinen Kruzifix gerichtet, das im Eck über seinem Esstisch hing und vom flackernden Licht beleuchtet wurde. Er hielt nicht viel von Kirche und Glauben; was er glaubte war, dass die Welt mit der Wissenschaft zur Gänze zu erklären sei. Und dass alles andere, zumindest fast alles andere, Romantik und Märchenzauber wäre.
Doch die Angst war da. War riesengroß. Gewaltig wie die Wolken am frühen Abend. Aus einem der Schränkchen, worin Töpfe, Geschirr und Gewürze lagerten, holte er sich die Rumflasche und trank mindestens so viel, wie in eine Tasse gepasst hätte. So wurde der Sturm leiser und nach und nach verlor er tatsächlich an Bedrohlichkeit.
Er schlief dennoch unruhig, wälzte sich hin und her, träumte wirres Zeug – das Schellen des Telefons am frühen Morgen war eine Erlösung. Er vertröstete den Kollegen um eine Viertelstunde. Dick eingepackt ging er hinaus, um die Wetterwerte erst einmal im Augenschein zu prüfen. Und er war mehr als erstaunt über die völlige Windstille, die jetzt herrschte. Nichts regte sich. Das Gebirge lag da in völliger Lautlosigkeit. Im Osten zeigte sich ein erster heller Schimmer. Und über ihm und im Westen standen die Sterne am Himmel.
Noch hielt der Föhn, der in der Nacht so gewütet hatte, den Winter um ein paar Stunden auf. Aber wenn der Föhn dann zusammenbrechen würde, käme der große Wettersturz. Das stand ganz außer Zweifel. Es war eine Frage von Tagen, vielleicht auch nur noch Stunden. Er wusste es, und wenn er es nicht gewusst hätte, so hätte er es im Urin gespürt. Ganz sicher.
An diesem Morgen war Lidia von Berneis sehr zeitig auf. Sie hatte bereits am Vortag ihr großes Gepäck aufgeben lassen; in Dresden würde alles vom Bahnhof abgeholt werden.
Sie hatte sich von den Schafflers schon am Vorabend verabschiedet und dabei versprochen, im nächsten Frühsommer wieder ins Haus Alpenblick zu kommen. Die Betreiber der Pension hatten es sich aber nicht nehmen lassen, die »liebe Frau von Berneis« nach frühem Frühstück noch einmal in aller Form und mit herzlicher Rührung zu verabschieden. Karl Schaffler selbst brachte sie, nachdem er ihr eine wunderbar weiche und warme Decke umgelegt hatte, mit seinem Einspänner zum Bahnhof.
Dieser Schaffler war ein guter Geschäftsmann, hatte es im Leben zu einigem Erfolg gebracht, was gewiss auch daran lag, dass er die Schliche von Lieferanten durchschaute, dass er niemandem leicht auf den Leim ging. Nur: Auf Frauen verstand er sich nicht besonders. Und so war er kein bisschen verwundert darüber, dass die vorzüglich gekleidete Frau von Berneis einen Koffer mit sich führte, den sie dann beim mehrmaligen Umsteigen zumindest so weit selbst zu tragen hätte, bis ein Dienstmann ihr gegen kleines Entgelt die unbequeme Last abnehmen würde. Auch glaubte er ihr, dass sie die nagelbeschlagenen Bergstiefel, die sie an den Schuhbändern zusammengeknüpft hatte und einfach so mit sich trug, in München, wo sie zwei Stunden Aufenthalt haben würde, bei der altrenommierten Schuhmacherei E. Rid & Sohn in der Fürstenstraße zur Nachbesserung der Nähte vorbeibringen wollte.
Dass sie den Zug nach Murnau und weiter nach München gar nicht erst besteigen würde, dass sie nur darauf wartete, Schafflers Gefährt am Bahnhofsvorplatz wenden und davonfahren zu sehen, ehe sie sich im Waschraum der Station in eine zünftige Hochtouristin verwandeln wür-
de – das wäre ihm, dem grundguten Pensionsbetreiber, nicht im Traume eingefallen.
