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Die Zen-Meditation ist die unbedingte Voraussetzung zur Erleuchtung. Deshalb wird sie im Zen-Buddhismus als unentbehrliche Praxis auf unserem Weg zur Verwirklichung angesehen. Doch hat sich erst einmal unser inneres Auge der Erleuchtung geöffnet, wird die Meditation keine besondere Übung mehr sein. Denn sie wird jetzt zu einem ganz natürlichen und spontanen Ausdruck unseres täglichen Lebens. Ob wir sitzen oder stehen, wo wir auch sind und was wir gerade tun, alles wird zur wunderbaren Meditation.
In diesem Bewusstseinszustand des anstrengungslosen, mühelosen Gewahrseins des Geistes befinden wir uns in der allumfassenden Ganzheit des Seins und erleben uns als eins mit allen Wesen. Zen-Meister Fen-yan (11. Jh.) gibt uns eine sehr gute Beschreibung dieser hohen Zen-Verwirklichung nach der Erleuchtung:
Ist das Zen zu deinem natürlichen Leben geworden, so bleibt dein Geist gelassen und wird von weltlichen Belangen nicht berührt. Du befindest dich im Reich der Erleuchtung, transzendierst die gewöhnliche Welt und bist vollkommen frei inmitten der Menschen. So bist du in vollkommener Einheit mit dem, was jenseits der Welt ist, und umfängst zugleich, was in den Bereichen des Daseins ist.
Das hier Gesagte bezieht sich auf jene absolute Verwirklichung, bei der das Mumonkan, »Das torlose Tor« zur grenzenlosen Befreiung, wirklich vollkommen durchschritten wurde. Denn nur wenn wir wirklich »tiefgreifendes Satori«, die große Erleuchtung, erfahren haben und nicht nur ein kurzes Aufblitzen unserer Wesensnatur, dann ist dies die große Befreiung. Doch obwohl Satori in einem Augenblick erfahren wird, muss dieses erleuchtete Bewusstsein von hellstrahlender Klarheit über eine lange Zeit mitten im Leben gefestigt werden. Dann erst gelangen wir zur Hum-Verwirklichung mitten in der Welt.
Dieses verwirklichte, hellklare Bewusstsein kann nicht mehr verloren gehen. Das ganze Sein hat sich gewandelt, so dass unser ganzes Leben zu einer Erfahrung der allumfassenden Ganzheit des Seins geworden ist. Hierdurch erleben wir Samsara und Nirvana als untrennbare Einheit.
Koan-Praxis
Ein weiteres wesentliches Element, neben der Meditation, ist im Zen die Auseinandersetzung mit einem »Koan«. Ein Koan ist ein Paradoxon, ein geistiges Problem, das der Zen-Schüler von seinem Meister erhält und dessen Auflösung mittels seines unterscheidenden Denkens nicht möglich ist. Es ist ein praktisches und äußerst kunstvolles Hilfsmittel, das die alten chinesischen Meister geschaffen haben, um uns in unserem Bemühen um Erleuchtung zu helfen.
Die großen chinesischen Meister des goldenen Zeitalters des Zen waren sehr schöpferische Geister, die die Fähigkeit besaßen, spontan Koans hervorzubringen, die dem jeweiligen Bewusstseinszustand ihrer Schüler angepasst waren.
Eines der bekanntesten Koans ist das folgende aus dem Mumonkan, dem »Torlosen Tor«, einer Koan-Sammlung aus dem 13. Jahrhundert des chinesischen Zen-Meisters Mumon:
Es ist wie bei einem Zen-Mönch, der sich mit seinen Zähnen an einem Zweig eines hohen Baumes festgebissen hat, ohne jeden anderen Halt. Seine Hände können keinen Ast ergreifen, seine Füße können den Baum nicht berühren.
Ein vorbeiziehender Wanderer bleibt unter dem Baum stehen und fragt ihn: »Warum ist Bodhidharma aus dem Westen gekommen?«
(Diese im Zen sehr häufig gestellte Frage heißt so viel wie: »Was ist der tiefe Sinn der Wahrheit des Zen?«)
Wenn er nicht antwortet, kommt er dem buddhistischen Gelöbnis nicht nach, allen Wesen zur Befreiung zu verhelfen. Wenn er jedoch antwortet, wird er sein Leben verlieren. Was soll er tun?
