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Gerade ein gemütlicher Urlaub, ruhige Tage in der Sommerfrische oder aber ein Nachmittag im Garten oder auf dem Balkon bieten die Gelegenheit, wieder einmal zu einem Buch zu greifen. Kein eBook, sondern ein richtiges Buch, das schwer in der Hand wird, das aber eben sich von Buch zu Buch verschieden anfühlt, unterschiedlich riecht, sich in den Schrifttypen unterscheidet und das einem manchmal fremd bleibt, oft aber direkt unter die Haut geht, sodass man mit dem Lesen fast gar nicht aufhören kann oder will. Ein gutes Buch macht einen Urlaubstag erst richtig rund und perfekt.
Versuchen Sie es einfach!
Sendung vom 22. Juli 2012
Gesund altern
Vor etwa einem halben Jahr hat mich eine Einladung erreicht, der ich gerne Folge geleistet habe. Meine alten Mitschülerinnen und Mitschüler aus der Hauptschule St. Gertraud im Lavanttal feierten 50 Jahre Schulabschluss. Ich war nur in der ersten Klasse bei ihnen gewesen, weil ich dann ins Gymnasium wechseln konnte. Aber mit den meisten von ihnen hatte ich doch vier Jahre die Volksschulbank gedrückt, zwei Jahre davon mit meinem eigenen Vater als Lehrer. Als der Lehrerbub hatte ich eine gewisse Sonderstellung: Ich wohnte im Schulhaus, ich hatte Zugang zu Büchern und ich war reichlich unsportlich. Aber die Gemeinschaft war gut, es gibt kaum schmerzliche Erinnerungen an diese Schulzeit.
Das Treffen verlief dann auch sehr herzlich. Natürlich fiel es mir nicht leicht, Namen und Gesichter zu verbinden. Die anderen waren alle bis zum 15. Lebensjahr zusammengeblieben, ich hatte die Gruppe mit elf Jahren verlassen. Rasch war aber Vertrautheit da, wir erzählten uns alle vom Beruf, von den Familien, von Schicksalsschlägen und von glücklichen Momenten.
Dennoch bin ich ganz traurig, ja sogar verstört, wieder nach Hause gefahren. 17 meiner damaligen Mitschüler waren schon verstorben, was immerhin etwa ein Drittel aus der großen Klasse von damals war. Und von den anderen war nur noch ein Selbstständiger aktiv, alle anderen waren Pensionistinnen und Pensionisten.
Subjektiv ist es wohl immer so: Wenn man Personen eine lange Zeit nicht gesehen hat, bemerkt man bei ihnen, dass sie alt geworden sind. Den eigenen schleichenden Veränderungsprozess sieht man nicht, denn der tägliche Blick in den Spiegel bildet trügerisch jeweils ein unverändertes Antlitz ab. Nur auf Fotos im Abstand von Jahrzehnten realisiert man auch die eigene Alterung.
Altern ist also eine sehr persönliche Kategorie. Dennoch: Es gibt auch objektive Faktoren. Die Leute aus meiner Klasse haben ihr Leben im Industrieort Frantschach St. Gertraud verbracht, mit der Luft der großen Papierfabrik, mit der wenigen Sonne im engen Tal und mit harter körperlicher Arbeit in der Fabrik oder beim Bau des eigenen kleinen Hauses. Der Schlapper-Kogel, wo wir als Kinder spielten, wurde parzelliert und hieß bei meinen Mitschülern lange Jahre der Schulden-Kogel, denn der Hausbau brachte große materielle Sorgen. All das hat sich nicht nur in die Gesichter eingeschrieben, sondern wohl auch manches Leben verkürzt. Wie man altert, ja wie man überhaupt alt werden kann, ist ganz entscheidend auch eine soziale Kategorie.
