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Die Schritte wurden leiser und bald war es still.
„Deine Hände! Zeig mir deine Hände!“. Es war nur ein dämmriges Licht in dem Raum, wo sie sich nun befand, und es roch etwas modrig. „Deine Hände!“, hörte sie noch einmal hinter sich die befehlende Stimme.
Kishou ließ die Bogensehne über ihre Handfessel fallen, um ihn nicht preiszugeben und öffnete ihre Hände.
„Die andere Seite!“
Sie drehte ihre Hände um.
„Gut! Es heißt, es gibt einige Änderungen!“
„Was?“ Kishou meinte nicht richtig verstanden zu haben.
„Ich sagte, es heißt, es gibt einige Änderungen!“
Kishou überlegte einen Moment, konnte aber nichts mit den Worten anfangen. „Ich versteh nicht, was du meinst!“
Jetzt schien die Stimme zu überlegen, denn es war einen Moment still. „Wer bist Du, das sie dich jagen?“, hörte sie als Nächstes, und die kalte Spitze drückte sich noch etwas mehr in ihren Hals.
„Olmar Sharie!“, log Kishou wieder.
„Nirgendwo gelesen – bist du eine Abgefallene?“ Eine Hand begann in ihrer linken Tasche zu wühlen.
„Nein!“, antwortete Kishou auf’s Geradewohl hinaus.
Der Breene zog eine Teigtasche aus ihrem Mantel hervor, und ließ sie fallen. „Wo ist dein Existenznachweis?“
„Hast du ihn nicht gerade aus der Tasche genommen?“, reagierte sie scheinheilig.
Die Hand fuhr erneut in ihren Mantel, wühlte eine Weile darin herum, zog zwei kleine Früchte daraus hervor, und ließ sie fallen. „Da ist er nicht. Zeig ihn mir – aber ganz langsam!“
„Er muss da sein!“, log Kishou. „Oder ich hab’ ihn gerade verloren.
„Wo kommst du her?“, fragte die Stimme weiter. Sein Atem wurde ruhiger.
„Aus Machnok!“, log sie erneut.
„Saathelferin?“
„Ja!“
„Und wieso jagen sie dich?“
„Ich hab’ eine Weile auf einer Bank gesessen und vergessen, das Formular auszufüllen!“, erklärte sie wahrheitsgemäß.
„Du lügst!“, war die schroffe Reaktion, begleitet von einer bedrohlichen Bewegung des spitzen Gegenstandes an ihrer Kehle. Das ist eine VOPb 28-13/3715-7! Dafür wird man nicht liquidiert!
„Er wollte mich mitnehmen – da bin ich weggelaufen!“, versuchte Kishou mehr oder weniger geschickt, zu erklären.
Es folgte wieder einen Moment der Stille … „Wieso läufst du wegen so einer Sache weg?“
Immerhin schien der Umstand der Flucht schwerwiegender zu sein, und sie damit etwas zu entlasten. „Ich weiß auch nicht …“, suchte sie nach einer weiteren Erklärung. „Es war irgendwie ganz spontan …“
„Spontan?“. Fragte die Stimme ungläubig und hörbar verdutzt.
„Ja!, ich bin einfach weggerannt!“
Wieder trat ein Moment der Stille ein. Der Spitze Gegenstand löste sich plötzlich von ihrem Hals, und seine Hände drehten sie herum. Sie sah im dämmrigen Licht in das kantige Gesicht eines Breenen, der sie lange musterte. Er war nicht alt aber auch nicht jung. Hinter einer hohen Stirn waren die schwarzen Haare mit einigen erkennbaren grauen Strähnen streng zurückgekämmt. Seine zusammengekniffenen Augen wirkten Kühl in ihrem hellen Grau. „Mit dir stimmt irgend etwas nicht!“, meinte er plötzlich. „Ich weiß noch nicht, was es ist, aber irgend etwas ist nicht in Ordnung mit dir!“
„Wieso?“, wunderte sich Kishou ehrlich.
„In deinem Gesicht ist etwas, das hier nicht hergehört!“, meinte der. „Aber du bist auch nicht freigegeben – das wüsste ich!“, setzte er, in ihrem Gesicht forschend, hinzu.
