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«Wohler Anzeiger»
Grossvater Josef Zimmermann (1846-1926) mit Gertrud Heinzelmann, um 1918.
Gertrud Heinzelmanns Jugend im Wohler Bahnhofsquartier ist wohlbehütet. Vermutlich nimmt sie als Kind wenig von den Auseinandersetzungen zwischen den aufbegehrenden Arbeitern und den «Strohbaronen» wahr, die keine besseren Löhne zahlen und die Gewerkschaft nicht anerkennen wollen. Dieses historische Wissen wird sie sich erst später angeeignet haben oder die Eltern erzählen es ihr im Nachhinein. Sicher sind ihr aber die äußeren Unterschiede zwischen der eigenen Familie und den «Fabriklern» in ihren schäbigen Kleidern aufgefallen. Doch zu Hause orientiert man sich nach oben, die Eltern pflegen Kontakt mit dem einen oder anderen Familienmitglied der «Strohbarone» Bruggisser und sind mit Wohlens reichem Mühlebesitzer befreundet. Die Kontaktpflege geschieht im Bewusstsein, dass die väterliche Herkunft nobel ist. Was dies zu bedeuten hat, wird Gertrud und Elisabeth während der Schulferien im Nachbardorf bleibend vor Augen geführt.
Boswil liegt unterhalb des Lindenbergs, wo sich die Moore ausdehnen, durch die das Flüsschen Bünz nach Wohlen hinunter fließt. An klaren Tagen sieht man vom Dorfrand aus am Horizont die ersten Häuser von Wohlen, sehr zum Ärger von Gertrud, dennoch erscheint ihr der Ferienort unvergleichlich. Hier gehören die Heinzelmanns selbst zu den Landhausbesitzern, während sie in Wohlen von ihrer Mietswohnung aus zu den Villen der «Strohbarone» hinüberblicken. Zwar wirkt das Haus aus der Biedermeierzeit verglichen mit dem Eigentum der «Strohbarone» schlicht und unscheinbar, aber für Boswiler Verhältnisse ist es auch in Gertrud Heinzelmanns Kindheit ein feudaler Sitz. Im Dorf gibt es keine Fabrikschlote, keine schmucken Anwesen und keine Besuche ausländischer Unternehmer, stattdessen dominiert seit alters der Kirchturm über den Bauernhäusern, und aus der Ferne mahnt das Kloster Muri. Da fallen standesgemäße Extras ins Gewicht. Die Scheune, in der einst Pferde und Kutsche untergebracht waren, ist nicht wie bei einer Bauernbehausung an das Wohnhaus angebaut, sondern steht vornehm auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zum weiteren Komfort des Hauses zählt in der Küche ein imitierter, antiker Brunnen mit fließendem Wasser. Auf dem Zwischenstock im Treppenhaus steht seit seiner Erfindung ein Wasserklosett. Hier gibt es keine dieser «senkrechten Kegelbahnen», wie Gertrud Heinzelmann die Holztoiletten nennt, die sich bei der Nachbarschaft im Hinterhof befinden. Im Frühling wachsen im Garten hinter Buchseinfassungen Spargeln, damals eine seltene und wenig bekannte Delikatesse. Im Herbst hängen in der Küche Rehe und Hasen aus der Jagd am Lindenberg, und im Glaskasten im oberen Stockwerk sind die Trophäen ausgestellt, besonders prächtige und seltene Vögel, die einst die Vorfahren in den Mooren geschossen hatten. – Soweit einige Annehmlichkeiten des gehobenen Lebensstils, der seinen Charme noch in Gertrud Heinzelmanns Jugend verbreitet.
Die Instanz im Boswiler Anwesen ist Großtante Salesia Rietschi. Auch im Alter von sechzig Jahren ist sie eine gepflegte Erscheinung von schlichter Eleganz, großgewachsen und schlank, mit stets sorgfältig hochgesteckten Haaren. Im Familienkreis heißt es viel sagend: «Sie hat das Dröhtli.» Das bedeutet, sie zeigt aristokratische Haltung und trägt den Kopf majestätisch erhoben, als hätte sie zur Verstärkung einen Draht im Hals. Kein Vergleich mit Babeli Christen von Hinterbüel, ihrer Magd, die bei ihr ein Leben lang dient, Haus und Garten bestellt und von der harten körperlichen Arbeit immer gebückter wird. Salesia Rietschi ist die leibhaftige Summe einer familiären Vergangenheit, die glanzvoller war als die Gegenwart, und dem Abstieg hält sie die geistigen Werte früherer Generationen entgegen.

«Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»
Notiz von Gertrud Heinzelmann auf der Rückseite der Fotografie
Grosstante Salesia Rietschi (ii) vor dem Familiensitz im aargauischen Freiamt, um 1930.
Im Biedermeierhaus saßen im Salon einst die Vornehmen und Gebildeten aus der Region und tranken Tee aus feinem Porzellan. Im unteren Stockwerk befand sich die Praxis und die Apotheke des Hausherrn, des weltgewandten Bezirksarztes Johann Huber, der in der feuchten Umgebung der Moore und im nahen Kloster Muri viel zu kurieren hatte. Im Doktorhaus verkehrten die politisch Fortschrittlichen, Liberale und Freisinnige, die während des Machtkampfes zwischen modernem Staat und katholischer Kirche auf staatlicher Seite gekämpft hatten und wegen ihrer Gesinnung aus der Innerschweiz ins Freiamt flüchten mussten. Häufiger Gast war auch Niclaus Rietschi, ein Sprössling aus der Luzerner Stadtaristokratie, der zum Missfallen der Kirche das erste städtische Seminar für Töchter gegründet hatte und nach liberalen Vorstellungen leitete, bis er vertrieben wurde. Zurück ließ er Hab und Gut, in Kastanienbaum am Vierwaldstättersee die lauschige Villa Krämerstein, einst die Mitgift zu seiner Vermählung mit der florentinischen Aristokratin Salesia Falcini. Einer der Söhne fand im Boswiler Doktorhaus an einer Huber-Tochter Gefallen, und so heirateten sich Blaublütigkeit und der Name Rietschi ins Freiamt ein. Diese Ehe brachte zehn Kinder hervor, darunter Gertrud Heinzelmanns Großmutter Sophie und Großtante Salesia. Der wirtschaftliche Niedergang hatte mit der Vertreibung der Rietschi-Falcini begonnen, und die Tuberkulose, die im Doktorhaus wütete, tat ihr übriges.
Die Großtante und ihr älterer Bruder Theodor sind die letzten, die den Namen Rietschi tragen. Im Dorf verkehrt Salesia nicht mit Krethi und Plethi, und sie legt großen Wert darauf, dass im Kreuzgang der Luzerner Hofkirche die Grabplatte mit den Namen ihrer noblen Vorfahren gut lesbar bleibt. Sie heiratete nie und verdiente ihren Lebensunterhalt als Dorflehrerin. Auf dem Klassenfoto von 1910 erhebt sie ihr Kinn stolz über der Kinderschar, und an ihrer Seite hockt artig Jagdhündin Herta. «Mit etwas aristokratischem Einschlag»9 umschreibt die Boswiler Chronik das «Dröhtli», das nach dörflichem Verständnis als verstiegenes Gehabe erschienen sein mag. Die Dorfjugend setzte der ersten Gemeindelehrerin zu, und sie musste die mittleren Klassen aufgeben, übernahm die Schulanfänger, «wo sie ihre Autorität durchsetzen und wo ihr einwandfreier Unterricht Erfolg bringen konnte», so die Dorfchronik. Ihre Großnichten waren noch nicht auf der Welt, als sie vorzeitig vom Schuldienst zurücktrat. Boswil ernannte seine ehemalige Lehrerin zur Ehrenbürgerin, und die Chronik schilderte sie als «pflichtgetreu, edelgesinnt» und bei Not hilfsbereit.
