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Er öffnet es und fletscht die verfaulten Zähne.
Ein letzter schrecklicher Schrei …
Aber der Schmerz bleibt aus.
Benem liegt auf ihm. Sein verwestes Fleisch klebt an Lus Kleidung. Die leeren Augenhöhlen starren ihn an.
Die Kiefer des Untoten bewegen sich. Trotz der unmenschlichen Laute kann Lu klare, verzweifelte Worte verstehen.
“Sie ist das Böse. Sie hat mir das angetan. Bitte, hilf mir!”
Benems letzte Worte ersterben in einem schaurigen, erstickten Krächzen. Der Untote löst sich auf, wird zu Staub, den der Wind fortträgt.
Lu ist frei.
Er springt auf. Seine Augen suchen SIE. Aber es ist niemand mehr da.
Lu ist alleine. Um ihn herum nichts als tote Erde.
Dann ein lautes Krächzen.
Er blickt gen Himmel und sieht einen großen tiefschwarzen Raben, der nach Osten fliegt.
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d e r N e u e n Z e i t
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2 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t
d e r Z e i t d e r B l ü t e
A m M o r g e n
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S t r a ß e n a c h I s t e n d a h

Niekas hatte auch die wenigen Stunden, die ihm in dieser Nacht noch geblieben waren, nicht wirklich geschlafen. Zwar waren ihm vor Erschöpfung ständig die Augen zu gefallen, ein ruhiger, erholsamer Schlaf hatte sich aber nicht einstellen wollen. Zu viel war am gestrigen Tag geschehen, sein Inneres zu aufgewühlt gewesen.
Jetzt, als die elektrischen Eisen-Laternen am Wegesrand erloschen und die ersten Strahlen der Morgensonne den Himmel vorsichtig aufhellten, war es Zeit für ihn, seinen Weg fortzusetzen.
Die Stichwunde an seiner Flanke schmerzte, als er versuchte, sich langsam von seinem provisorischen Nachtlager auf dem - dank Brauer ehemals grasbewachsenen - Boden zu erheben. Um dem Schmerz entgegenzuwirken, drückte er mit der flachen Hand auf den Verband aus Stoff, Kräutern und orange-roter Heilsalbe.
Gestern Nacht hatte er nicht nur sich selbst, sondern auch die Schreckens-Echse behandelt. Niekas hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Wunde an ihrer Ferse gut verheilen und das Tier überleben würde. An eine Klaue weniger würde sie sich gewöhnen müssen.
Zwar hatte der Prädator versucht, ihn umzubringen, aber so war nun mal der Lauf der Natur. Die Schreckens-Echse hatte nicht aus abgrundtiefer Bosheit oder in einem grausamen, vom Wahnsinn getriebenen Blutrausch gehandelt. Sie war kein widernatürliches Monster, dass andere Lebewesen einfach aus Spaß abschlachtete. Nein! Sie hatte einfach vom Hunger getrieben gejagt, um zu überleben.
Nachdem sich die Echse gestern Nacht langsam und humpelnd davon geschlichen hatte, war Niekas auf die Suche nach seiner während des Kampfes verlorenen Handgan gegangen. Als er sie gefunden hatte, war er losgezogen, sich um sein ausgebrochenes Pferd zu kümmern. Glücklicherweise hatte er nicht allzu weit den Steinweg zurück Richtung Arstorn laufen müssen. Brauer war gut trainiert und blieb normalerweise bei Niekas, egal wie gefährlich die Situation war. Dies hatte letzte Nacht zwar nicht funktioniert, das Pferd war dennoch nicht voller Panik blindlings bis zur Erschöpfung weiter galoppiert, sondern hatte in sicherem Abstand auf seinen Herrn gewartet.
Mit einem ausgedehnten Gähnen streckte Niekas seine müden und geschundenen Glieder der Morgensonne entgegen. Das gute Gefühl, wenn sich seine Muskeln an- und wieder entspannten, wurde nur durch das Stechen in seiner Flanke getrübt. Aber auch das würde wieder vergehen.