„Was meinst du damit?“, fragte Kishou ehrlich verwundert. Spätestens jetzt war wohl endlich unzweifelhaft, das die Breenen auf ihren Anblick keineswegs so reagierten, wie sie es gewohnt war – und zum ersten Mal bedauerte sie es wohl.
„Und der Bogen …!“, kannst du damit umgehen?“ Kishou meinte in diesem Moment doch so etwas wie aufkommende Unsicherheit bei dem Breenen zu spüren. Allerdings nicht wegen ihr, sondern offenbar wegen des Bogens.
„Ein bisschen!“, log sie.
„Was ist das für ein Symbol da drauf?“ Er wies auf das Zeichen des Dao Khan auf seinem Holz. „Es kommt mir irgendwie bekannt vor!“ Er machte anstalten, den Bogen an sich zu nehmen, aber Kishou zog ihn sofort zurück.
„Der Bogen gehört mir!“, reagierte sie ungewöhnlich scharf. „Woher kennst du das Zeichen?“
Für einen Moment schien der Breene irritiert, ob der scharfen Reaktion Kishous, und hob drohend das spitze Eisen, das sich nun als ein Messer offenbarte. „Ich weiß nicht … – das geht dich nichts an!“, wehrte er aggressiv ab.
Langsam fand Kishou ihre Gedanken wieder. Der Breene war auf keinen Fall ein Gleim, und auch sonst kein normaler Breene. Und die Umstände ihrer Gefangennahme und dieses Ortes sprachen auch nicht gerade für das, was sie bisher von den Breenen erfahren hatte. „Und wer bist Du?“, fragte sie, ermutigt durch solcherlei Gedanken, gerade heraus.
„Das geht dich nichts an!“, war dessen sofortige Reaktion. „Absolut nichts!“, setzte er noch einmal bekräftigend nach.
„Es sieht so aus, als ob du mich gerettet hättest!“, stellte Kishou nun fest. „Wieso hast du das gemacht?“
„Vielleicht habe ich dich ja garnicht gerettet, sondern dich nur gefangen, um dich auszuliefern – vielleicht bin ich ja ein Gleim!“.
„Dann würdest du nicht so komische Fragen stellen!“, konterte Kishou. „Du musst selber aufpassen, das sie dich nicht kriegen!“, wendete sie ahnend das Blatt.
Wieder folgte ein Moment der Stille, in der sie von scharfen Augen gemustert wurde. „Ich weiß jetzt, wo ich das Zeichen gesehen habe!“, sagte er plötzlich.
„Echt?“, horchte Kishou auf. „Wo!?“
„In einem alten Krypt!“, antwortete er zögernd.
„In einem Krypt!“, fiel es aus Kishou heraus und ihre Augen öffneten sich weit.
„Ja …!“, zögerte der Breene noch immer, als würde er versehentlich ein Geheimnis preisgegeben haben. „So nannte man vor langer Zeit kleine Bücher, in denen man in der sterbenden Welt Aufzeichnungen machte. Ich habe es in einem Buch gesehen, das sich mit den alten Krypten beschäftigt – dieses Symbol war da irgendwo abgebildet!“ Offenbar meinte er Kishou erklären zu müssen, was ein Krypt ist.
„Es ist das Zeichen des Dao Khan!“, sagte Kishou.
„Stimmt! … ich erinnere mich an den Namen!“, staunte der Breene. „Der stand da auch in dem Buch – in mehreren sogar …!“ Nun bekam er große Augen, und er schaute ungläubig auf Kishou. „Woher weißt du davon? Kennst du die Bücher?“
Kishou empfand fast so etwas wie Triumph in sich aufsteigen. Wer immer der Breene war – ein Feind konnte es nicht sein. „Der Bogen hier …“ Sie erhob ihn und schaute den Breenen geradewegs in die Augen. „Das ist der Bogen des Dao Khan!“
Der Breene schaute auf den Bogen und dann auf Kishou, als wollte er gerade seinen Verstand verlieren … „Wer bist du!“, fragte er endlich. „Wer bist du wirklich?“
„Ich bin Kishou und ein Dompteur wie Dao Khan einer war!“, erklärte sie sich nun unumwunden. Ich komme von da, was ihr die Sterbende Welt nennt. Dao Khan, der mir half, die sterbenden Welten zu überwinden, gab mir seinen Bogen!“
Diese Worte hatten wohl die Wirkung eines schweren Faustschlages mitten ins Gesicht. Der Breene erhob sich, das Messer fiel achtlos zu Boden, er wankte einige Male hin und her, und fuhr sich mit den Händen immer wieder über das Gesicht, bis er sich endlich wieder Kishou zuwandte.
