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“Du verdammter Dreckskerl!”, lispelt er. Um richtig zu sprechen, fehlen ihm die Schneidezähne.
“Das werd ich dir heimzahlen! Ich …”
“Ach, lass gut sein. Du wolltest einen Kampf. Du hattest einen Kampf. Du hast verloren. Bleib liegen. Vergiss die Sache.”
Gwenningers Versuch, sich hochzustemmen, scheitert.
Niekas setzt seinen Weg gen Ausgang fort. Er blickt sich um. Die Situation ist noch angespannt, gefährlich. Jeder hier Anwesende könnte eine Waffe ziehen. Er geht selbstbewusst, erhöht aber seine Geschwindigkeit leicht.
Einfach schnell raus hier!
An der Tür angekommen, dreht sich Niekas noch einmal um. Alle Augen sind auf ihn gerichtet, aber keiner bewegt sich, keiner spricht.
Niekas umfasst die eiserne Klinke, öffnet die Tür, tritt hindurch und hinaus in die Nacht. Wenige Sekunden später hört er hinter sich die schwere hölzerne Tür der Schenke zufallen.
Geschafft.
Niekas ist erleichtert. Er spürt den kühlen Wind in seinem Gesicht, erfrischend, belebend. Sein Herzschlag beruhigt ist.
Langsam geht er auf den nahen Platz zu, wo die Motor-Reisemobile parken und sich die Metallstangen zum Anbinden der Pferde befinden.
Nur weg aus diesem Dreckskaff!
Plötzlich wird die Tür hinter ihm mit lautem Krach aufgerissen. Im Türrahmen steht Gwenninger, eine kleine Hand-Armbrust in der Rechten.
Er zielt, drückt ab.
Der Pfeil saust aufs Niekas Brust zu. Schnell. Doch Niekas ist schneller. Eine kurze Ausweichbewegung und der Pfeil zischt einen halben Finger breit an ihm vorbei, fliegt weiter in die Nacht hinein und trifft. Eines der Pferde schreit vor Schmerz.
Niekas reagiert blitzschnell. Er zieht seine Handgan - eine Feuerwaffe aus der ‘Alten Zeit’ mit Griff, Schlitten und Magazin - und schießt.
Die Kugel aus gehärtetem Stahl trifft Gwenningers Knie. Er fällt, schreit vor Schmerz.
Die Sekunden verstreichen …
Langsam geht Niekas auf den am Boden Liegenden zu, steckt seine Handgan ins lederne Halfter und sagt:
“War das alles wirklich nötig? Wegen ein paar Münzen?”
Gwenninger antwortet nicht. Er windet sich im Dreck und weint.
Niekas wartet, atmet einmal tief ein und wieder aus. Dann sagt er in ruhigem, aber bestimmtem Ton:
“Leg dich nie wieder mit einem Dschembaláng an. Begegne jedem Lebewesen mit Respekt. Jedem!”
Schon halb zum Gehen gewandt, fängt Gwenninger plötzlich an zu schreien.
“Du Aas hast zwei meiner Kumpels getötet. Dir hetz ich die Kopfjäger auf den Leib. Der Richter wird dich hängen lassen.”
Niekas geht ganz dicht an Gwenninger ran und hockt sich vor ihn.
“Gwenninger, Gwenninger. Du redest und redest, aber es kommt nicht mehr als Ebergrütze aus deiner Fressluke.
Ich habe mich nur verteidigt. Der mit dem Dolch hat den Kerl mit dem Totschläger abgestochen, worauf er selbst von dem Schweren aufgespießt wurde. Das können mindestens dreißig Mann im Wirtshaus bezeugen.
Das Einzige, was ich mir anlasten lasse, ist, dass ich dir nen Streifschuss verpasst habe, aber das war reine Notwehr nach Paragraf 10 ‘Delikte’, Absatz 1 ‘Kampf und Tod’ des ‘Gemeinschaftlichen Gesetzbuches der Freien Länder der Neuen Zeit’.