Natürlich werden Arme und Reiche ohne Unterschied von unheilbaren Krankheiten heimgesucht, natürlich kann auch ein Leben in materieller Sicherheit durch Alkohol, Rauchen oder ungesunde Ernährung zu einem frühen Ende kommen. Statistisch gibt es aber einen klaren Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist damit auch der aussagekräftigste Indikator für das Wohlergehen von Gesellschaften. Österreich hat hier in den letzten Jahrzehnten einen guten Platz im Vorderfeld erreicht. Aber die Chancen, in guter körperlicher und geistiger Verfassung alt zu werden, sind ungleich verteilt. Da liegt ein großes Aufgabenfeld für die Gesundheits- und Sozialpolitik der nächsten Jahre vor uns. Gerade der Zugang zur Medizin darf keinesfalls vom Einkommen abhängen. Das muss bei allen Diskussionen um die Schließung von Krankenhäusern und um die Reduktion der Bettenzahl in den Spitälern Richtschnur sein.
Für mich persönlich steht in diesen Tagen in meinem Alterungsprozess eine Grenzüberschreitung bevor. Mein Institut an der Universität richtet mir zum 65. Geburtstag ein Fest aus, das ich wohl auch als Signal interpretiere, dass man langsam ans Abschiednehmen denken sollte. Dabei habe ich ja Glück: die Universität erlaubt mir das Arbeiten noch für einige Jahre. Dennoch, man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Nach allen gesellschaftlichen Messlatten gehöre ich jetzt zu den Alten. Ich fahre mit Seniorenkarte im Zug, ich habe in Museen reduzierten Eintritt und es erschreckt mich nicht mehr, wenn in der Straßenbahn jemand aufsteht, um mir den Sitzplatz anzubieten.
Noch halte ich mich für leistungsfähig. Aber die Gespräche mit Gleichaltrigen drehen sich mehr und mehr um körperliche Beschwerden und erste Vergesslichkeiten. Ich laufe in die Küche und weiß dort nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Ich brauche die Kinder, wenn es um das Erfassen von technischen Änderungen am Computer geht. Und mir fallen Namen oft nicht ein. Das Bücken wird beschwerlich, ich greife zum Schuhlöffel und beobachte mich auch sonst beim Vermeiden von körperlichen Anstrengungen. Vieles ist noch ein kokettes Spiel. Aber es wird ernst, wenn ich daran denke, dass meine Eltern beide nicht mein derzeitiges Alter erreichen konnten, da auch sie durch die Rahmenbedingungen des Lebens im Industrieort in den Lebenschancen beeinträchtigt waren. Klar, sie hatten auch den Krieg und die schweren Jahre davor und danach zu verarbeiten, und die durchschnittliche Lebenserwartung ist im Generationswechsel gewaltig angestiegen, aber sie hatten schlechtere Rahmenbedingungen als ich. Es ist seltsam: Ich möchte nicht jünger sein, aber ich möchte, wenn ich es mir aussuchen dürfte, auch nicht altern. Die Lebensverhältnisse sind also für mich individuell im Lot. Und ich wünsche Ihnen, dass auch Sie gesund und optimistisch Ihre derzeitige Lebenssituation begreifen können.
Sendung vom 27. Jänner 2013
Auf der Flucht
Es fällt schwer, in Tagen wie diesen nicht von den Millionen Menschen zu sprechen, die sich in der Welt auf der Flucht vor Krieg, Terror und Vernichtung befinden. Da sterben jetzt nicht nur im Mittelmeer, sondern direkt bei uns Menschen in unmenschlichen Tansportsystemen. Dramatische Bilder erschüttern uns alle.
Bertold Brecht hat einmal im Gedicht „An die Nachgeborenen“ geschrieben:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Leben wir wirklich schon wieder in solchen finsteren Zeiten? Ich denke eher nicht, denn ich sehe eine breite Welle von Hilfsbereitschaft, von zivilgesellschaftlichem Engagement und von couragiertem Auftreten gegen Hetze und Hass. So gab es am Montag eine beeindruckende Menschenkette vor dem Landhaus in Graz. Aber das ist nicht nur in meinem Lebensumfeld so, sondern erfasst auch Städte und Dörfer, und zwar überall dort, wo konkret Begegnungen mit Flüchtlingen stattfinden.