Der chinesiche Zen-Meister Mumon gibt hierzu folgenden Kommentar:
Obwohl deine Beredsamkeit wie ein Fluss dahinfließt, nützt sie dir hier gar nichts. Wenn du die ganze Sammlung der buddhistischen Schriften auslegen kannst, ist auch das ohne Wert. Kannst du aber wirklich antworten, dann wirst du die Lebenden töten und die Toten zum Leben erwecken.
Auch das folgende Koan steht im Mumonkan und wird im Zen als eines der acht schwierigsten bezeichnet:
Eine Kuh geht durch ein Fenster. Ihr Kopf, ihre Hörner, ihr Bauch und ihre vier Beine sind schon durchgegangen. Doch wie kommt es, dass ihr Schwanz nicht hindurchgeht?
Am Abgrund des Nichts
Ein Koan ist kein Rätsel, wir können es nicht lösen. Denn es hat keine Lösungsmöglichkeit wie ein Rätsel, bei dem wir nur die richtige Antwort finden müssen. Ein wirkliches Zen-Koan ist unlösbar, wir können es nicht lösen, wir können es nur »auflösen«. Und weil wir ein Koan nicht lösen können, gibt es nur einen einzigen Ausweg:
Wir müssen aufwachen aus unserem Traum aus Körper, Geist und Welt und so die Illusion unseres Gebundenseins an den Kreislauf von Geburt und Tod »auflösen«. Das heißt: Die Antwort auf das Koan liegt »in uns selbst«, denn das Koan hat einzig und allein nur mit uns zu tun.
Das hervorstechende Merkmal bei allen Koans ist das Alogische, das Widersinnige der Worte und Handlungen. Liest man die aus dem Geist des Zen gesprochenen Antworten der Zen-Meister auf die Fragen ihrer Schüler, dann ist man verwirrt und fragt sich, was die Antwort eigentlich mit der Frage zu tun hat.
Doch sollten wir uns bewusst machen, dass es sich bei diesen Äußerungen der großen Zen-Meister nicht um eine begriffliche oder intellektuelle Feststellung innerhalb unserer gewohnten Grenzen des Einführung in das Wesen und die Praxis des Zen logischen Denkens handelt. Vielmehr haben wir es hier mit dem Ausdruck einer gewaltigen Erfahrung von solch einer allumfassenden Universalität zu tun, dass in ihr alle Schranken von Raum und Zeit und alle Begrenzungen einer verbalen Vermittlung überschritten werden.
Das Koan überwältigt unseren Intellekt. Es verursacht einen Kurzschluss in unserem Denken und lähmt unser kritisches Unterscheidungsvermögen.
Denn der Sinn und Zweck eines Koans ist, dass es in uns eine geistige Grenzsituation herbeiführt, bei der unser Verstand festsitzt und wir weder vor- noch zurückkönnen. Wir befinden uns am Abgrund des Nichts, und unsere einzige Rettung ist, uns selbst und alles, was es auch sei, loszulassen. Mit den Worten des chinesischen Zen-Meisters Ta-hui (12. Jh.):
Wenn man seinen Geist jählings in die unergründliche Tiefe entsinken lässt, die Verstand und Denken niemals zu erreichen vermögen, wird man den absoluten, strahlenden Einen Geist erschauen. So erlangt man Befreiung vom Kreislauf von Geburt und Tod.
Das Wesentliche bei der Beschäftigung mit einem Koan ist, dass wir eben jenen hellklaren Bewusstseinszustand erlangen, aus dem heraus die Worte gesprochen wurden und den logische Analyse niemals erreichen kann. Denn erst wenn der Geist so weit gereift ist, dass er vollkommen gleichgestimmt ist mit dem Geist des Meisters, der uns das Koan gab, enthüllt sich uns die tiefe Wahrheit, die im Koan verborgen war.