Eben jene Dreißig können bezeugen, dass du wie wild mit einer Armbrust durch die Tür gestürmt bist, um mich zu erledigen. Und wenn die die große Flatter kriegen und nicht Aussagen wollen, hol ich persönlich das Pferd in den Zeugenstand, in dem grad WESSEN Pfeil drin steckt?
Tja, Gwenninger, sieht nicht gut für dich aus.”
“Du mieses Etwas, du …”
“Ja, is gut. Kümmer dich um dein Knie. Ich wünsch dir noch nen schmerzlichen Abend.”
Niekas steht auf, dreht sich endgültig um und läuft zu dem nahen Platz, wo die Pferde angebunden sind. Im Hintergrund hört er Gwenninger abwechselnd fluchen und vor Schmerz jammern.
Dort angekommen, zieht er einem großen weißen Pferd mit einem kräftigen Ruck den Pfeil aus dem Hintern. Das Pferd wiehert laut vor Schmerz, bäumt sich auf, versucht sich loszureißen, aber Niekas sanfte Hände beruhigen es prompt.
Niekas geht zu seinem eigenen Pferd, einem kleinen, braunen, stämmigen Steppenläufer mit weißen Flecken an Brust und Flanken und holt eine weiße Tube aus seiner schwarzen Satteltasche. Er öffnet sie und streicht dem verletzten Pferd eine orange-rote Salbe auf die Wunde.
Gwenninger liegt immer noch im Dreck und schreit. Niemand hilft ihm.
Niekas verstaut die Heilsalbe in seiner Satteltasche, steigt auf sein Pferd und nimmt die Zügel in die grünen, schwarz-behaarten Hände. Er wendet das Pferd, wirft einen letzten Blick zurück und reitet fort, den Steinweg entlang Richtung Istendah.
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1 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t
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A m s p ä t e n A b e n d
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S t r a ß e n a c h I s t e n d a h

Niekas verbrachte noch zwei Stunden im Sattel seines kleinen braunen Pferdes mit dem Namen Brauer. Er ritt in mäßigem Tempo den Steinweg nach Istendah entlang, ohne einer Seele zu begegnen.
Die mit elektrischen Eisen-Laternen beleuchtete Straße führte ihn zunächst durch mit verschiedenen Gräsern bewachsene Hügel, auf denen auch vereinzelte Sträucher und Büsche standen. Ab und an vernahm er die entfernten Geräusche nachtaktiver Echsen. Doch schon wenige Meilen später verwandelte sich die spärlich-grüne Landschaft in eine leere, karge Wüste aus Steinen und brauner toter Erde.
Im letzten schwachen Licht der Dämmerung konnte Niekas in der Ferne die mächtigen schwarzen Schatten aus Stein und Stahl erkennen, städtische Überreste aus der ‘Alten Zeit’, seit Jahrhunderten dem Verfall überlassen. Ehemals riesige menschliche Bauten waren nunmehr nichts als Schutt und Trümmer.
Irgendwann verschwanden die riesigen Kolosse in der hereinbrechenden Nacht und einsame Pflanzen tauchten neben dem Steinweg auf. Der kühle Nachtwind wehte Niekas um die dicke, knorrige Nase und erweckte zwei braune Büsche am Wegesrand zu unheimlichem Leben.
Einige weitere Meilen später, als ihm der Abstand zu Arstorn groß genug erschien, suchte Niekas die an ihm vorbei rauschende Umgebung nach einem geeigneten Schlafplatz ab und fand eine kleine, von hohen Sträuchern umgebene Grasfläche am Rand der Straße. Er stoppte. Ein kleiner Schatten mit langem schuppigem Schwanz fuhr aufgeschreckt hoch und sprang hastig ins Gestrüpp.
