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Der protestantischen Mehrheit sind die katholischen Einwanderer fremd, ob sie nun aus der Innerschweiz oder aus dem Tirol stammen, und weil sie aus wirtschaftlich schwachen Regionen kommen, gelten sie als hinterwäldlerisch, in jeder Hinsicht rückständig und auf alle Fälle «sternehagelsaudumm». Da nützen der Familie Heinzelmann weder liberale Vorfahren, noch hilft ein Tropfen aristokratischen Bluts. Es spielt auch keine Rolle, dass Bertha und ihre Töchter in Wallisellen zu den «besser Frisierten» zählen, sich den Luxus von gepflegten Haaren leisten können und Kleider aus kostspieligerem Stoff tragen als viele Einheimische. Für die Reformierten sind sie schlicht «Katholen», auf die man grundsätzlich hinunterschaut. Gertrud Heinzelmann am Seniorennachmittag: «Wir waren ausgegrenzt gewesen in diesem reformierten Milieu, das sich für rechtdenkend hielt, etwas pietistisch. Wir standen irgendwie in einem Abstand.»
Auf die damalige Zurücksetzung reagiert die elfjährige Gertrud in der Schule mit Leistung. Rückblickend sagt sie: «Ich wollte denen doch klarmachen, dass ich erstens einmal nicht nur gescheit bin, sondern wie sich dann sehr rasch zeigte, die Gescheiteste in der Klasse war.» Dank der traditionellen katholischen Mädchenerziehung kann sie, obwohl dazu wenig talentiert, selbst im Handarbeitsunterricht triumphieren: «In Wohlen hatten wir harten Handarbeitsunterricht, wir mussten lange Strümpfe stricken. Im Kanton Zürich hatten sie erst Waschlappen und solche Sachen genäht.» Zugeknöpft und elitär sei sie in der Schule gewesen, zwischen ihr und der Klasse habe eine Barriere bestanden, sagen einstige Mitschülerinnen übereinstimmend. Sie wird aber auch als auffallend mutig und selbstbewusst beschrieben, als eine, die sich zu Wort meldete und gegenüber dem Lehrer die eigene Meinung vertrat.
Die gesellschaftliche Benachteiligung stärkt Gertrud Heinzelmann, sie lernt sich zu behaupten und wird kämpferisch. In Wallisellen beginnt sie auch, sich gegen die Diskriminierung in der eigenen Konfession aufzulehnen. Im Feuerwehrhaus fasziniert sie dieses geheimnisvolle Geschehen am Altar, das kaum zu sehen ist, weil der Priester und seine Diener dabei den Gläubigen die Rücken zukehren. Sie beneidet die Ministranten, die beim Altar stehen und dem Priester zusehen dürfen. Hingegen ist das Beichten an der blinden Türe, ohne Schutz der violetten Vorgänge, für Gertrud Heinzelmann noch belastender, als es schon in Wohlen war. Als Schülerin zum Religionsunterricht und Messebesuch verpflichtet, tut sie in den höheren Schulklassen, was damals unter Männern weit verbreitet ist. Sie besucht, wenn sie zur Beichte muss, eine andere Kirche, wo der Priester sie nicht kennt, um sich möglichst dem Zugriff auf das eigene Innenleben zu entziehen. Trotz diesen Schwierigkeiten entwickelt sie, je älter sie wird, religiöse Neigungen. An einem Sonntag sieht sie im Feuerwehrhaus unter den Ministranten einen gleichaltrigen Knaben aus der Nachbarschaft: «Ich verachtete ihn, denn er war ein Schlingel, hatte selten eine geputzte Nase und war ziemlich dumm. Ich war überzeugt, dass ich mich am Altar sehr viel besser ausgenommen hätte.»19 Gewillt, einen würdigeren Anblick als der Nachbarsjunge abzugeben, bestürmt sie den Priester, ebenfalls ministrieren zu dürfen. Doch auch in einem Feuerwehrhaus ist in den Zwanzigerjahren ein Mädchen im Ministrantenrock und mit Weihrauchfass am heiligsten Ort unvorstellbar. Gertrud gibt nicht nach, setzt dem Priester zu, bis er ihr erlaubt, als Abfindung gewissermaßen, nach der Messe die Geldspenden einzusammeln. Ein Mädchen mit der Opferbüchse sei damals, so Gertrud Heinzelmann, bereits ein Tabubruch gewesen.