„Das ist nicht möglich! Das ist unmöglich …!“, stammelte er endlich. „Aber du weißt zu viel von dem, was in den verbotenen Büchern steht, als dass … Aber die Nachrichten …“, schüttelte er hilflos mit dem Kopf. „Die Nachrichten warnen schon seit langem vor möglichen Eindringlingen aus der sterbenden Welt … Es heißt, es soll seit einigen Tagen geschehen sein. Es sollen einige von ihnen gesichtet worden sein. Es sollen Riesen sein, ohne jede Regel und zerstörerische Barbaren …!“, wieder schaute er ungläubig auf Kishou.
Die lachte Erleichtert über die sich nun entwickelnde neue Situation laut auf. „Die meinen Boorh, Mo und Habadam! Aber so groß sind die nun wieder auch nich’ – so etwa das doppelte von mir – na gut, noch’n bisschen mehr. Aber das Untere Squatsch ist noch kleiner als ich, und Madame KA nicht mal das doppelte von mir!“
Dem Breenen erschien es wohl alles wie ein Traum, aus dem er nicht erwachen konnte, und schüttelte immer nur wieder seinen Kopf. „Ich kenne all diese Namen. Es sollen die Herrscher der sterbenden Welt sein – aber niemand weiß, wie sie aussehen … Du behauptest, das du sie kennst? Und sie sollen hier sein?“
„Ja klar!“, meinte Kishou.
„Als Vorhut? So ist es doch wahr, dass ihr unser Land …“
„Quatsch!“, fiel ihm Kishou sofort ins Wort. Sie erinnerte sich an die geäußerten Vermutungen des Breenen, den Boorh auf dem Feld gefangen hatte. „Wir sind da, weil wir versuchen wollen, dass Große Belfelland zu retten … bevor es nirgendwo mehr Wasser gibt!“, klärte sie ohne Umschweife auf. „Ich bin erstmal allein nach Trital gekommen, weil meine Freunde … also die Chemuren zu auffällig sind …!“ Sie stockte. „Aber jetzt mal der Reihe nach – wie heißt du eigentlich? Wieso bist du so anders als die anderen? Und was ist hier eigentlich los? – ich meine, ich bin ja vollkommen fremd hier. Hier ist alles so komisch – also ich meine, ich kann nichts von dem verstehen, was ich hier sehe. Wo wir herkommen, ist alles ganz anders!“ Sie wusste garnicht, wo sie Anfangen sollte, mit dem Fragen.
„Ich bin Undolf!“, antwortete der Breene fast tonlos, und ließ sich auf den Boden sinken, um dann wortlos vor sich her zu starren.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kishou nach einer Weile etwas besorgt.
Der, dessen Name Undolf war, schüttelte abwesend den Kopf. „Nein. Nichts mehr ist in Ordnung! – Alles, was du sagst, widerspricht ihr. Du sprichst, als wärst du geradewegs den alten Büchern entstiegen. Wie soll ich das glauben?“ – Sein Blick fiel auf den Bogen. „Die Dompteure sollen unfehlbare Bogenschützen gewesen sein. Du hast aber gesagt, dass du nur ein bisschen mit ihm umgehen kannst …!“
„Das hab ich nur gesagt, um mich nicht zu verraten. Ich wusste ja noch nicht, wer du bist!“, meinte Kishou.
„Zeig mir, dass du es kannst!“
„Hier?“, fragte sie ungläubig.