Ihren Nichten erzählt Salesia aus dem Leben der Vorfahren, als wären es Märchen, und Gertrud bekommt vom Fragen nicht genug. Im Gymnasium oder in den ersten Studiensemestern beginnt sie sich politisch an den väterlichen Vorfahren zu orientieren, die mütterliche Seite interessiert sie kaum. Bei ihren Besuchen im Doktorhaus setzt sich Salesia im Salon auf die Bank des Kachelofens, kramt ein vergilbtes Foto der blaublütigen Falcini hervor, und die Nichte schreibt auf feine Bleistiftlinien in ihr Ahnenbuch: «Die Falcini. Florentiner-Aristokraten, entstammten einem Schloss der Toscana. Aus politischen Gründen mussten sie auswandern.» Dann wechselt sie von schwarzer Tinte zu roter und fügt hinzu: «Sie waren freisinnig.» Zum Foto von Salesia Falcinis Ehemann, dem liberalen Luzerner Stadtaristokraten, notiert sie (schwarze Tinte): «Niclaus Rietschi wirkte als Seminardirektor in Luzern.» Dann in roter Tinte: «Er war freisinnig.» Fortsetzung in Schwarz: «Als in Luzern die konservative Richtung die Oberhand gewann, musste er sein Amt niederlegen.»
Die «gütigen Augen» und das «Dröhtli» der Großtante, ihre aufrechte, distinguierte Haltung, hätten ihr am meisten Eindruck gemacht, sagt Gertrud Heinzelmann. Und weiter hält sie fest: «Mir persönlich hat dies sehr viel bedeutet. Immer. Man hatte ein Qualitätsbewusstsein. Wenn man materiell nicht wählerisch ist, dann fällt man auch im Geist auf eine tiefere Sphäre hinunter. Das lässt sich nicht trennen.» Über sie selber wird es später in Boswil heißen: «Frau Doktor hat es im Köpfli», also aufgepasst, die ist Juristin und die spricht nicht mit jedem. Die Schweizer Schriftstellerin Laure Wyss – sie hatte in den Sechzigerjahren als Journalistin mit Gertrud Heinzelmann oft beruflich zu tun – sagt: «In Boswil war Gertrud Heinzelmann kolossal, und wenn sie in der Gartenlaube ihres Hauses saß, wirkte sie wie eine Gutsherrin.» In der Manier einer Junkerin notiert Gertrud Heinzelmann auf ein altes Foto, auf dem das Haus ihrer Vorfahren zu sehen ist: «Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»
An ihre Großmutter hat Gertrud Heinzelmann keine eigene Erinnerung. Am Arm der Mutter blickt sie als Dreijährige auf das Sterbebett der krebskranken Sophie Heinzelmann, geborene Rietschi. Der Vater wird ihren Nachlass bis auf zwei Fotografien und eine Postkarte aus Brüssel verbrennen, damit nichts an ihr Unglück und das ihrer Söhne erinnere. Eine der beiden Fotografien zeigt sie im mittleren Alter, mit demselben klaren und willensstarken Gesichtsausdruck wie ihre jüngere Schwester Salesia. Auch ihr Blick ist kein bürgerlicher, sondern einer, der von standesbewusster Höhe auf das Gegenüber hinab gerichtet ist. Im Gegensatz zu Salesia zeigen sich in Sophies Gesicht Härte, Resignation und verhaltener Spott.
Sophie Rietschi hatte Charles Maximilian Heinzelmann, einen Deutschen mit Genfer Bürgerrecht, geheiratet. Nach unglücklichen Ehejahren reichte sie als eine der ersten Schweizerinnen die zivile Scheidung ein. Für eine Frau im Jahr 1890 ein kühner Schritt, der mit gesellschaftlichem Abstieg und Ächtung verbunden war. Ihre Großmutter, so Gertrud Heinzelmann, habe es nicht hinnehmen wollen, von ihrem Mann geschlagen zu werden. Nach der Scheidung ließ sie ihre Kinder, Hans war drei und Karl ein Jahr alt, im Freiamt zurück, emigrierte nach Brüssel und arbeitete sich zur Gerantin der königlichen Confiserie hoch. Auf der Treppe zum Geschäft ließ sie sich mit Ladenmädchen und Kundinnen fotografieren und schickte das Bild als Postkarte ihrem ältesten Sohn nach Boswil. Hans wuchs bei Tante Salesia auf, die das Scheidungskind mit dem «Dröhtli» stärkte. Die finanziellen Mittel reichten gerade für eine kaufmännische Ausbildung, und in der königlichen Confiserie in Brüssel absolvierte er ein Praktikum, aber niemand durfte erfahren, dass die Gerantin seine Mutter war.