Während Brauer sofort damit begann, die nur spärlich vorhandenen Grashalme abzuzupfen, stieg Niekas ab, schnallte eine mit Gänsefedern gefüllte Leinendecke von seinem Sattel und holte einen kleinen, mit Jaru-Beeren gefüllten Lederbeutel hervor. Brauers Kopf schnellte blitzartig zu ihm herum. Das kluge Tier merkte sofort, wenn es was zu Schlecken gab. Er schüttete die roten Beeren in seine Handfläche. Während Brauer diese daraufhin genüsslich ab schlabberte, tätschelte Niekas ihm den kräftigen Hals und Strich über seine lange hellbraune Mähne.
“So, Brauer. Für heute ists gut. Jetzt wird geschlafen!”
Niekas nahm seinem Steppenläufer den Sattel ab und band sich die Zügel ums linke Handgelenk.
Nur zur Sicherheit.
Dann füllte er das zwölf Schuss fassende Magazin seiner Handgan auf - ebenfalls nur zur Sicherheit - und betrachtete seine Lieblingswaffe im Licht des aufgegangenen Mondes. Sie bestand aus reinem Boritium, einem Metall, das auf der Erde gar nicht vorkam, sondern von einem abgestürzten Meteoriten stammte, den man in der Hadjan-Wüste gefunden hatte - extrem kostbar, ultraleicht und quasi unzerstörbar. Um den typischen grünlich-bronzefarbenen Glanz des Boritiums und damit den Wert der Waffe zu verbergen, hatte Niekas sie matt-schwarz gefärbt. Der gleichfarbige gummierte Griff war extra für ihn angefertigt worden und besaß Fingerrillen und eine Daumenstütze, die sich perfekt an seine große rechte Hand anschmiegten.
Eine wahrlich prachtvolle Waffe.
Niekas grinste und steckte seine Handgan zurück in das lederne Halfter an seinem grünen Kirik-Gürtel. Dann legte er sich eingekuschelt in seine Leinendecke ins Gras und schloss die violetten Augen.
…
Eine ganze Weile später.
Etwas zieht an seinem Arm, zunächst sanft, dann immer stärker. Niekas erwacht, öffnet die Augen und lauscht mit seinen übermenschlich guten Ohren in die Nacht hinein.
Brauer ist unruhig und schnauft leise. Sein Kopf geht ruckartig auf und ab. Die Zügel an seinem Handgelenk folgen der Bewegung.
Büsche rasseln.
Nicht weit entfernt: Dumpfe schwere Schritte, selbst für Niekas enorm feines Gehör kaum wahrnehmbar, treffen auf spärlich bewachsenen, sandigen Boden. Er spürt sie durch die ganz seichten Vibrationen in der Erde, wie die Ausläufer eines weit entfernten Erdbebens.
Etwas Großes ist da draußen.
Schnell und geräuschlos springt Niekas auf. Mit seinem rechten Zeigefinger löst er den ledernen Sicherheitsbügel seines Waffenhalfters und zieht die Handgan heraus.
Vorsichtig macht er einen Schritt auf Brauer zu und tätschelt dem Pferd besänftigend den Hals.
Während er die Zügel von seinem Handgelenk löst, spürt er eine erneute Erschütterung der Erde.
Noch ein schwerer Schritt. Diesmal näher!
Niekas schließt die Augen, konzentriert sich auf die Dunkelheit um ihn herum und versucht seine geschärften Sinne wie unsichtbare Späher nach allen Seiten hin auszuweiten.
Die Sekunden verstreichen.
Niekas hält den Atem an, um jedes noch so leise Geräusch wahrzunehmen. Doch er hört nichts außer dem seichten, unruhigen Schnaufen seines Pferdes.
Zu spät erkennt er, dass es keine verräterischen Laute mehr geben wird. Der Jäger ist bereits in Position, näher als gedacht, bereit zum Angriff.
Die Sträucher hinter Niekas explodieren in einer Wolke aus Staub und zerfetzten Blättern. Mit brachialer Kraft schießt der Prädator aus seinem Versteck und schnappt mit seinen mächtigen Kiefern zu.