Der Breene überlegte einen Moment. Er stand plötzlich auf und stieg die wenigen Stufen zur Tür hinauf. „Warte!“, sagte er und öffnete sie vorsichtig. Einen Moment später erschien sein Kopf wieder im Türspalt. „Komm!“, sagte er.
Kishou trat zu ihm in die leere Gasse hinaus.
„Schnell – siehst du da hinten den zweiten FAB von hier?“
„FAB?“, fragte Kishou.
„Ja, den ‚Formular Aufbewahrungsbehälter’!“
„Ach so, die Ständer da meinst du!“ In weiten und regelmäßigen Abständen fanden sich hölzerne Pfosten an den Fassaden mit einem Kasten daran, wie Kishou sie bereits von den Banken her kannte, wo sie sich ausgeruht hatte. Auf einem kleinen Weißen Schild war am oberen Ende jedes Pfostens eine Zahl angebracht.
„Kannst du den Behälter von hier aus treffen?“, fragte Undolf zweifelnd. Das Ziel mochte vielleicht 50 Schritte entfernt gewesen sein.
Kishou zog ein Pfeil aus ihrem Mantel und legte ihn in den Bogen. Kennst Du die Nummer des Dritten hinter dem, den du gerade genannt hast?“, fragte sie zurück.
„Natürlich! 72! Warum fragst du?“
„Damit du ihn auch findest, ohne sein Schild!“, antwortete Kishou. Die Sehne des Bogens spannte sich mit ihren Worten weit, und im nächsten Moment verließ ihn der Pfeil. Kurz darauf war ein leises Klirren aus der Ferne zu vernehmen und das gelegentliches Aufblitzen eines metallenen Gegenstandes, der über die groben Steine der Gasse rollte. Der Pfeil hatte sich seitlich unter die Markierung ins Holz getrieben und sie von ihrem Pfahl abgesprengt.
Der Breene starrte mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen auf das Geschehen. „... Ovg/MöGer/FAB-18/79!“, murmelte er vor sich hin.
„Was?“ Kishou meinte ihn nicht richtig verstanden zu haben.
„’Ordnungsvergehen Manipulation öffentlicher Gerätschaft’!, wiederholte er abwesend“ Plötzlich wandte er sich erschrocken nach allen Seiten um. „Komm, komm!“, raunte er und verschwand eilig in der Tür.
Er entzündete eine kleine Öllampe, und führte Kishou über unterirdische Flure in einen Raum, der zwar recht karg eingerichtet, doch durchaus wohnliche Züge trug. Eine weitere Tür führte in einen 'Toleban', wie er ihn nannte, und eine andere in einen Schlafraum. Sie war einmal mehr überrascht von dem, was sich in diesem Drom alles fand – nicht zuletzt von dem Raum, den der Breene als ‚Toleban’ bezeichnete. Es handelte sich dabei um einen Nassraum mit fließendem Wasser, das aus einem kleinen Rohr in der Wand heraustrat, und mittels eines Stopfens verschlossen wurde. In der Bezeichnung des Raumes fand sich das alte Wort für Ort – ‚Tol’, und das für Reinigung oder reinigen – ,bana’ beziehungsweise ,banä’, wie Kishou sofort bemerkte, als sie seine Funktion erkannte. Er bezeichnete also offenbar einen ,Ort der Reinigung’. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass hier wohl niemand außer ihr zu erklären vermochte, warum dieser Raum Toleban genannt wurde. Zum ersten Mal schienen die Lebensumstände eines Volkes nicht unähnlich zu dem zu sein, wie sie es eigentlich benötigte. Es war nicht sonderlich gemütlich – vor allem wegen des fehlenden Tageslichts und der unzureichenden Belüftung. Aber es war ja auch offensichtlich ein geheimer Ort. Hier nun folgte ein nicht enden wollendes Gespräch.
Eine seltsame Welt
U
ndolf, so stellte sich nun heraus, gehörte zu einer Gemeinschaft, die sich ONO nannte. Kishou erinnerte sich sofort an diese Bezeichnung, die einer der Breenen, die sie auf dem Feld einfingen, mit ihr verbunden hatte. Nun war auch klar, wie er darauf kam.