Karl hingegen traf das schlechtere Los des Zweitgeborenen. Er kommt in ein Kinderheim und ist seither sozial gezeichnet. Die Verwandtschaft bedauert ihn, denn er ist aus demselben Fleisch und Blut, doch gemessen an den familiären Wertvorstellungen schlägt er aus der Art. Er gehört nicht ganz dazu, weil er Liebesaffären hat, die nicht zu geordneten Verhältnissen führen, und weil er trotz Sprachbegabung als Kellner und Straßenwischer durchs Leben vagabundiert. «Er ist nicht ganz geraten, aber auch nicht gefehlt»,10 so Bertha an Bruder Paul. Die familienbewusste Gertrud Heinzelmann besitzt von diesem «armen Tropf» ein einziges Foto, über sein Leben weiß sie fast nichts. Er stirbt im Zweiten Weltkrieg verarmt im Bürgerasyl von Genf.
Im Studium reagiert Gertrud Heinzelmann mit «heisskochender Empörung»11 auf die Benachteiligung der Frauen im damaligen Eherecht. Sie verehrt zeitlebens die Großmutter für ihr Selbstbewusstsein und ihren Unabhängigkeitswillen. In einer ihrer letzten Veröffentlichungen schreibt sie 1991: «Ich bewundere Sophie Rietschi ausserordentlich. Sie hatte den Mut, damals, als es kaum Existenzmöglichkeiten für Frauen gab, sich von ihrem Mann zu befreien und selber für ihre beiden Kinder das Geld zu verdienen.»12 Die Heinzelmanns hätten gerne wieder Rietschi geheißen, aber der verhasste Name ließ sich nicht mehr abstreifen.
Ebenso prägend wie das «Dröhtli» ist in Gertrud Heinzelmanns Jugend die katholische Kirche. Pompöse Kirchenfeste und fromme Volksbräuche prägen ihre Schulzeit. Das Doktorhaus steht in Boswil am Kirchweg, wo die Prozessionen vorüberziehen, und wenn die Großtante mit ihren Nichten Einkäufe tätigt, kommen sie auf ihrem Weg an Bildstöcken und Kruzifixen vorbei. Im Merceriegeschäft, das von zwei Schwestern geführt wird, begutachtet Salesia mit der einen Ladenbesitzerin das Angebot an Stricknadeln, während die andere den Mädchen das kostbarste und selbstverständlich unverkäufliche Stück zeigt: ein langer Metallnagel, der einst im blutigen Fleisch des Gekreuzigten gesteckt haben soll. In ihrem «kindlichen Gemüt», so Gertrud Heinzelmann, habe dieser Nagel einen «unauslöschbaren Eindruck»13 hinterlassen. In Wohlen besucht die Mutter mit ihren Töchtern die Messe, in der an hohen Feiertagen ein Schauspiel geboten wird. An Karsamstagen stehen in der Kirche Felskulissen mit einer Grabnische, und hinter Glaskugeln, die mit gefärbtem Wasser gefüllt sind, brennen Kerzen. Dank Theaterbühnentechnik verschwindet während der Messe Christus mit Getöse in der Grabnische und erscheint wieder von der Kirchendecke hängend als Auferstandener.
Im liberalen Milieu der Heinzelmannschen Familie ist der Umgang mit der Kirche, der Gertrud und Elisabeth vermittelt wird, widersprüchlich. Die Eltern verstehen sich als Katholiken und somit zur Kirche zugehörig, aber ins Private dreinreden lassen sie sich von keinem Geistlichen, am katholischen Vereinsleben nehmen sie nicht teil, von der Konservativen Volkspartei14 distanzieren sie sich, schließlich halten sie es mit den freisinnigen Unternehmern und Industriellen aus dem Wohler Bahnhofsquartier. Wie jeder Rietschi verweigert Hans Heinzelmann den Kirchenbesuch, Bertha hingegen geht wie manche Frau aus liberalen Verhältnissen dennoch zur Messe. Ihr Abseitsstehen demonstrieren die Eltern dem Dorf während der Prozession an Fronleichnam. Die Route führt am großelterlichen Wohnhaus vorbei, der Festumzug hält hier an, der Priester betet an einem eigens aufgestellten Altar, und ein Chor singt. Die Eltern und Großeltern mischen sich nicht unter die Schaulustigen, sondern schließen, für alle sichtbar, die Fensterläden und verschanzen sich im Haus. Trotz dieser Distanzierung setzen die Eltern ihre Tochter der Kirche aus und lassen sie mit ihren Gefühlen allein. Gertrud Heinzelmann beschreibt diese Erfahrung als Erwachsene so:
«Es gehört wohl zu meinen ältesten frühkindlichen Erinnerungen, dass ich am damaligen Wohnsitz meiner Grosseltern zusammen mit dem alten gelähmten Hauseigentümer an einem Fronleichnamstag in den Garten gesetzt wurde, in dem alljährlich ein Altar als Station der volksreichen Prozession aufgebaut war. Die Kunde vom ‹Heiland› (wer hatte mir davon erzählt?) hatte schon lange zuvor mein kindliches Sinnen beschäftigt. Dann – über dem Gartenweg Monstranz, Baldachin, Weihrauch, nie gesehene Gewänder. Allein mit dem gelähmten Greis sass ich in einem von Gebüsch umhegten Chor, einem Geschehen mit überwältigenden Eindrücken preisgegeben, von denen ich nur das Wort ‹Heiland› verstand. Aber diesen mit ungeheurer Gefühlsintensität Erwarteten sah ich nicht trotz aller Anstrengung, aus einer seelischen Spannung fiel ich hoffnungslos in eine nicht zu bewältigende Enttäuschung. Schliesslich löste ein Strom von Tränen Überwältigung und Anspannung. Meine Mutter kam, trug mich in das Haus zurück, in dem die Erwachsenen sich hinter geschlossenen Fensterläden versammelt hatten.»15
Als die Tochter älter ist und ihre Schulklasse an der Fronleichnamsprozession teilnehmen muss, stellt sich der Vater auf die Treppe vor dem großelterlichen Haus, pfeift und ruft seine «Trut» energisch aus der vorbeimarschierenden Menge ins Haus.
Ambivalent muss auch Salesia Rietschis Verhältnis zum Katholizismus gewesen sein. Nach Gutdünken vermittelt die Großtante ihren Nichten frommes Brauchtum, erfindet vor dem Einschlafen lange Gebete, die mehr Gute-Nacht-Geschichten sind. Das Tischgebet spricht sie, während sie der Magd Babeli Christen in der Küche beim Anrichten hilft, mit Schüsseln zum Esstisch kommt und wieder hinaus geht. Für die Kinder, die auf ihren Stühlen warten, ist Folgendes zu hören: «Gib uns unser täglich Brot … Babeli, tüend d’Suppe arichte … Du bist voll der Gnaden … und de no de Schnittlauch dri.»16 Sie liest «Das Vaterland», die federführende Zeitung der Katholisch-Konservativen, doch in Boswil teilt sie jedem, der es wissen will, unmissverständlich mit, dass sie, wie alle Rietschis, eine Freisinnige sei, ergo nichts mit den Rückständigen am Hut habe. Das hört man im Dorf vermutlich nicht allzu gerne, hier dominiert die Konservative Volkspartei, und der H.H. Pfarrer, wie die Dorfchronik «Hochwürden» nennt, ist so einflussreich wie der Gemeindeammann oder der Gemeindeschreiber. Salesia lässt sich in keinem katholischen Dorfverein blicken, weder in der «Marianischen Kongregation» noch im «Katholischen Frauen- und Töchterverein». Sie entzieht sich den Organisationen, die nach verlorenem Kulturkampf von den Katholisch-Konservativen zur Abwehr freisinnigen und liberalen Gedankenguts überall gegründet wurden. Damit nimmt sich die Gemeindelehrerin weltanschaulich Freiheiten heraus, aber nur so weit, als ihr gesellschaftliches Abseitsstehen vom Dorf geduldet wird. Sonntags besucht sie die Messe.

«Salesia Rietschi entstammte einer angesehenen Stadtluzerner Familie mit etwas aristokratischem Einschlag. (…) Sie entschloss sich als begabte Schülerin zur Ausbildung im Lehrerberuf und wurde gleich nach bestandener Abschlussprüfung im Jahre 1879 als Lehrerin an die Mittelschule unserer Gemeinde gewählt.»
Dorfchronik Boswil
Grosstante Salesia Rietschi (1860–1938), Boswil.