Die mehr als fünfzehn Zentimeter langen Reißzähne verfehlen Niekas Kopf nur, weil er sich instinktiv zur Seite fallen lässt. In der gleichen blitzschnellen Bewegung rollt er sich weg von der riesigen Echse, wirbelt herum und landet breitbeinig in Hockstellung, bereit, mit einem seitwärts gerichteten Sprung einem erneuten Angriff sofort auszuweichen.
Brauer flieht.
Auch die Echse wendet augenblicklich. Doch statt direkt wieder anzugreifen oder dem Pferd nachzustellen, verharrt sie in Lauerstellung und blickt Niekas mit ihren gelb leuchtenden Augen abschätzend an.
Mit knurrenden Geräuschen öffnet sie ihr riesiges Maul voller langer scharfer Zähne, die im Mondlicht elfenbeinfarben leuchten.
Eine Schreckens-Echse.
Der Prädator ähnelt stark einem prähistorischen Fleischfresser aus den frühen Anfängen der ‘Alten Zeit’. Er misst vom Kopf bis zum Ende seines dicken, langen Schwanzes, dessen Spitze vier schräg nach oben gerichtete mächtige Dornen trägt, über acht Ellen und ist doppelt so groß wie ein Mensch. Seine langen kräftigen Arme enden in riesigen Klauen mit zwanzig Zentimeter langen, sensengleichen Krallen, die wie Dolche in Niekas Richtung weisen. Die beige schuppige Haut ist übersät von braunen Streifen und zahlreichen Sprinklern in verschiedenen dunklen Grüntönen. Die perfekte Tarnung für die hiesige karge Landschaft. Seinen Rücken entlang laufen zahlreiche spitz zulaufende Erhebungen, ein natürlicher Panzer aus außen liegenden Knochenplatten, die ihn wie eine Rüstung schützen.
Während die Augen der Schreckens-Echse auf ihre Beute fixiert bleiben, läuft sie auf ihren mächtigen, muskulösen Hinterbeinen einige schwere Schritte seitwärts. Der intelligente Jäger wartet ab, genau wie Niekas, der sich jetzt langsam aufrichtet. Seine rechte Hand ist leer, die Handgan während der ersten Attacke irgendwo in der Dunkelheit verloren.
Ebergrütze!
Durch eine kurze Muskelbewegung seines linken Unterarmes schnellt im selben Augenblick eine Assassinen-Klinge über seiner Hand hervor. Der silbern glänzende Stahl findet seinen Anfang in einer komplizierten Armschiene - verborgen in den langen, weiten Ärmeln seines Stoffhemdes - und ragt ganze dreißig Zentimeter über Niekas Hand hinaus. Die Klinge ist ungewöhnlich dick. Sie besteht nicht aus einem Ganzen, sondern aus zehn übereinandergelegten hauchdünnen Dolchen, die zusammen als Stichwaffe verwendet oder einzeln abgeschossen werden können.
Klingen gegen Krallen.
Niekas ergreift die Initiative. Langsam aber bestimmt geht er auf die Schreckens-Echse zu. Er will das Tier nicht töten, aber er wird sich verteidigen und das Ganze jetzt beenden.
Wütend ruft er seinem Gegner entgegen:
“So, du halb krumme Gurke! Ich bin echt am Arsch! Die lange Reise, dann dieser Gwenninger und jetzt auch noch du! Und anstatt mich gleich aufs Ohr hauen zu können, nachdem ich dich wieder geradegebogen hab, darf ich noch mein Pferd suchen gehen! Ich könnt so was von abkotzen! Das glaubst du gar nicht!”
Die letzten Worte schreit er förmlich.
Er ist dem Prädator jetzt ganz nah. Dieser scheint durch Niekas Verhalten verunsichert, weicht einen Schritt zurück.
Doch dann geschieht das Unausweichliche. Die Schreckens-Echse reißt ihr Maul weit auf, brüllt in schier unerträglicher Lautstärke ihre vom Hunger getriebene Mordlust in die Nacht hinaus und greift an.
Ihre langen, krallenbesetzten Arme packen Niekas, können den starken, ledernen und Eisen-besetzten Brust-Rücken-Panzer aber nicht durchdringen.