ONO war ein Kürzel, und stand für ‚Organisation neue Ordnung’. Und wie sie nun erfuhr, war diese Gemeinschaft eine Untergrundorganisation, dessen Ziel die Beseitigung der bestehenden Ordnung war. Undolf meinte, das die Ordnung der Breenen möglicherweise auf einer einzigen großen Lüge basierte, und das Drom auf einen Abgrund zusteuern würde. So erfuhr sie, dass auch das Vierte Drom Gegenden kannte, die langsam versteppten und immer mehr austrockneten. Auch der Regen hatte erheblich nachgelassen. Die Gaunen gaben als Grund Schwankungen im Wetter an, die ganz normal wären, und sich wieder stabilisieren würden. Kishou wusste nichts mit ‚Gaunen’ anzufangen, unterbrach den Breenen aber nicht in seinen Erklärungen.
Die ONO verfüge nun allerdings über große Archive verbotener alter Bücher und Schriften, erklärte er, die eine ganz andere Erklärung bot, als die offiziell verbreitete. Sie erforderte ein Umdenken und Neugestalten der Ordnung, wenn man die Austrocknung des Droms aufhalten wollte. Es würde ihrem Drom ansonsten das selbe Schicksal ereilen, wie das der Sterbenden Welt. Aber das gemeine Volk der Breenen kannte nur die Verlautbarungen der Obrigkeit. Die oberen Kasten, so meinte der Breene, wussten vielleicht mehr – zumindest manche von ihnen – aber die waren an ihren Privilegien interessiert und den OHIB treu ergeben.
So erfuhr Kishou nach und nach etwas über die Hierarchie eines Herrschaftssystems, von dem sie garnicht wusste, dass es so etwas überhaupt geben konnte. Sie kannte bislang nur die Chemuren als Beherrscher der Drome. Hier war alles anders.
Zu oberst war die Kaste der ‚OHIB’ – 12 an der Zahl. Sie waren die Gesetzgeber und in ihren Urteilen unantastbar. Dann waren da die ‚Steigerinnen’. Sie waren die Obersten der Städte und Gemeinden, aus deren Reihen die OHIB erwählt wurden, wenn von ihnen einer starb. Die OHIB waren ausschließlich Braanen und herrschten vom Tal des Droms heraus – wie auch die ihnen in der Hierarchie folgenden ,Steigerinnen’, und den darauf folgenden ‚Wählbaren’. Diese wiederum gehörten zur obersten Schicht der Kaste der ‚Gaunen’, während der Gaun selbst im allgemeinen ein Breene war. Die ,Steigerinnen' rekrutierten sich wie die ‚Wählbaren’ natürlich auch aus den braanischen Gaunen, aus deren Reihen in einer allgemeinen Wahl von dem Volk der Breenen die ‚Steigerin’ bestimmt wurde.
Kishou fand das alles nur verwirrend und in seiner Fremdartigkeit zunächst vollkommen undurchsichtig. „Was ist mit Suäl Graal?“, interessierte sie viel mehr. Der Breene hatte sie bisher mit keinem Wort erwähnt.
„Die gehört zur Sippe der Chemuren, wenn ich mich recht erinnere. Sie soll die Oberste unter ihnen sein. Ist es nicht so?“
„Ja, natürlich!“, wunderte sich Kishou über die Antwort. „Aber was ist mit ihr? Du hast noch nichts von ihr erzählt. Sie ist schließlich die Herrscherin dieses Droms – also genaugenommen des Vierten Tals der Vierten Ebene des Vierten Droms – und wegen ihr versiegen doch schließlich die ganzen Wasser!?“
Undolf schüttelte unverständig den Kopf. „Nein, die gibt es hier nicht!“, stellte er mit Bestimmtheit fest. „Sie gehört zu den Legenden alter Zeiten – wie alle von der Sippe der Chemuren. Das heißt …“, er zögerte. „Zumindest ging ich bis jetzt davon aus – wie die Meisten von uns. Und ehrlich gesagt …“ Wieder zögerte er ... „Auch wenn du etwas anderes behauptest: wirklich überzeugt sein werde ich erst, wenn ich sie mit eigenen Augen gesehen habe!“
Was der Breene da von sich gab, erschien Kishou so verrückt, dass sie einen Moment ernsthaft in Erwägung zog, das alles nur zu träumen. „Du sagst, ihr kennt Suäl Graal nicht? Also die Breenen, die nicht eure Bücher lesen, dürften ja dann nicht mal was von ihr gehört haben?“, schloss sie ungläubig.