Um nach dem Zürichhorn zu gelangen, mussten wir etwa 3–4 Spalten überqueren. Bei der 1. gab ich nicht besonders Acht, fiel und riss mir stark die Hand auf. Die letzte Spalte war die gefährlichste. Fortwährend gluckste das Wasser hervor und es begann in ihrer Nähe ordentlich zu krosen und krachen. Auf dem Rückweg benutzten wir aber ein Brett, um wieder heimwärts zu gelangen.»
Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann
Mutter Bertha (2. v. li.), Gertrud (2. v. re.) und Elisabeth auf dem zugefrorenen Zürichsee 1929.
In Wallisellen kennen die Heinzelmanns die anderen katholischen Familien, und Tochter Gertrud weiß genau, welche sie für liberal und welche sie für konservativ zu halten hat. Wohl verkehrt man mit der einen oder anderen, selbstverständlich mit den fortschrittlichen und «besser Frisierten», doch auch in der protestantischen Umklammerung sucht die Familie keine katholische Nähe. Im Dorf gäbe es beispielsweise den «Katholischen Frauen- und Mütterverein» zur Unterstützung in Erziehungs- und Familienfragen oder die «Töchterkongregation» zur Anleitung der Heranwachsenden zu einem christlich-sittlichen Lebenswandel. Gertrud macht eine Zeit lang bei «Iduna» mit, dem konfessionell und politisch neutralen Mädchenverband innerhalb der Antialkoholbewegung, und Bertha weiß auch ohne kirchliche Anleitung, wie sie ihre pubertierenden Töchter zu erziehen hat. Sie, das ehemalige Bürofräulein, besucht 1928 mit ihren Töchtern in Bern die SAFFA, die erste «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit», zu deren Eröffnung mit einer riesigen Schnecke gegen das vorenthaltene Frauenstimmrecht protestiert wurde. Vehement wehrt sie sich jedoch dagegen, dass Gertrud und Elisabeth, die gerne modische Bubikopf-Frisuren hätten, ihre langen Zöpfe abschneiden und zügelt ihre Sinnlichkeit. Als Onkel Frank aus London schreibt, sein Sohn habe tanzen gelernt und den ersten Ball erlebt, begehrt Gertrud auf, sie müsse hundertjährig werden, bis ihr dies auch erlaubt würde. Berthas Kommentar: «S’stimmt schon!! ha ha ha ha. Mer händ au nid alles gha & sind gliech gross worde! Ich lasse sie lieber Ski fahren als tanzen, da chund nu früeli gnue!»20 Den Töchtern gibt sie unmissverständlich zu verstehen, dass nur Dienstmädchen uneheliche Kinder haben, im Heinzelmannschen Haushalt solches jedoch nicht vorkomme, demnach gebe es einzig Enthaltsamkeit. Als Gertruds reformierte Mitschülerinnen im letzten Schuljahr den Konfirmationsunterricht besuchen, lädt der Pfarrer für den Aufklärungsunterricht Rosa Gutknecht ein. Sie ist die erste Pfarrerin von Zürich, arbeiten darf sie am Großmünster jedoch lediglich als Pfarrhelferin. Im weißen Stehkragen sei sie dagestanden, erinnert sich Gertruds Schulkollegin Hedy Bierter-Würgler, und habe ihnen das Übliche mit etwa diesen Worten geraten: «Wenn Sie unbedingt einen Freund haben müssen, stehen Sie mit ihm nachts immer unter eine Strassenlampe, damit die Passanten sehen können, was passiert.»