Auf der Flucht zu sein, das bedeutet Dinge hinter sich zu lassen, die man persönlich für wichtig empfunden hat, die Orientierung geben konnten und die das Leben strukturierten.
Das kann man „Heimat“ nennen, ein Begriff, den ich selbst nur im Plural verwende, denn Geborgenheit kann man, wenn man Glück hat, auch an mehr als einem Ort im Lebenszyklus finden. Es ist aber jedenfalls das Gefühl, das wir jenen Flüchtlingen, die längerfristig bei uns bleiben, langsam vermitteln müssen, das Gefühl des Angenommenseins, der Sicherheit und der Akzeptanz.
Neue Orientierungspunkte zu finden, ist nicht ganz leicht. Dazu braucht man Menschen, die mit Ratschlägen helfen, die Kontakte aufmachen und die die Neuankömmlinge einfach mitnehmen zu Orten und Plätzen, an denen man ein solches Gefühl der Geborgenheit entwickeln kann. Das ist eine Herausforderung, selbst wenn Ortswechsel freiwillig erfolgen.
Selbst ich war fremd, als ich vor 32 Jahren nach Graz gezogen bin, vorerst allein, wenig später mit der ganzen Familie. Hätte man mich nicht in die Südsteiermark mitgenommen, hätte man mich nicht mit dem Kaiser-Josef-Markt vertraut gemacht, dann wären mir Stadt und Umland viel länger fremd geblieben. So aber war es nicht schwer, ein Netz aufzubauen, in dem wir uns nunmehr seit Jahrzehnten gut aufgehoben fühlen können. Das sind Orte, wo man wirklich vertraut agieren kann. Wenn wir in die Weinberge schauen und die Nebel aufsteigen sehen, wenn am Markt der Bärlauch den Frühling ankündigt oder gerade jetzt den reichen Herbst mit allem, was man sich wünschen kann, dann wissen wir, dass wir von hier nicht mehr dauerhaft weg wollen, so spannend und so schön Urlaube in anderen Weltgegenden auch sein können.
Natürlich, wir hatten kaum sprachliche Verständigungsprobleme, obwohl manch steirische Dialektform für uns seltsam klang und sich nicht immer voll erschloss. Und wir waren und sind beruflich und ökonomisch privilegiert. All das machte die Verankerung leicht. Da haben es die Flüchtlinge von heute ungleich schwerer. Sie können sich kaum verständigen und es fehlt auch an den nötigsten Mitteln für das Überleben. Aber etliche von ihnen werden jene Menschen sein, auf die wir in ein paar Jahren stolz sein werden, so wie derzeit auf unser großartiges Fußball-Nationalteam, das fast zur Hälfte aus Spielern mit Migrationshintergrund besteht. Wie etwa Zlatko Junuzović, der es als kleines Kind aus dem Balkankrieg nach Kühnsdorf in Kärnten geschafft hat.
Die Welle der Hilfsbereitschaft, mit der den Flüchtlingen jetzt begegnet wird, kann uns aber stolz machen. Wenn in Ratsch Flüchtlinge bei der Arbeit im Weingarten helfen dürfen, wenn Oberzeiring ein Willkommensfest für die über 100 Flüchtlinge organisiert, die den kleinen Ort bevölkern, wenn in Etmißl beim Grillabend meines Lieblingsgasthofs eine kurdische Gruppe Musik macht, wenn Kirchen- und Dorfgemeinschaften Deutschkurse organisieren, wenn gemeinsam gekocht wird und wenn in diesen Tagen die Kinder der Flüchtlinge in den Schulen willkommen geheißen werden, dann sind das wirklich erfreuliche Signale. Sicher, es wird dauern, bis aus den interkulturellen Begegnungen richtige Integration wird, aber der eingeschlagene Weg macht Mut.