„Ja natürlich nicht!“, reagierte ihr Gegenüber mit Verwunderung, dass dies überhaupt eine Frage sein konnte.
Nun begriff Kishou garnichts mehr. Dieses Drom war anders als alle anderen, das war sehr schnell klar – und die Stadt hatte geradezu etwas unwirkliches – aber was sie nun akzeptieren sollte, überstieg gänzlich ihr Vorstellungsvermögen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und atmete tief aus. Sie verstand das alles nicht … Es ergab alles überhaupt keinen Sinn.
„Wenn ich der ONO darüber berichte, was ich gerade erlebe, wird man vermuten, ich wäre verwirrt und bar jeder Ordnung!“, meinte Undolf in die entstehende Stille hinein. „Und jetzt hör mir zu! Ich sehe dich mit eigenen Augen, du bist fremdartig, wenn man dich genau betrachtet – und ich treffe auf dich, gerade als die lang angekündigten Wesen aus der Sterbenden Welt gesichtet worden sein sollen. Du kennst dich offenbar in den alten Krypten aus, und du führst den Bogen in einer Weise, wie es dort beschrieben steht – und wie es eigentlich doch nur die freie und wieder jeder Ordnung erdachte Phantasie erdenken kann. Nur aus all diesen Gründen höre ich dir zu. Aber es bedeutet nicht, dass ich dir auch glaube!“, schloss er.
„Aber … aber ich denke … du hast doch eben gesagt, ihr kennt die Geschichte des Großen Belfellands und seinen anderen Dromen – den Sterbenden Welten!? Und jetzt sagst du, dass du mir nicht glaubst – als gäb’s das alles nicht!?“
„Was spielt es für eine Rolle, ob das, was in den Büchern berichtet wird, wahr ist?“, meinte der Breene. „Man findet in ihnen eine andere Möglichkeit von Wahrheit – nur das zählt! Sie widerspricht der Wahrheit der Breenen und Braanen und stört damit ihre Ordnung. Die Ordnung bietet keine absolute Sicherheit mehr, wenn man eine Alternative ihrer Wahrheit nicht mehr ausschließen kann!
„Wie meinst du das?“. Es schien ihr langsam, als würde diesem Drom jede Vernunft verloren gegangen zu sein.
„Da gibt es nichts zu meinen!?", schien sich der Breene fast über die Frage zu wundern. Es ist das erste Gesetz der Ordnung! Wie kann eine Wahrheit bestand haben, wenn neben ihr auch nur eine einzige andere existieren könnte – und man von ihr erfährt? Allein deine Frage ist schon ein Indiz für die Richtigkeit der offizielle Wahrheit. Ihr kennt offensichtlich keine Ordnung!"
„Häh ...", kam es nur im vollen Unverständnis aus Kishou heraus ...