Niekas versucht sich mit aller Kraft zu befreien.
Dann: ein schrecklicher, stechender Schmerz. Eine dolchartige Echsenklaue findet eine ungeschützte Stelle in Niekas Flanke und bohrt sich durch seine ledrige grüne Haut tief in sein Fleisch.
Er schreit vor Schmerz, doch die Wunde treibt ihn nur noch mehr an.
Niekas hebt seinen linken Arm und lässt die Assassinen-Klinge mit brutaler Gewalt auf die in ihm steckende Kralle niederschießen.
Er trifft.
Blut spritzt. Knochen bersten, zersplittern.
Eine Hälfte der linken Echsenpranke fällt abgetrennt zu Boden. Die andere lässt von Niekas ab.
Der Prädator flieht, rennt davon … und bleibt abrupt stehen.
Zu groß ist der Hunger.
Die Schreckens-Echse wendet. Ihre schweren Beine donnern über den kargen Boden. In vollem Lauf treffen Jäger und Gejagter aufeinander.
Im letzten Moment lässt sich Niekas zu Boden fallen und rutscht unter der Echse hindurch. Seine Dolchhand weit von sich gestreckt, erwischt er den Gegner an der empfindlichen rechten Verse und durchtrennt Haut und Muskeln.
Die Echse schafft keinen weiteren Schritt. Das verletzte Bein knickt unter ihrem Gewicht weg und sie stürzt schwer verletzt zu Boden.
Blitzschnell springt Niekas auf, bereit zum letzten tödlichen Stoß.
Der Kampf ist vorüber. Die Schreckens-Echse liegt besiegt im Staub.
Mit einem heftigen Ruck und zusammengebissenen Zähnen zieht Niekas die noch in ihm steckende Kralle aus seiner Flanke und schmeißt sie weit von sich.
Langsam geht er auf das Tier zu.
Die gelb leuchtenden Augen der Echse blicken ihn feindselig an. Sie windet sich, will aufstehen, fliehen.
Doch mit jedem Schritt, den sich Niekas nähert, wird sie ruhiger. Die Feindseligkeit verschwindet aus ihren Augen, die jetzt angsterfüllt, hilflos wirken, fast, als wenn sie um Gnade bitten würde.
Als Niekas die Echse erreicht, ist seine Wut erloschen. Anstatt das hilflose Tier zu töten, lässt er seine Armklingen wieder verschwinden und sagt in festem Ton:
“Du rührst dich nicht von der Stelle! Verstanden?”
Tag 2

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2 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t
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N a c h t s

L u erwachte schweißgebadet mit einem Schrei auf den Lippen. Ruckartig setzte er sich kerzengerade auf, die Augen weit geöffnet.
Wo bin ich?
Ein schwacher Lichtschein fiel von oben auf ihn herab, sodass er seine nahe Umgebung wahrnehmen konnte, wenn auch nur seltsam verschwommen, wie durch Nebelschwaden. Alles, was weiter als zwei Ellen von ihm entfernt war, verschwand in tiefer, schwarzer, vollkommener Dunkelheit.
Aufs Äußerste angespannt wartete er ab. An Dunkelheit konnten sich Augen schließlich gewöhnen.
Die Schweißtropfen rannen seine Stirn hinunter. Mit dem Ärmel wischte er sie weg und atmete mehrere Male tief durch, um sich zu beruhigen.
Erst jetzt bemerkte er, dass sein Rücken höllisch schmerzte. Das Bett, auf dem er gestern Abend fast sofort eingeschlafen war, war verschwunden. Stattdessen spürte er unter sich harten Stein.
Als hätte die Erkenntnis sein Blickfeld erweitert, konnte er auf einmal überall um sich herum nackte, graue Felswände erahnen.
Eine Höhle? Aber wie bin ich hierher gekommen?
Lu versuchte aufzustehen. Doch sofort überkam ihn ein starkes Schwindelgefühl, dass ihn sofort wieder in die Knie zwang.