Helfen kann praktisch jeder. Meine Frau, seit zwei Wochen in Pension, sortiert Kleider und Geschirr durch, was als Starthilfe und dann vor allem in den kalten Monaten helfen wird. Wir werden auch eine Familie bei den Amtswegen oder Einkäufen begleiten, um die Sprachbarrieren und Ängste zu reduzieren. Die Universitäten Österreichs entwickeln Programme, um ihre Tore jenen zu öffnen, die im Herkunftsland studiert haben. Nicht alle, aber viele werden so einen Weg in eine neue Normalität finden.
Klar, vieles läuft nicht gut. Die europäische Ebene braucht schrecklich lang, um politische Gesamtlösungen zu erarbeiten. Ungarn baut einen Stacheldrahtzaun, und die Verletzungen zeigen sich an den Händen und Füßen jener verzweifelten Menschen, die den Zaun überwunden haben. Die Logistik für eine vernünftige Verteilung der Flüchtlinge läuft langsam und mühselig an. Und es gibt noch immer Personen und Gruppen, die ihre Ängste hinter Hassparolen verstecken. All das stimmt traurig, aber ich denke doch, dass die positiven Stimmen überwiegen.
Wenn die furchtbaren Kriege in Syrien oder am afrikanischen Kontinent hoffentlich einmal vorbei sein werden, werden viele in ihr Land zurückkehren. Sie sollten sich dann positiv an unser Land erinnern, sollten die Orte, die ihnen temporär Heimat gewesen sind, als Teil ihrer Familiengeschichte bewahren. Und jene, die auf Dauer hier bleiben, sollten, wenn sie es geschafft haben, möglichst viel Positives aus den Wochen und Monaten, die auf die verzweifelte Flucht folgten, bewahren. Sie alle sollten jene Orientierungspunkte finden, unter Menschen und unter unserer Landschaft, die Vertrautheit geschaffen und Sicherheit vermittelt haben. Gemeinsam, die Flüchtlinge und wir, können beide Seiten das schaffen.
Sendung vom 13. September 2015
Grenzen(los)
Immer, wenn Freunde oder Bekannte aus Übersee zu uns nach Graz kommen, planen wir einen Ausflug in die Südsteiermark ein. Wir sitzen dann in Ratsch bei unserem Weinbauern, schauen in die Hügel und sehen am Horizont die Kirche von Sveti Duh, Heiligengeist. Sie liegt jenseits der Grenze zu Slowenien, aber selbst in der Zeit des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs wurden dort gemeinsame Kirchweihfeste gefeiert, wo auch die Menschen aus Leutschach und Umgebung zum Feiern auftauchen konnten. Und wir gehen manchmal durch die romantische Heiligengeistklamm selbst hinauf zur Kirche, überschreiten die Grenze und rasten unter der mächtigen Linde im Kirchhof. Der Blick auf das Grenzland ist atemberaubend.
Auf der Fahrt nach Ratsch nehme ich mit den Gästen den kleinen Umweg über die Weinstraße. Sie staunen über den Verlauf der Grenze, die ja an manchen Stellen sogar mitten in der Straße verläuft. Und einer unserer Spazierwege führt genau der Grenze entlang, hin zum Haus von Pinky Wall, wo die Grenzmarkierung weniger als einen Meter vom Hauseck entfernt ist.
Die Grenze in der Südsteiermark war natürlich vor drei Jahrzehnten gesichert und bewacht. Ein Überschreiten vom Süden nach Norden wurde meist schon im Vorfeld verhindert. Aber symbolisch war der Strich am Straßenrand nie eine Mauer oder ein Zaun, sondern bloß eine Orientierungsmarke zwischen Nachbarn.