Gertrud und Elisabeth haben Berthas Lektion wohl verstanden und verkünden den Mitschülerinnen im Brustton unerschütterlicher Überzeugung, sie seien aus anderem Holz und keineswegs heiratslustig. «Mir sind nöd ghüratig», sagen die Schwestern und machen Gertruds Schul- und Studienkolleginnen derart Eindruck, dass keine diesen Satz vergisst. Doch Bertha scheint ihren Töchtern nicht ganz zu trauen und sorgt dafür, dass jede den erforderlichen Schliff erhält. Die Jüngere wird für mehrere Wochen nach Zürich an den Zeltweg in die Koch- und Haushaltungsschule der Elisabeth Fülscher geschickt, der Älteren wird dieser Schliff nur insofern erlassen, als sie ihn privat erhält. Bertha nimmt Gertruds Kochausbildung systematisch an die Hand, durch jeden Kochgang wird die Tochter «duretrüllet», angefangen beim Suppenkochen, weiter zum Braten, Garen, Schmoren bis zum Backen und Servieren.
Jahre später, Gertrud und Elisabeth sind inzwischen 21 und 19 geworden, betrachtet Bertha befriedigt den Erfolg ihrer Erziehungsmaßnahmen und meldet nach Brasilien: «Die Maitli sind fleissig & lieb, wir können mit den Kindern sehr zufrieden sein! Schon manches Maitli von Trutlis Klasse ist verheiratet & gewöhnl. war ein Muss dabei.»21
Ab Frühling 1931 besucht Gertrud Heinzelmann die «Höhere Töchterschule», das Mädchengymnasium von Zürich. In den Schulbänken sitzen Töchter von hohen Beamten, von Warenhaus- und Fabrikdirektoren, man wohnt in Zürichs besseren Quartieren, verkehrt gesellschaftlich unter seinesgleichen, bevorzugt beim Einkaufen protestantische Läden, und aus Prinzip stellt der eine oder andere Familienvater im Kader seines Betriebes keine Katholiken an. Doch zu Hause lassen sich die Töchter von katholischen Dienstmädchen bedienen, die man wegen mangelnder Manieren und fehlender Bildung und wegen ihrer andersartigen Bräuche belächelt. Nur wenige in der Klasse kommen aus bescheideneren Verhältnissen. Zum Erstaunen der Mitschülerinnen gibt sich Gertrud Heinzelmann als Katholikin zu erkennen, vom «Dröhtli» gefestigt und im stolzen Bewusstsein, einen freisinnig-liberalen Stammbaum zu haben, kurz, eine Herkunft vorweisen zu können, die nichts mit derjenigen von katholischen Dienstmädchen aus armen Landgegenden gemein hat. Im Übrigen ist sie zurückhaltend und gibt wenig Persönliches preis. Und wieder lernt sie für gute Schulnoten und ist stets sattelfest im Abfragewissen. Ihr aussergewöhnliches Gedächtnis beeindruckt, doch für diejenigen Mitschülerinnen, die sich auch für anderes als einzig für Lernstoff interessieren, ist sie keine Kameradin, der man nachgeeifert hätte. Hanny Zimmermann, die sich in der Klasse am besten bei Schlagern auskennt und später Zahnärztin werden wird, charakterisiert Gertrud Heinzelmann so: «Sie konnte sehr fröhlich und lustig sein, sie konnte bei Blödsinn mitmachen, sie war nicht stur, gar nicht. Aber ich hätte sie nie als Rivalin empfunden, wenn es darum gegangen wäre, in einer Tanzstunde mitzumachen. Da hat sie a priori nicht dazugehört.» Und Gerda Zeltner-Neukomm, die sich in der «Neuen Zürcher Zeitung», als Literaturkritikerin und Frankreichkennerin einen Namen machen wird, sagt: «Sie fiel mir damals auf, weil sie überhaupt nicht eitel war. Sie wollte nicht gefallen und hatte eine ganz besondere Sicherheit. Aus ihren Antworten habe ich immer gespürt, dass sie im Gegensatz vielleicht zu allen anderen von sich selbst absehen konnte.»