Der Meister
Ein wahrer Meister wird seinem Schüler jedoch niemals eine Antwort auf ein Koan anbieten. Denn dann würde er ihn der Möglichkeit berauben, dass die in dem Koan verborgene Wahrheit in einer plötzlichen inneren Explosion des Begreifens in ihm selbst aufgeht.
Die wesentliche Funktion eines Zen-Meisters besteht deshalb vielmehr darin, alles aus dem Weg zu räumen, was uns vom unmittelbaren Erleben der Wahrheit trennt. Mit liebevoller Härte zerschlägt er mit dem Schwert der nicht-unterscheidenden Weisheit den ganzen Wald von Vorstellungen, die wie ein dichtes Rankengewirr unseren Geist verdunkeln.
Seine Bemühungen, oftmals handgreiflicher Art, zielen dabei einzig und allein nur darauf ab, das aufzudecken, was schon immer von allem Anfang an in unserem Allerinnersten als unser wahres Sein gegenwärtig ist. Hierzu folgendes Beispiel:
Der chinesische Zen-Meister Yün-men (10. Jh.) betrat die Lehrhalle und sagte: »Der Buddha erreichte die Erleuchtung, als der Morgenstern erschien.«
Da fragte ein Mönch: »Wie ist es, wenn man beim Erscheinen des Morgensterns die Erleuchtung erlangt?«
Yün-men sagte: »Komm doch mal her, ich zeige es dir!«
Der Mönch trat vor ihn hin. Der Meister schlug ihn mit seinem Stock und jagte ihn zur Halle hinaus.
Jedes verfügbare Mittel, seien es laute Schreie oder Stockschläge, ist einem Meister recht, um den verblendeten Geist aufzusprengen und uns aus dem Schlummer unserer gewohnten Sichtweise zu erwecken.
Denn jede gewohnte, konditionierte Sichtweise, welcher Art auch immer, hindert uns am unmittelbaren Erleben der Wirklichkeit.
Satori – die große Erleuchtung
Es gibt keine stufenweise Erleuchtung, sondern nur ein »plötzliches Erwachen« zur Wirklichkeit unseres wahren Seins. Dies ist der wesentliche Kerngedanke des Zen. Die Erleuchtung hat keine verschiedenen Stufen und geschieht ganz plötzlich, aber im Allgemeinen erst am Ende eines langen Prozesses des spirituellen Reifens.
Satori, die große Erleuchtungserfahrung, ist wie das Aufblühen der Lotusblume, sie gleicht dem plötzlichen Erwachen eines Träumers. Sie kommt immer blitzartig und vollkommen unerwartet über uns, denn sie ist eine absolute Augenblickserfahrung.
In einem Nun, in einem einzigen Augenblick weitet sich der Geist ins Grenzenlose und es eröffnet sich uns eine vollkommen neue Sicht, die unser ganzes Sein verwandelt.
Voraussetzung zu dieser Erfahrung ist jedoch, dass wir zu einem absoluten Loslassen gelangen. Denn erst wenn wir unsere gewohnten Anklammerungen an unsere Konzepte aufgeben, sind wir reif zur Befreiung von unserem Gebundensein an den Kreislauf von Geburt und Tod.
In jener geistigen Verfassung der Loslösung von Körper, Geist und Welt gelangen wir an die Schwelle des mystischen Todes. Das Ego stirbt den »großen Tod«, und was folgt, ist das »große Leben«.
Wir erleben unsere Auferstehung über die dunklen Nebel der Erscheinungen in das klare Licht der Wirklichkeit.
Unser wahres Auge der Erleuchtung ist mit einem Mal geöffnet, und gleich einem von dem Toten Auferstandenen werden wir in Lachen ausbrechen und in die Hände klatschen vor Freude.
In diesem Augenblick werden wir erkennen, dass unser eigener Geist und die grenzenlose Weite des Einen Geistes ein einziges Sein ist, neben dem nichts anderes existiert. In dieser großen Befreiung haben die Wechselfälle des täglichen Lebens keine Macht mehr über unser Bewusstsein. Die Ketten der Illusion sind zerbrochen, und wir sind in die höhere Welt des Wirklichen eingetreten.