Europa ist seither zusammengewachsen. Wir fahren zum Essen nach Kungota und trinken dann Wein in Ratsch. Die Winzer an der Weinstraße haben Weingärten auch südlich der Grenze, die Kulturlandschaft unterscheidet sich kaum. Bei den Arbeiten in den Weinbergen parken Autos mit slowenischen Kennzeichen, die Saisonarbeitskräfte zu den österreichischen Winzern transportieren. Man ist nicht in der Fremde, wenn man die Grenze überschreitet. WoZwarhl hat die erzwungene Grenzziehung von 1919 emotionale Spuren hinterlassen, und sehr wohl gab und gibt es die imaginäre, aber umkämpfte Sprachgrenze. Aber das Jahrhundert hat hier vieles abgemildert.
Und nun wird plötzlich die Errichtung eines Zaunes thematisiert. Ein „Türl mit Seitenteilen“ hat es der Bundeskanzler genannt, von einem grenzsichernden Zaun sprechen andere. Wie soll das gehen? Geht der Zaun über die Geleise der Bahnlinie hinweg, soll er mitten in der Mur verlaufen und mitten auf der Weinstraße? Und welche Funktion soll er haben?
Es ist zuzugestehen, dass es bei jedem Popkonzert und jedem Fußballspiel Sperrgitter gibt, die den Menschenmassen einen geordneten Weg zum Eingangstor weisen, wo man nach Vorlage des Dokumentes, also der Eintrittskarte, Einlass erhält. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wenn Hunderte von hinten nachdrängen, kann es vorne schon eng werden. Ein geordneter Eintritt in unser Land und die Vorlage vorhandener Dokumente sollte die Regel sein, das entspricht den rechtlichen Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft. Aber ein Zaun animiert höchstens Schlepper, um viel Geld um das Hindernis herum Routen anzubieten. Das ist kontraproduktiv. Und ein Zaun kann Menschen, die in Schlauchbooten über das Mittelmeer gekommen sind, die Hunderte Kilometer meist zu Fuß am Balkan hinter sich haben und die mehr als eine Grenze schon überwunden haben, wohl nicht ernsthaft aufhalten.
Die Menschen aus den Kriegsgebieten sind nun einmal da. Etwa jeder Zehnte will in Österreich bleiben, die meisten wollen nach Deutschland. Diese Verteilung entspricht etwa den Größenverhältnissen der beiden Länder, ist also zwischenstaatlich gerecht, obwohl die Last leichter zu schultern wäre, würden sich die anderen Staaten der Europäischen Union an der Aufnahme beteiligen.
Sicher, es wird unter den Menschen, die jetzt zu uns strömen, einige geben, die keinen echten Asylgrund haben. Aber die meisten sind wohl real physisch bedroht, wenn man sie zurückschickt. Wenn man sich, wie bei der von uns betreuten Flüchtlingsfamilie vorstellt, dass der Mann aus der syrischen Armee desertiert ist, weil er nicht auf Landsleute schießen konnte und wollte, wenn man sich seine Frau und sein neugeborenes Kind mitten in der Schlacht um Homs vorstellt, dann ist klar: diese Menschen können derzeit keinesfalls zurück, es wäre ihr sicherer Tod.
Alle jene Österreicherinnen und Österreicher, die Angst vor den Flüchtlingen haben, sollten sich eines Einzelschicksals annehmen, dem Massenleid ein ganz persönliches Gesicht geben. Sie sollten sich von der Flucht erzählen lassen, von den Schockerlebnissen, von dem Zurechtfinden in einer ganz anderen Umwelt. Dann würde man sich plötzlich einem Schicksal gegenübersehen, könnte Empathie entwickeln und helfen. Klar, zur Integration ist es noch ein weiter Weg. Unsere Familie sitzt seit einer Woche in einem Deutschkurs, und das kleine Mädchen, das ja noch gar keine Sprache spricht, wird wohl rasch mit anderen Kindern spielerisch zur Verständigung kommen. Arbeits- und Berufschancen sind noch weit weg, aber es ist wichtig, erste Schritte zu setzen. Daher bitte ich Sie um Mitgefühl und um die Bereitschaft, helfend tätig zu werden.