Er bückte sich, hob den am Boden liegenden Lederbeutel mit den Jaru-Beeren auf, von denen nur noch wenige übrig waren und gab sie Brauer zum Frühstück. Während sein Pferd genüsslich schmatzte, holte Niekas seinen letzten Proviant aus der Satteltasche, ein kleines Stück Brot, bestrichen mit Ziegenleberwurst und ein gutes Stück ‘Ahle Wurscht’. Dazu gab es einen ordentlichen Schluck Schwarzbier, der in einem fulminanten Rülpser endete, der eine kleine, schwarz-gelb gestreifte Kriechechse verängstigt aufschrecken ließ, die gerade dabei war, mitten auf dem Steinweg genüsslich ihr erstes Sonnenbad an diesem Tag zu nehmen.
Niekas grinste breit und wischte sich mit seinem Ärmel den Bierschaum vom Mund. Seine Laune hatte sich schlagartig verbessert.
Voller Elan schwang er sich in den Sattel und blickte aufbruchsfreudig in die Weite der Landschaft. Es war ein klarer Tag, sodass Niekas in der Ferne hinter einer breiten Wüsten-Schneise drei riesige graue Industrie-Schornsteine erkennen konnte, die vor langer, langer Zeit einmal schädlichen Rauch in die Luft gespuckt und damit die Natur zerstört hatten. Aber auch dieser Anblick, der ihn normalerweise betrübte, konnte seine Stimmung heute nicht gefährden.
Niekas langte in die Satteltasche, holte seinen Audio-Abspieler heraus und setzte sich die beiden dazugehörigen schwarzen Schallmuscheln auf seine grünen, runden Ohren. Er liebte laute, jahrhundertealte Gitarrenmusik, eines der wenigen Kulturgüter aus der ‘Alten Zeit’, die er für absolut erhaltenswert hielt.
Als die Musik seine Trommelfelle fast zum Platzen brachte, grinste er breit übers ganze Gesicht.
“Auf gehts, Brauer! In ein paar Stunden sind wir in Istendah.”
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A m M o r g e n
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I s t e n d a h / F ö r F r e m d i g a r

Es war erst wenige Minuten her, da die ersten sanften Lichtstrahlen begonnen hatten, die Dunkelheit zu vertreiben. Doch noch hatte das Licht nicht gewonnen. Es gewann zwar an Kraft, aber die Schatten wehrten sich vehement und noch erfolgreich.
Dies geschah jeden Tag und stets hatte das Licht den Kampf gegen die Dunkelheit gewonnen. Wann würde der Zeitpunkt kommen, da das Licht unterlag?
…
Luhni Mahjos erwachte ruckartig mit einem Schrei auf den Lippen und setzte sich kerzengerade auf. Er hatte geträumt - von IHR. Wieder.
Mit vor Aufregung unruhig klopfendem Herzen musterte er seine Umgebung. Er lag auf einer zu harten Matratze in einem hölzernen Bett, das in einem kleinen Zimmer stand, dass er gestern am Abend im ‘För Fremdigar’ gemietet hatte.
Lu gab einen erleichterten Seufzer von sich.
Keine Höhle.
Die Herberge, ein weitläufiges zweistöckiges Gebäude aus weißen Backsteinen mit großen, schwarz gestrichenen Kunststoff-Sprossenfenstern, lag am Rande des Hafenviertels, nahe des Flusses Sanzea, am Übergang zum Marktviertel und damit in aussichtsreicher Position, viele fremdländischen Gäste aufzunehmen, die Istendah besuchten.
Als Lu eingetroffen war, hatte der schwarze Schornstein, der einsam auf dem mit roten Tonziegeln gedeckten Satteldach stand, weiß-gräulichen Rauch ausgestoßen. Ein seltener Anblick.
Durch das Dachfenster seines Zimmers traten die ersten Sonnenstrahlen und blendeten ihn. Es musste noch sehr früh am Morgen sein.