Er schloss die Augen und atmete erneut mehrere Male tief ein und aus.
Ganz ruhig …
Langsam verschwand der unangenehme Schwindel.
Als Lu sich stark genug fühlte, stand er auf, öffnete seine Augen und musste sie gleich darauf wieder zusammenpressen, so sehr blendete ihn das grelle Licht der Mittagssonne. Schützend hielt er die Hände vor sein Gesicht und wartete einige Augenblicke, bis sich seine Augen an den krassen Unterschied zur eben noch herrschenden Dunkelheit gewöhnt hatten.
Was geht hier vor?
In Lus Kopf herrschte ein unendliches, bizarres Durcheinander. Zwanghaft versuchte er sich zu Fokussieren, ohne dass es ihm gelang. Nicht einen klaren Gedanken vermochte er zu greifen, sodass er seine Umwelt, das Hier und Jetzt, zwar erfassen, aber nicht verstehen konnte.
Lu blickte auf eine sonnendurchflutete Lichtung inmitten eines dichten Waldes. Ein paar kleine Schnapper sprangen über eine weite Grasebene. Die Sonne verbrannte die Echsen und sie zerflossen zu Rauch, der sich schnell im Wind verflüchtigte.
Lu machte einige Schritte, trat hinaus auf die Lichtung und spürte das weiche Gras unter seinen nackten Füßen. Es war saftig grün und erfüllte die Luft mit einem angenehmen Geruch.
Die Sonne schien hell an diesem Tag und der Himmel war ein einziges wolkenloses, wunderschönes Blau. Eine sanfte Brise wehte durch sein Haar. Lu bewegte sich wie auf Wolken, Schritt für Schritt auf das Zentrum der Lichtung zu, während ihn die wohltuenden Strahlen der Sonne angenehm wärmten.
Hinter Lu erklingt plötzlich ein lautes Krächzen. Er dreht sich - von der einen auf die andere Sekunde aus seiner wohligen Lethargie gerissen - ruckartig rum, stolpert und fällt der Länge nach in den Staub des ausgetrockneten Bodens.
Auf dem Rücken liegend, blickt er in einen düsteren, wolkenverhangenen Himmel. Nur ein ungewöhnlich großer Rabe, der über ihm seine Kreise zieht, hebt sich vom Firmament ab.
Plötzlich spürt er eine beißende Kälte und den reißenden Wind an seinen Gliedern zerren.
Aufs Äußerste verstört, richtet Lu seinen Oberkörper auf, blickt sich um. Und was er sieht, lässt das letzte bisschen Wärme aus seinem Inneren entweichen.
Halb zur Seite gedreht, sitzt er starr, gelähmt, ohne zu atmen, und blickt auf die vermoderte Leiche von Benem.
Die Wunde an seinem linken Arm ist deutlich sichtbar. Gelb-brauner Eiter fließt aus ihr heraus.
Der rechte Arm ist am Ellenbogen abgetrennt. Der Stumpf endet in blutigen Fleischfetzen.
Seine Augäpfel fehlen und Lu kann sich bildlich vorstellen, wer sich über die Leiche hergemacht, ihren kräftigen Schnabel in ihr Gesicht gehackt und ihm die Augen entrissen hat.
Wie zur Bestätigung erklingt über ihm das laute Krächzen eines großen, tiefschwarzen Raben.
In Lu steigt Übelkeit auf. Seine Eingeweide verkrampfen sich.
Plötzlich packt eine halb verweste Hand sein linkes Bein. Verrottetes Fleisch und blanke Knochen umklammern es mit unmenschlicher Kraft. Der Untote versucht, sich zu ihm zu ziehen.
Lu schreit. Angst und Panik machen sich in ihm breit.
Der Untote kommt näher.
Lu blickt in die leeren Augenhöhlen von Benems Kopf, der sich leicht erhoben zu ihm wendet. Der grässliche Mund der widernatürlichen Kreatur bewegt sich. Lu kann unter dem verwesten Fleisch Muskelstränge und Teile des Kiefers erkennen.