Sendung vom 8. November 2015
Verklärend erinnern
Es ist gerade eine Woche her, dass wir bei uns zu Hause die Oleanderbüsche in ihren großen, schweren Töpfen in die Garage verfrachtet haben. Sogar der empfindliche Zitronenbaum durfte die ersten drei Novemberwochen noch im Garten verbringen, ehe er sein Winterquartier beziehen musste, so ungewöhnlich warm und sonnig war diese Zeitspanne.
Und heute zünden wir bereits die erste Kerze auf unserem Adventkranz an. Der Übergang von einem fast spätsommerlichen Herbst in die Vorweihnachtszeit kam also heuer besonders abrupt, es war fast ein Sprung und kein langsames Hinübergleiten.
Erinnerungen an die Kindheit mögen wohl manchmal trügerisch sein, verklärt durch die Jahrzehnte und durch das liebevolle Gedenken an die längst verstorbenen Eltern und Großeltern. Aber der Advent ist für mich mit Winter verbunden, mit Schlittenfahren und mit dem Bauen von Schneeburgen, hinter deren Wällen wir Schneebälle sammelten, um bedrohliche Krampusse oder andere Schreckgestalten dieser Jahreszeit abzuwehren. Advent, das waren Eisblumen an den Fensterscheiben und Bratäpfel im Ofen.
Gerade als Historiker, der sich mit einer Epoche beschäftigt, für die es noch Menschen gibt, die die Zeit selbst erlebt haben, weiß ich, wie kompliziert die Sache mit der persönlichen Erinnerung ist. Tatsächlich Erlebtes mischt sich mit dem, was man gehört, gelesen, in Fotoalben gesehen oder mit Freunden diskutiert hat. Erinnern ist ein gesellschaftlicher Vorgang, er vollzieht sich in einem familiären oder breiter sozialen Umfeld.
Lassen Sie mich das mit einem persönlichen Beispiel erläutern. Als meine Familie vor ein paar Jahren bei einer Amerikareise wieder einmal in die kleine Stadt Ithaca im Staat New York kam, wo wir 1990 ein gutes halbes Jahr lebten, antwortete meine Tochter, die 1990 drei Jahre alt war, auf die Frage nach dem Wiedererkennen, sie erinnere sich an fast alles, weiß aber nicht, ob es ihr individuelles Gedächtnis ist, oder nur das gespiegelte Bild der Fotos und Erzählungen, die in der Familiengeschichte ihren großen Platz haben. Sie hat ein Bild der Jahre 1990 und 1991 im Kopf, aber es ist nur zum Teil ihr eigenes Gedächtnis an konkrete Ereignisse und Orte, es wurde von uns Eltern, vom großen Bruder, von Freunden mitgeformt.
Selbst meine Erinnerung an diese nun gerade ein Jahrhundertviertel zurückliegende Adventzeit in den USA ist schon von Nostalgie überformt und durch die eigenen Erzählungen zumindest leicht schräg in meinem Kopf fixiert. Da ist vorerst der Winter in Upstate New York, ein Winter, wie wir ihn hier nicht kennen. Da legen Schneestürme die Stadt schon mal zwei Tage lahm, und wir kämpften uns von unserem Hügel hinab in ein Einkaufszentrum, um einen Flug nach Florida zu buchen, um ein paar Tage der Eiseskälte entfliehen zu können, was wir dann alle mit einem furchtbaren Sonnenbrand bitter bereuten.
Da gibt es aber auch, um die Brücke zum heutigen Tag zu schlagen, die Geschichte unseres Adventkranzes, den meine Frau in einem Bastelkurs mit Freundinnen gebunden hatte. Groß wie ein Wagenrad und schief, so hing er dann in unserer kleinen Wohnung von der Decke, ohne Kerzen, denn die waren und sind dort streng verboten, und wir wollten ihn nicht elektrisch beleuchten. Und es gibt die Geschichte vom Weihnachtsbaum-Schneiden im verschneiten Wald, wo jeder Baum 25 Dollar kostete und unsere Kinder daher auf einen großen Baum bestanden, dessen Transport schon eine einzige Katastrophe war und der schließlich gut einen Meter höher war als unsere Decke im Wohnzimmer.