Lu sah einige Schnapper, die auf dem Dach der Herberge herum sprangen und nach einem leckeren Frühstück Ausschau hielten. Sofort erinnerte er sich an den gestrigen Abend, an Schnapper, die sich über einen grausam entstellten Körper hergemacht und große Fleischstücke aus der geschundenen Leiche gerissen hatten, ohne dass er es hatte verhindern können.
Die Erinnerungen trübten sein Gemüt, aber er wusste, dass er richtig gehandelt hatte, um sich selbst zu schützen.
Gestern Abend, nachdem er den Tatort verlassen hatte, war Lu zur Hafenmeisterei Istendahs gelaufen, wo er sein Reisegepäck seit seiner Ankunft am Morgen deponiert hatte. Der Hafenmeister selbst war nicht mehr da gewesen, aber sein Vorarbeiter hatte ihm die Sachen ausgehändigt und angeboten, sie von seinem Laufburschen zur Herberge bringen zu lassen, was Lu dankend angenommen hatte.
Beim ‘För Fremdigar’ hatte er dem Burschen, Jako, ein ordentliches Trinkgeld gegeben, nicht nur wegen des Transports seiner Sachen, sondern weil Jako ihm auch darüber hinaus seine Hilfe angeboten hatte, zum Beispiel als Fremdenführer oder für Besorgungen. Und jemanden wie Jako, einen kräftigen Burschen, der sich zudem auch noch ausgezeichnet in Istendah auskannte, konnte Lu womöglich früher oder später tatsächlich gebrauchen.
Nach einem schnellen Nachtmahl, bestehend aus Eintopf mit Möhren, Knollengemüse und ein paar Stücken undefinierbaren Fleisches, war Lu sofort auf sein Zimmer gegangen, hatte die einmal komplett durchnässten und wieder getrockneten Kleider über einen Stuhl gehängt, sich aufs Bett geschmissen und war nach den wahrhaft anstrengenden Geschehnissen des Tages fast sofort eingeschlafen.
Langsam schwang Lu seine Beine vom Bett, gähnte noch einmal ausgiebig und ließ seinen Blick durch sein kleines Reich schweifen, was mindestens für die nächsten paar Tage sein zu Hause sein würde.
Das Zimmer im ersten Stock der Herberge war nur spärlich eingerichtet. Neben zwei einzelnen Betten ergänzte ein kleiner hölzerner Tisch mit zwei braunen Plastikstühlen und ein Metall-Schrank, dem eine Tür fehlte, das Mobiliar. Zudem gab es ein kleines Beistelltischchen, auf dem eine billige Vase mit einigen halb vertrockneten Kräutern stand.
Im Nebenraum befand sich ein kleines Bad mit Toilette, Waschbecken und einer kupfernen, beheizbaren Wanne.
Lu grinste.
Standard für das moderne Istendah.
Er ging zum Waschbecken und drehte an einem kleinen eisernen Rad. Lauwarmes Wasser sprudelte daraufhin aus einem dünnen Rohr, das aus der Wand heraus ragte. Lu tauchte seine zur Schale geformten Hände hinein und wusch sein Gesicht. Gleichzeitig versuchte er, seine Gedanken an den Albtraum von letzter Nacht, seine Gedanken an SIE, wegzuwischen.
Ohne Erfolg.
Lu benetzte ein letztes Mal sein müdes Gesicht und strich dabei über eine kleine Narbe an seinem Hals.
Ein Wunder, dass ich in all den Kämpfen gegen die Kreaturen des Widernatürliche nur diese eine Narbe davongetragen habe.
Verletzt wurde Lu schon oft, meist leicht, selten wirklich schwer, aber die Wunden waren alle gut verheilt, zumindest die Körperlichen. Die Seelischen würden wohl nie gänzlich vergehen.