In der Art seiner unmittelbaren Direktheit weist Zen immer wieder darauf hin, dass die Erleuchtungserfahrung jedem jederzeit möglich ist, der wirklich bereit ist, sich selbst und alle seine festgefügten Konzepte vollkommen loszulassen. Der chinesische Zen-Meister Shen-tsang ( 8. Jh.) beschreibt dies mit folgenden Worten:
Einzigartig strahlt das wunderbare Licht, nicht zu fassen durch Worte und Buchstaben.
Sobald du nur deine Wahnvorstellungen fallen lässt, ist die Buddhaschaft Wirklichkeit geworden.
In diesem Augenblick der großen Befreiung offenbart sich uns unser ursprüngliches wahres Wesen – der Eine Geist, der hinter den dunklen Wolken des unterscheidenden begrifflichen Denkens verborgen war. Zen-Meister Huang-po (9. Jh.) beschreibt diese wunderbare Erfahrung mit folgenden Worten:
Dieser reine Geist, die Quelle von allem, scheint für immer und auf alle mit dem Glanz seiner eigenen Vollendung. Aber die Menschen in der Welt werden dessen nicht gewahr, da sie nur das für Geist halten, was sieht, hört, fühlt und weiß. Durch ihr eigenes Sehen, Hören, Fühlen und Wissen geblendet, erkennen sie nicht die geistige Herrlichkeit der Quellsubstanz.
Doch würden sie endlich alles begriffliche Denken in einem Augenblick abwerfen, dann würde sich diese Quellsubstanz manifestieren wie die Sonne, die in der Leere aufsteigt und das ganze Weltall ohne Hindernis oder Schranken erleuchtet.
Mit den kraftvollen Worten des chinesischen Zen-Meisters Fa-yong aus dem 12. Jahrhundert:
Die Kraft des Nicht-Denkens ist wie die Glut der Flamme oder der blitzschnelle Hieb eines scharfen Schwertes. Wenn der Geist frei von Gedanken ist, ist zugleich das Löwengebrüll erreicht. Jede weitere Beschreibung würde mindere Geister nur in Angst und Verwirrung versetzen.
In dieser Befreiung von den Ketten unserer selbstgezeugten Begrenzungen schwinden die dunklen Wolken unserer geistigen Verblendung. Der Geist erstrahlt wie der klare Himmel in grenzenloser Weite und Leere und nichts vermag ihn mehr zu verdunkeln.
Die Wirklichkeit unseres ursprünglichen, wahren Seins liegt in uns selbst. Es gibt nichts zu erreichen und nichts zu verändern. Unser wahres Selbst ist schon jetzt absolut vollkommen und ist es immer gewesen.
In der Erkenntnis, dass der eigene Geist als unser wahres Wesen Buddha ist und weder mit der Geburt beginnt noch mit dem Tod vergeht, offenbart sich das Geheimnis des Zen. Deshalb legt Zen den allergrößten Wert auf die Einsicht, dass die Erleuchtung dem Geist innewohnt und es deshalb nichts zu erreichen gibt. Zum ursprünglichen Zustand des Geistes zu gelangen und so von allen Begrenzungen und Illusionen frei zu sein, ist die unmittelbare Erfahrung der Wahrheit des Zen.
Ich bin mir vollkommen bewusst, dass so manches, was in diesem Buch geschrieben steht, den Leser herausfordern und aufrütteln wird. Denn es wird vieles, von dem er überzeugt ist und woran er glaubt, als Illusion aufdecken und hinwegfegen. Dies ist aber auch beabsichtigt.
Nicht umsonst heißt es im Zen: »Der direkte Zen-Weg zur Befreiung ist kein Weg für kleine Geister.« Denn nur derjenige, der wirklich bereit ist, seine gewohnte Sichtweise hinter sich zu lassen und sich von allen Konzepten zu befreien, ist auch reif zur Transformation in die höchste Bewusstseinsebene der grenzenlosen Befreiung des Geistes.
Wiesbaden, Frühjahr 2015
Zensho W. Kopp
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