Erinnerungen verklären. Wir verdrängen den Gutteil der belastenden Erfahrungen und runden die schönen Erlebnisse zur Erinnerung ab. Selbst im Erinnern an Schmerzliches findet sich dann Trost, wie wir das etwa in den Gesprächen mit Menschen, die das Kriegsende erlebt haben und darüber zu reden bereit waren, erfahren konnten. ,,Erzählt, was ihr erlebt habt“ nennt sich die Serie, die samstags in „Steiermark Heute“ ausgestrahlt wurde, und die uns Menschen in ihren Verarbeitungsstrategien beim Erinnern an Schweres und Schreckliches zeigt. Erinnern wird hier zur Botschaft an die nächsten Generationen, zur Warnung vor Aggressionen und Vorurteilen und zum Aufruf zum menschlichen Umgang miteinander.
Wie werden wohl in 20, 50 oder 70 Jahren die Familienerzählungen jener Menschen aussehen, die derzeit jene Schrecken durchmachen, die unsere Generationen der Eltern oder Großeltern erfahren mussten? Wird es ein Bild ergeben, das neben Ängsten und Verlusten auch Platz hat für Hoffnungen, positive Erfahrungen oder gar für Dankbarkeit? Werden schöne Momente verankert sein? Wird man Erleben in die eigene Lebensgeschichte so einordnen können, dass nachkommende Generationen daran teilhaben können, dass sie also Teil des kommunikativen Gedächtnisses werden? Werden diese Menschen einst über Fotoalben sitzen, die sie auf den Fluchtrouten, vor den Zäunen, in den Lagern zeigen? Wie werden dann wir Steirer vorkommen? Als freundliche Helfer oder hartherzige Herbergsverweigerer?
Gerade im derzeitigen Reden von Werten, die Zuwanderer nun von und bei uns lernen sollten, könnten wir uns selbst in der Geschichte der Herbergssuche einer hochschwangeren Frau, die ein Notquartier im Stall zwischen Ochs und Esel findet, recht gut spiegeln.
Sendung vom 29. November 2015
Optimismus und ein Lächeln
Zehn Tage nach dem Jahreswechsel wird wohl bei vielen Menschen ein Teil der guten Vorsätze schon über Bord gegangen sein. Manche werden schon wieder zur Zigarette gegriffen haben, der man strikt abgeschworen hat, andere haben vielleicht den geplanten Morgensport schon wieder eingestellt. Das sind Zeichen von Willensschwäche, aber in zwölf Monaten kann man es ja erneut versuchen.
Wichtig aber wäre es, zwei gute Vorsätze nicht aufzugeben: Der erste ist der Versuch, seiner Umwelt freundlich zu begegnen, den Mitmenschen mit einem Lächeln in die Augen zu blicken. Das macht für alle, nicht zuletzt für mich selbst, den Tag leichter. Und der zweite ist, auch in den schwierigen Zeiten den Optimismus nicht zu verlieren. Sicher, es gibt genügend Gründe, besorgt oder gar verzagt in die Zukunft zu blicken, aber ganz ohne Optimismus, ohne den Willen, die Dinge zum Guten zu wenden, ist der halbe Weg nach unten schon angetreten.
Unsere Eltern und Großeltern können ein Lied davon singen, wie man mit Optimismus und mit dem Glauben an eine gestaltbare Zukunft über Krisen hinwegkommen kann. Es ist heute gerade 70 Jahre her, dass die erste Generalversammlung der Vereinten Nationen tagte, nach einem Krieg, der 60 Millionen Menschenleben gefordert hatte und der mit dem Holocaust das schlimmste Verbrechen der Menschheit in das Geschichtsbuch des blutigen 20. Jahrhunderts eingetragen hatte. Und die UNO führte die Staatengemeinschaft zusammen und verpflichtete alle, drei Jahre nach dem Ende des blutigen Ringens, auf die Erklärung der Menschenrechte.