Im freisinnigen Elternhaus entgeht Gertrud Heinzelmann nicht der weiblichen Sexualerziehung nach kirchlichem Keuschheitsideal. Abends will Bertha Heinzelmann die Hände ihrer Töchter auf der Bettdecke liegen sehen, ehe sie das Licht löscht und aus dem Mädchenzimmer geht. Ihre körperlichen Entdeckungen und Erfahrungen getraut Gertrud nicht der Mutter anzuvertrauen. Im Religionsunterricht erfährt sie andeutungsweise, dass ihre Entdeckungen ein schlimmes Vergehen sein müssen. Als Achtjährige muss sie mit der Schulklasse beim Religionslehrer, der zugleich Pfarrhelfer ist, zum ersten Mal in die Beichte. Darüber schreibt Gertrud Heinzelmann im Alter:
«Ein nicht ausgesprochener Druck lag auf unserer Mädchenklasse, in den mit violetten Vorhängen verhangenen Beichtstuhl des Pfarrhelfers einzutreten, der uns in die Geheimnisse des vergissmeinnichtblauen Katechismus eingeführt hatte. Aber gerade das wollte ich nicht, unter keinen Umständen, auf keinen Fall. Berührungen am eigenen Körper hatten mich mit den erogenen Zentren, deren Reaktionen und dem schlechten Gewissen vertraut gemacht. Der Beichtspiegel des Katechismus verzeichnete unter den Sünden gegen das 6. Gebot unkeusche Berührungen, verbunden mit der auf eine schwere Sünde schliessenden Frage: Wie oft? Ich weiss nicht mehr, wie der religionslehrende Pfarrhelfer damals (zirka 1922/23) diese Sünde umschrieben hatte. Jedenfalls geriet ich in grosse seelische Nöte.»17
Bevor sie zur Beichte gehen muss, fragt sie die Mutter, ob sie nicht eine Frau wüsste, die an Stelle des Pfarrhelfers hinter dem violetten Vorhang sitzen könnte. Bertha Heinzelmann verneint. Schließlich legt Gertrud wie alle Schülerinnen eine Beichte ab:
«Da ich keinen Ausweg sah, einem Mann meine kindliche Sünde (oder was ich dafür hielt) gebeichtet werden musste, wählte ich den Pfarrer, der mich nicht kannte. Vor dessen mit violetten Vorhängen verhängtem Beichtstuhl kniete kaum ein anderes Kind meiner Klasse. Wie einen Brocken im Erbrechen spuckte ich den Satz aus, den ich wörtlich aus dem Beichtspiegel des vergissmeinnichtblauen ‹Kleinen Katechismus› übernahm.»
Bei der Strohfirma Oskar Bruggisser, wo sich einst Hans Heinzelmann und Bertha Zimmermann von ihren Stehpulten aus verstohlene Blicke zuwarfen und am Lampenschirm zupften, läuft das Auslandgeschäft miserabel. Nach dem Ersten Weltkrieg bringt die Inflation Verlust um Verlust, und der «Strohbaron» verliert beinahe sein ganzes Vermögen. Hans Heinzelmann sieht sich nach einer anderen Arbeit um und wird bei «Zwicky Nähseide und Nähgarn» fündig. Die Familie verlässt 1924 Wohlen und zieht nach Wallisellen bei Zürich. Der Ortswechsel vom katholischen Freiamt in die Umgebung der Stadt, in der einst der Reformator Ulrich Zwingli gewirkt hatte, wird für alle zur Zäsur.
Bertha ist fortan alleinerziehende Mutter, während Hans die meiste Zeit im Jahr für die Nähseidenfabrik unterwegs ist, winters auf Orienttour, sommers auf der Nordreise. Nach Neujahr lässt er Wallisellen jeweils hinter sich, besteigt in Italien das Schiff nach Ägypten, gibt in Kairo, Beirut, Jerusalem und Damaskus für die Kundschaft Einladungen und nimmt Garn- und Fadenbestellungen entgegen, oder weniger angenehm, er muss Schulden eintreiben. Vor Ostern erreicht er die Türkei, wo er sich in Izmir für die Rückreise einschifft. Im Frühsommer folgt eine kurze Kundenfahrt durch Holland, bevor er im Hochsommer zur großen Nordreise durch Dänemark, Schweden und Norwegen aufbricht.