Als das Abitur näher rückt, und sich Gertrud Heinzelmann für eine Studienrichtung entscheiden muss, nimmt sie auf die finanzielle Situation ihres Vaters Rücksicht und fällt einen Vernunftentscheid:
«Ich habe lange zwischen Jus & Medizin geschwankt, aber das med. Studium geht minimal 13 Semester (Jus 6–8), ist sehr viel teurer als Jus & stellt sehr grosse Anforderungen an die Gesundheit, & nachher sind die Aussichten doch kaum günstiger als für Juristen.»22
Hans Heinzelmanns beruflicher Wechsel hatte sich nicht als ein glücklicher erwiesen. Exporteinbrüche und als neues Phänomen der zunehmend schnellere Wechsel der Kleidermode setzen nicht nur der Strohindustrie, sondern auch dem Faden- und Garnhandel zu. Die goldenen Jahre, in denen zur Damengarderobe Seidenstoffe, Stickereien und Borten gehörten und «Zwicky Nähseide und Nähgarn» in europäischen Metropolen eigene Agenturen und Fabrikationsfilialen eröffnen konnte, sind längst Vergangenheit. Zudem konkurrenziert der Kunstseidenfaden, billiger und zäher als Nähseide, die Fäden aus der Walliseller Zwirnerei. Die Verkaufsresultate, die Hans Heinzelmann auf seinen Reisen erzielt, sind ständigen Schwankungen unterworfen, trotz allem sind sie in seinen ersten Jahren noch zufrieden stellend. Aus Ägypten meldet er im Februar 1924: «Hiermit wieder ein Lebenszeichen. Geschäftlich geht es gut, ebenfalls gesundheitlich.» — Im Juni aus dem niederländischen Nobelbad Scheveningen: «Geschäfte gut, Wetter schlecht, Gesundheit dürfte besser sein, Klimawechsel hat mir zugesetzt.» – Im November aus Kopenhagen: «Bin wohlauf. Geschäft recht.» – Wiederum aus Kopenhagen zwei Jahre später im Juni 1926: «Bin stets wohlauf, mit etwas Rheumatismus zwar, aber glaub’s der Teufel bei diesem Hunde-Wetter. – Geschäftlich ging es in letzter Zeit besser.»23 Dank Umsatzbeteiligung am Auslandgeschäft verdient er überdurchschnittlich, doch dann kommt die Weltwirtschaftskrise, gefolgt von Inflation, Währungsreformen und Einfuhrbeschränkungen. «Wir haben hier wieder elendes Wetter; & die Geschäfte gehen nicht besonders gut», schreibt er im April 1930 aus Schweden und im November aus Finnland: «Bin wohlauf. – Geschäfte dürften besser sein.» Und: «Geschäfte sollten besser sein»,24 meldet er im nächsten Jahr aus Dänemark. In Wallisellen stehen die Zwirnmaschinen still und «Zwicky» muss einen Teil der Belegschaft entlassen. Das Auf und Ab der Verkaufszahlen drückt Bertha aufs Gemüt. Ihre Berichte an Paul zeigen Sorgen und Belastung deutlicher, als dies Hans auf seinen Postkarten an Salesia Rietschi eingesteht. «Er kann sich nicht rühmen übers Geschäft & strengt sich ausserordentl. an, um wenigstens kleine Pöstchen zu ergattern», schreibt Bertha im Frühling 1931, und im Herbst meldet sie erleichtert: «Wir sind