„Alle offiziellen Lehrbücher sagen, dass es neben dem Belfelland noch eine andere Welt gibt – jenseits seiner Grenzen, die unzugänglich sind. Sie werden bewohnt von Barbaren ohne jeden Verstand und ohne jede Regel. Es heißt dort, dass sie ihr Wasser verschwendet und verbraucht haben, und früher oder später versuchen werden, das fruchtbare Belfelland zu überfallen um sich darin auszubreiten!“
„Und die Breenen glauben das?“
„Ja natürlich!“, reagierte der Befragte. „Man kann es überall lesen, und immer wieder wird in den Nachrichtenblättern davon berichtet. Wie könnte es nicht die Wahrheit sein? Es existiert keine andere. Niemand würde auch freiwillig an diesen Wahrheiten zweifeln, weil das die Ordnung und die Sicherheit gefährden würde!“ Er machte eine verzweifelte Geste, als fürchtete er, dass man ihm gerade seines eigenen Glaubens berauben würde. „Aber es fanden sich vor langer Zeit schon alte Bücher, die genau diese einzige Wahrheit in Zweifel ziehen – die eben etwas ganz anderes sagen …!“, erzählte er missmutig weiter. „… und eben genau diese Wahrheit in Frage stellen! Sie berichten von weiteren Dromen eines ‚Großen Belfellands’, und wie sie eines nach dem anderen sterben, weil diese Suäl Graal dem Großen Belfelland das nötige Wasser verwehrt – wegen irgendwelcher Streitereien mit den anderen Chemuren!“ Er winkte ab, als wollte er darauf nicht weiter eingehen. „Es sollten eigentlich nur dumme, alte Geschichten sein. Aber es war eben eine Alternative zur offiziellen Verlautbarung … Es fanden sich gar ausreichend Indizien der hiesigen Entwicklung, die mit den Beschreibungen dieser Schriften übereinstimmten. Damit war nun eine andere Möglichkeit der Entwicklung unseres Landes in den Köpfen der Breenen – eine alternative Ursache für die Steppenbildung – unabhängig davon, ob diese Geschichten in den alten Büchern nun stimmen oder nicht!“
„Aber das ist doch gut so!“, verstand Kishou die Aufregung ihres Gegenübers nicht.
„Was kann daran gut sein?“, wurde sie sogleich abgewehrt. „Das Volk war beunruhigt, und begann Fragen zu stellen und genauere Untersuchungen der Steppenentstehung zu fordern. Sie zweifelten mehr und mehr an den Erklärungen der herrschenden Kasten, ignorierten die Aushänge und Nachrichten der Gaunen und suchten nach neuen Wahrheiten! Wie dem auch ist …!, Es wurde dann die Verordnung VOBN487a-g erlassen, danach durften Bücher und Nachrichten mit nicht ordnungsgemäßen Inhalten bei schwerster Bestrafung nicht mehr vertrieben und gelesen werden, und wurden vernichtet. Wer sie dennoch verbreitete oder darüber berichtete, wurde sofort von der Ordnung freigestellt!“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber der unselige Gedanke wider der Ordnung war nun in der Welt!“, setzte er fort. „Zudem konnten viele Bücher vor ihrer Vernichtung unerkannt vervielfältigt oder versteckt werden. Auf ihrer Grundlage bildete sich später die ONO heraus. ... mit dem Ziel, eine neue Ordnung zu schaffen, die von der Ordnung abweichende Fragen und ihre Untersuchung zulässt. Es geht ihr darum, eine mögliche Zerstörung des Belfellands zu verhindern! Aber das ist alles schon lange her!“, schloss er. „Das Volk der Breenen hat die Fragen längst vergessen, so, wie es die Ordnung erfordert, wenn sie bedroht ist. Doch dies galt nicht für alle. Und so wuchs die ONO im Untergrund langsam aber stetig weiter, und ist heute überall präsent und hat beste Verbindungen zu fast allen Kasten – vor allem den Gaunen. Aber wir müssen äußerst vorsichtig sein.
„Wissen die … also ich meine, die hier Herrschenden, dass es euch gibt?“, wollte Kishou wissen. Die jeweiligen Namen hatte sie schon wieder vergessen.
„Selbstverständlich!“, war die klare Antwort. „Die Gleim machen kurzen Prozess, wenn sie einen von uns entdecken. Wir werden ohne jede formale Feststellung der Abfälligkeit von der Ordnung, sofort in einem Zuge freigestellt und liquidiert. Die Gaunen haben einen ‚Bund der Unsichtbaren’ eingesetzt, um unsere Mitglieder ausfindig zu machen. Sie arbeiten im geheimen, und niemand weiß wer sie sind. Die Gaunen versuchen immer wieder, Unsichtbare in unsere Organisation einzuschleusen – bislang ohne Erfolg. Deshalb musste ich mir auch sicher sein, mir mit dir nicht so einen Vogel eingefangen zu haben. … ich hoffe noch immer, mich in dir nicht getäuscht zu haben!“