Verzweifelt versucht er, sein Bein aus der untoten Klaue zu lösen.
Vergeblich.
Benem ist ihm jetzt ganz nah.
Mit einem gewaltigen Ruck löst sich Lu aus seiner Schreckensstarre. Er packt den Arm des Untoten mit beiden Händen und reißt ihn mit infernalischer Kraft nach oben - weg von seinem Bein.
Ein lautes Peitschen ertönt. Sehnen reißen, Knochen bersten und das morsche Fleisch löst sich.
Er ist frei.
Blitzschnell springt er auf, aber taumelt, fällt und landet wieder auf dem harten, kalten Boden, nur wenige Schritte entfernt von der jetzt Arm-losen Leiche.
Der Untote wimmert vor Schmerz.
Plötzlich durchbricht ein greller Lichtstrahl den dunklen Himmel. Es ist totenstill. Nur die grässlichen Geräusche Benems, der Kraft seiner toten Beine sein verwestes Fleisch über den trockenen braunen Boden - hin zu Lu - schleift, zerstören die unendliche Stille.
Lu wird geblendet. Das Licht sticht durch den dunklen Himmel wie die rettende Hand eines Gottes, der seinen Segen gen Erde schickt, um das Böse zu vertreiben.
In Lu keimt eine Spur der Hoffnung.
Plötzlich ein greller Blitz. Ein Feuerwerk aus reinem Licht zerplatzt.
Daraus hervor tritt eine Gestalt, ganz in weiße Tücher gehüllt. Sie ist weiblich und wunderschön. Ihr langes goldenes Haar hängt in sinnlichen Schwüngen ihren Rücken hinab. Ihre Augen haben die Farbe eines klaren, wolkenlosen Himmels und die Tiefe des südlichen Meeres. Ihr Mund, ihre vollen Lippen verkörpern alles, was Lu je als begehrenswert empfunden hat. Sie ist die personifizierte Schönheit.
Langsam kommt die Frau auf Lu zu. Sie schreitet nicht, sondern schwebt, umgeben vom Glanz ihrer bläulichen Aura.
Lu kann den Blick nicht von ihr wenden. Auch die nahen schleifenden Geräusche scheinen in weiter Ferne, interessieren ihn nicht.
Die Göttin ist ihm jetzt ganz nah. Sie streckt ihre zierliche weiche Hand nach ihm aus und berührt sanft sein Kinn.
Ihr Kopf ist nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. Er spürt ihren sanften Atem auf seinem Gesicht und wünscht sich nichts sehnlicher als ihre Lippen mit seinen zu vereinen.
Langsam bewegt Lu seinen Mund auf ihren zu. Aber die Frau stößt seinen Kopf sanft zur Seite und legt ihren Mund ganz nahe an sein Ohr.
“Ich erkenne dich.
Mein kleiner lieber Junge.
Du bist gekommen, um mich zu töten?”
Ein grauenhaftes, dissonantes, dämonisches Lachen, das nicht der Kehle eines Menschen entspringt, zerreißt die Nacht.
Lu erschrickt, erwacht wie aus einem Bann.
Die Erkenntnis trifft ihn hart wie ein Donnerschlag. Er stößt sich weg von der Kreatur, von IHR - Lijerah - und blickt in pupillenlose, gänzlich tiefschwarze Augen.
Ein fauliger Atem geht von ihr aus.
Sie öffnet den Mund, ein Maul voller spitzer Reißzähne.
Lu will fliehen, doch ein unbeschreiblicher Schmerz in seinem linken Unterschenkel zwingt ihn zu Boden.
Die schrecklichen Kiefer des Untoten haben sich tief in sein Fleisch gegraben.
Benem hat ihn erreicht, ist bei ihm, über ihm. Der Verwesungsgestank raubt ihm den Atem.
Lu schreit, versucht, Benem von sich zu zerren.
Ohne Erfolg.
Der Untote ist dort, wo er sein wollte, sein Maul nur wenige Zentimeter von Lus Hals entfernt.