zwäg = Vater ist in Kopenhagen. Dadurch, dass die Damenmode länger geworden ist, braucht er gerade das doppelte Quantum wie früher für die Damenconfection & kann dort am Platze ordli arbeiten. Wir haben es so nötig. Wie’s dann weiter nördlich wird, ist fraglich, doch habe ich letzte Woche in der ‹Neue Zürcher Zeitung› gelesen, dass der Streik in Norwegen endlich gebrochen ist.»25 Dann wieder ernüchtert: «Morgen kommt Hans von seiner Holland-Reise zurück, wo er schlecht abgeschnitten hat, es wollte niemand bestellen! Die Leute sind überall so niedergeschlagen!»26
Gertruds Studienwahl erhält familienintern Anerkennung, und aus Brasilien lässt Paul seine Schwester Bertha befriedigt wissen: «Heute überraschte mich der charmante Brief v. Student. Die Überlegung, sich als Jurist auszubilden, aus dem einfachen Grund, weil das Studium kürzer & das materielle Rendement analog der Mediziner ausfällt, fand meine Anerkennung. Kurz, der Brief zeigt klaren Menschenverstand.» Daraufhin gewährt Paul seiner Schwester freien Zugriff auf seine Bankkonten: «Ich kenne Deine Tugenden als bewährte Stauffacherin & erwarte weder Dankesrufe noch Lobgesang, sondern vernünftige Verwaltung.»27 Trotz Krise sollen seine Nichten eine «erstklassige» Ausbildung bekommen und Ferien geniessen. Mit schlechtem Gewissen – «ich hatte immer das Gefühl, als tue ich ein Unrecht» – lässt sich Bertha von seinem Konto Geld auszahlen und entschuldigt sich:
«Wir geben uns Mühe uns der Situation anzupassen. Hans & ich gehen jeder unnötigen Ausgabe ängstl. aus dem Weg – & danken Gott, dass Hans doch immer noch eine Anstellung hat & unser Brot verdient. Ausser den paar Tag Ferien, die wir uns erlaubten – trieben wir keinen Luxus. Wir hatten gesundes Essen & gesundes Wohnen und das kostet so viel – dass wir immer zielen mussten durchzukommen.»28
Mit Stolz fügt sie hinzu: «Die Kinder entfalten sich gut zu uns. grössten Freude – natürl. kosten sie, es müssen Opfer gebracht werden.» Elisabeth wird eine Lehre als Damenschneiderin beginnen und später die Kunstschule besuchen, Gertrud nimmt an der Universität Zürich ihr Rechtsstudium in Angriff. Sie tritt dem Schweizer Frauen-Alpenclub bei und fährt im August 1935 abenteuerlustig mit den Anfängerinnen ins Wallis. Was sie hier erlebt, schildert sie ihrem brasilianischen Gönner auf drei Briefseiten, zum Beweis, dass sie seiner Förderung würdig sei.

«Es wurde 9h, bis wir den Einstieg in den Felsen erreichten, dann aber folgte eine 4-stündige Gratkletterei, wie ich vorher noch keine gemacht habe, sehr rassig war sie. Der Westgrat des Besso ist an Schönheit & Schwierigkeit dem Matterhorn ebenbürtig.»
Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann
Gertrud Heinzelmann am Seil des Bergführers im Val de Zinal, Wallis, 1935.