Als eineinhalb Stunden später beim Bahnhofsvorstand zu Garmisch ein feiner Reisekoffer abgegeben wurde, dessen Inhalt aus einem Rock, einer Bluse, einer Weste sowie Damenstrümpfen, Korsett, Handschuhen, Schuhen und einem Hütchen bestand, war Lidia längst aus dem Ort geschlichen, war an der Partnach entlang gewandert – einen Weg, den sie schon kannte – und dann mutig und völlig allein auf dem Steig, der ausgesetzt die Vordere Klamm durchzog, hinein ins Gebirge.
Sie war so voller Freude. Der Tag war so schön. Nachts hatte es gestürmt. Aber der Sturm hatte alle Wolken vertrieben und den Himmel blau gefegt. Der Morgen war mild, sehr mild für die Jahreszeit. Und außerdem konnte sie sich auf geradezu mädchenhafte Art daran ergötzen, dass ihr das Schelmenstück am Bahnhof so problemlos gelungen war. Jetzt trug sie zu den Nagelschuhen feste Strümpfe, die bis übers Knie reichten, unter dem Lodenrock eine Pumphose, einen gestrickten Pullover und eine Weste aus Jägerleinen. Bis auf die Stiefel war all das und dazu noch der erdfarbene Rucksack im Koffer versteckt gewesen. Auch eine Feldflasche, zwei Scheiben Brot, die sie beim Frühstück abgezweigt hatte sowie zwei Äpfel und eine Birne.
In der Klamm aber überkam sie dann doch ein Gefühl der Unsicherheit und der Besorgnis. Der zum Teil in den Fels gehauene oder mit Balken das tosende Wasser überspannende Weg war auch wirklich dazu angetan, düstere Gedanken aufkommen zu lassen: Bestimmt hundert Meter tief hatte sich hier der Wildbach in das Gestein gefressen. An Stellen, wo sie stehen bleiben und hochschauen konnte, führten nasse, lotrechte, sich nach oben noch verengende Felswände einem schmalen Streifen Himmel entgegen. Das Wasser prasselte hernieder, in rauschenden Kaskaden und in dünnen Tropfenfäden, es rauschte und rann, es wütete und es plätscherte, Moose und Flechten strotzten vor Nässe.
Sie hätte die Klamm auch umgehen und den Weg über die Partnachalm nehmen können oder, etwas umständlicher, übers Graseck. Aber sie wollte es so. Würde sie sich nicht abschrecken lassen von dieser düsteren, feuchten, um diese frühe Stunde besonderes kalt und bedrohlich wirkenden Engstelle auf dem Weg hinauf zur Zugspitze, dann gäbe es wohl nicht mehr viel, was sie von ihrem Vorhaben noch abhalten konnte.
Dunkel waren die in den Fels gehauenen Gänge, und ständig tropfte es in ihr zurückgestecktes Haar, ins Gesicht und manchmal auch in den engen Kragen, von wo es den Nacken hinunterrann und sie schütteln machte. Wie war sie froh, als die Schlucht, in der die Partnach so furchterregend gegen die Felsen schlug, langsam breiter wurde, als mehr Licht einfiel, die steilen Felswände zurücktraten und dort, wo die Landschaft sich schließlich weitete, auch der Wildbach einen vergleichsweise ruhigen Lauf nahm, Harmlosigkeit vorgaukelte.
Sie machte eine kurze Rast, aß die Hälfte von einem ihrer Äpfel und war ein wenig darüber verwundert, dass sie sich beim ersten Mal, da sie durch die Klamm gegangen war – damals aber in Begleitung ihres Gemahls und eines Partenkircher Führers – so gar nicht gefürchtet hatte, diesmal aber doch sehr.