Am ersten Schultag in Wallisellen, als Gertrud Heinzelmann das Zimmer der vierten Klasse betritt, rufen einige Schüler sogleich: «Eine Rothaarige, eine Rothaarige und eine Katholische!» Die sonst so Schlagfertige steht mitten im neuen Schulzimmer und weiß nicht weiter. Alles sei ihr roh und primitiv erschienen, vor allem die Knaben, sagt sie. In Wohlen hatte sie die Mädchenklasse besucht, ein «ruhiges Gewässer», während die Knaben, wie damals in katholischen Gegenden üblich, in die Parallelklasse gingen.
Nach diesem Schultag folgen weitere Erschütterungen, die nächste an einem Sonntag, als Bertha mit ihren Töchtern zur Messe geht. Nichts am Walliseller Gotteshaus erinnert an die Herrschaftlichkeit einer Freiämter Kirche, weder ist der Standort imposant, noch waltet im Innern ein besonderer Glanz: Da ist bloß die Nüchternheit eines Feuerwehrhauses. Das Dorf hatte seine ausgediente Sennerei für die «Zwecke des Feuerlöschwesens» umgebaut und zum Wohl des Gemeinwesens erweitert, mit einem kleinen «Arrestlokal» beispielsweise, das für leichte Fälle wie zur Ausnüchterung von Betrunkenen gedient haben mag. Der einstigen Sennerei wurde, so die Walliseller Gemeindechronik, ein «Schlauch-Tröckneturm» aufgesetzt, und unter diesem Turm, in dem die nassen Feuerwehrschläuche trocknen, beten und beichten sonntags Wallisellens Katholiken. Dies allerdings unterschlägt die Gemeindechronik, denn aus reformierter Sicht ist die katholische Religionsausübung nicht erwähnenswert. In der Gemeinde machen die Katholiken gerade 436 Personen aus, damals knapp ein Fünftel der Einwohnerschaft. Im Stammland des Reformators Zwingli sind die Katholiken einem Briefmarkenclub gleichgestellt, sie dürfen Versammlungen abhalten, aber im öffentlichen Leben sind sie rechtlos. Das wird bis 1963 so bleiben.
Das Feuerwehrhaus dient noch einem anderen Zweck, den die «Geschichte der Gemeinde Wallisellen» ebenfalls unterschlägt. Die Bauern bringen ihr krankes und verunfalltes Vieh hierher. Gertrud Heinzelmann schildert dies an einem Walliseller Seniorennachmittag 1991 so: «Noch heute ist die unterste Türe angeschrieben mit ‹Notschlachtraum›. Das war damals schon so gewesen, die erste Türe war die Notschlachtung. Es kam ab und zu vor, dass gegen Ende der Woche hier sogenanntes Fallvieh oder Versicherungsvieh geschlachtet wurde. Am Samstag oder Sonntag sind dann die Katholiken durch die Türe nebenan zum Gottesdienst.»18 Für die Messe unter dem «Schlauch-Tröckneturm» kommt der Priester aus dem Nachbardorf und improvisiert zwischen notdürftigem Mobiliar: «Die katholische Kirche bestand aus einem Vorraum, von hier gingen ein paar Treppentrittli hinauf. Man kam in einen langgestreckten Raum, ich glaube heute sind hier Garagen, der Boden des Raumes war aus weißgetünchten Backsteinen. Drei Bänke ohne Rückenlehne standen hier, und es gab eine blinde Türe mit einem Gitter. Das war dann bei Bedarf der Beichtstuhl. Man hat die Türe einfach geöffnet, und oh Schreck, ohne Vorhänge, man konnte zuschauen, ad libitum, wenn man im hintersten Bank sass.» Samstags zieht ein Kind durch Wallisellen und sagt an jeder katholischen Haustüre sein Sätzlein auf: «Bitte kaufen Sie einen Backstein für die Kapelle!» Die Katholiken sammeln für den Bau einer eigenen Kirche, ein mühseliges Geldauftreiben, denn viele stammen aus ärmlichen Verhältnissen, zogen vom Hinterland ins industrialisierte, reiche Zürich und haben hier als Fabrikarbeiter, Handwerker oder Dienstmädchen ein mageres Auskommen. Kommt hinzu, dass sie wie alle Einwohner Steuern zahlen, aber als staatlich nicht anerkannte Glaubensgemeinschaft für den Kirchenbau kein Anrecht auf Steuergelder haben. Mit ihrem Geld finanzieren sie die Kirchen der Reformierten.