Im Val de Zinal übt sie Klettergriffe – «an einer Wand hing der Rücken, an der andern die Schuhnägel»29 – und auf dem Weisshorngletscher lernt sie den korrekten Umgang mit dem Eispickel. Das Üben ist ihr schon bald zu wenig: «Ich gesellte mich zu den Kanonen zur Diablon-Traverse.» Der Bergführer schätzt das Können der «Kanone» anders ein und nimmt sie aus Sicherheitsgründen zuvorderst ans Seil, sollte sie auf dem Grat aus Unerfahrenheit eine falsche Bewegung machen oder vor Müdigkeit stolpern. Nach Braslien meldet die «Kanone»: «Obwohl ich weitaus die jüngste war, hatte ich die Ehre am Führerseil zuorderst zu sein.» Es sei eine «sehr schöne Klettertour» geworden. Nach einem Ruhetag und einer Nacht auf «höllisch harten Strohsäcken» wagt sich Gertrud Heinzelmann an ihren ersten Viertausender, den Westgrat von Besso. Während Stunden klettert sie in schwindelnder Höhe einem Grat entlang, sieht in den Abgrund hinunter, darf den Mut nicht verlieren und darf nicht aufgeben, auch wenn sie möchte, sie muss Müdigkeit überwinden, mit schmerzenden Füssen und klammen Fingern fertig werden, alles nicht der Rede wert, jedenfalls gesteht sie ihrem Onkel nichts dergleichen ein. Die Tour gelingt – «rassig war sie». Doch «zu feig» sei die Mannschaft gewesen, um nach dem Abstieg noch am selben Tag ins Tal nach Zinal zu den wartenden Kolleginnen hinunter zu «tippeln». Die Gruppe übernachtet inmitten von Gletschern in der Mountet-Hütte. Am nächsten Tag blicken die Kletterinnen bei strahlend blauem Himmel am Zinalrothorn empor – «der wunderbare Gipfel lockte immer mehr» – und drei Kolleginnen und Gertrud Heinzelmann nehmen sich vor, auch diesen Viertausender zu erklimmen. Auf seinem Gipfel befindet man sich auf Augenhöhe mit den Berühmtesten, dem Matterhorn und der Dufourspitze, und weit, weit unten liegt der Kurort Zermatt. Vor Sonnenaufgang ziehen sie mit zwei Bergführern los, durchqueren den Gletscher, der steil zum vereisten Blanc-Grat hinaufführt. Hier werden sie von einem Wetterumsturz überrascht: «Leider hatte das Wetter sich verschlechtert, auf dem Grat begrüsste uns ein förmlicher Sturm, der einem den Pickel direkt in der Hand schüttelte, wenn man ihn einstecken wollte.» Ein Unwetter mit bissigen Windböen, einschlagenden Blitzen und heftigem Eisregen, der die Felsen im Handumdrehen glitschig und gefährlich macht, alles möglich, aber die «Kanone» schreibt dazu nichts. Die Gruppe kehrt nicht um, kämpft unter Lebensgefahr auf dem Eisgrat weiter, erreicht schliesslich den blanken Granit – «nur schade, dass ausgerechnet jetzt ein Hagelwetter ausbrach» – und klettert, zu allem entschlossen, am Felsen hoch. «Um 9 h war der Gipfel geschafft. Vor Freude über unsere Leistung flogen sich alle förmlich in die ‹Arme›, meine Kameradin & ich erhielten zur Feier des grossen Moments von unserem Führer ein ‹baiser pour le grand courage›.» Der Sturm tobt auch während des Abstiegs, der nicht ohne «Intermezzi» verläuft, wie Gertrud Heinzelmann die Zwischenfälle umschreibt, die glücklicherweise harmlos verlaufen, vielleicht ebenso hätten tödlich enden können. Der Betreiber der Mountet-Hütte, ein erfahrener Alpinist, befürchtet längst Schlimmes und sucht mit dem Fernglas den Grat und die Felsen ab. Dann, am frühen Nachmittag, trifft die Gruppe wohlbehalten «beim Papa Hüttenwart» ein: «Der Alte war fast ausser sich vor Freude, dass wir trotz des schlechten Wetters das Zinalrothorn geschafft hatten.»
Die 21-jährige Gertrud Heinzelmann kehrt erschöpft nach Wallisellen zurück – «die ganze letzte Woche noch hatte ich nachzuschlafen» – doch am Schluss ihres Briefes lässt sie Onkel Paul wissen:
«N.B. Zinalrothorn ist schwieriger als Matterhorn.»
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