Immer noch gedanklich an seinen Albtraum gefesselt, zog Lu seine dunkelbraune Hose aus Spireos-Echsenleder, verstärkt mit Keweler-Stoff, der quasi undurchdringbar für fast alle Arten von Waffen war, seine schwarzen Stiefel und ein gleichfarbiges Baumwollhemd an. Dann schnallte er seinen breiten, braunen Ledergürtel um, griff seine schwarze Jacke aus Riesenwildschweinhaut, öffnete die Tür und betrat einen mit blauem Teppich ausgelegten Gang. Dieser endete bei einer schmalen hölzernen Treppe, die ihn hinunter zum Schankraum führte, wo er sich ein ordentliches Frühstück genehmigen wollte.
Als Lu seinen Fuß auf die letzte Treppenstufe setzte, knickte sein Bein plötzlich unter ihm weg. Schlagartig durchfuhr ein grässlicher Schmerz seinen linken Unterschenkel, gleich einer glühenden Eisenzange, die mit unmenschlicher Gewalt sein Bein erbarmungslos umschloss.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte sich Lu humpelnd in den Speiseraum und setzte sich an den ersten freien Tisch auf einen grünen Plastikstuhl. Sofort umfasste er sein Bein mit beiden Händen, zog die Hose hoch und erschauderte.
Sein linker Unterschenkel war ringförmig von blauen Flecken umschlossen, wie wenn er über Nacht eine zu enge Beinfessel getragen hätte oder …
Lu erschrak, als ihm die Details seines Albtraums ins Bewusstsein flossen.
… wie wenn sich jemand - oder etwas - krampfhaft an sein Bein geklammert und es mit der Kraft eiserner Schraubzwingen festgehalten hätte.
Benem!
Er betrachtete die Verletzung etwas genauer und strich mit der rechten Hand darüber. Es tat weh. Nicht sehr, aber doch merklich.
Das, was ihm letzte Nacht passiert war, musste mehr gewesen sein als ein normaler Traum.
Aber was?
Seine Gedanken wurden durch die fröhlichen Worte der Oberin unterbrochen, die ihm einen guten Morgen wünschte. Lu bestellte Frühstück, woraufhin die Oberin mit einem Lächeln verschwand, um ihm kurz darauf ein reichliches Morgenmahl, bestehend aus Echsen-Eiern mit Gator-Speck, Brot, einem guten Stück kaltem Ziegenbraten und Ziegenmilch zu servieren.
Mit großen Augen blickte er auf den reichlich gedeckten Tisch vor sich.
“Wow, danke!”, sagte Lu begeistert mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er hatte mächtigen Hunger.
Die Oberin lächelte zurück und ließ ihn in Ruhe sein Frühstück genießen. Im Gegensatz zu dem traurigen Eintopf von gestern schmeckte das Essen wirklich hervorragend. Besonders der kalte Braten und der Gator-Speck waren so gut, dass Lu gar nicht bemerkte, dass sich die Fesseln an seinen Albtraum gelöst hatten.
Während er genüsslich und ausgiebig aß und trank, blickte er sich im Schankraum des ‘För Fremdigar’ um. Lu befand sich in einem ausladenden Raum, in dem zahlreiche kleine und größere hölzerne Tische standen, an denen braune, grüne und weiße Plastikstühle ordentlich angerichtet waren. Im vorderen Teil, nahe der hölzernen weißen Eingangstür, befand sich eine lang gezogene leicht gebogene Theke aus breiten Stücken blank poliertem Metalls, die mit schwarzen Nieten miteinander verbunden waren.
Neben der Theke stand ein hoher und breiter mechanischer Automat aus grauem Metall, aus dem sich ein Einheimischer gerade frisch gemahlenen braunen Kertush zapfte, indem er seinen Stadtausweis vor einen kleinen Sensor hielt. Außerdem spendete der Automat auf Wunsch Wasser, Tee und süßen Dornbeerensaft. Ein sehr modernes technisches Gerät, das wahrscheinlich nur wenige Gasthäuser in Istendah besaßen.
Der gesamte Boden des Speiseraums war mit hellen hölzernen Bohlen ausgelegt. Von der weiß gestrichenen Decke hingen große schwarze elektrische Lampen.
Ungefähr in der Mitte des Raumes befand sich ein echter alter Kohlekamin, der jetzt am Morgen jedoch aus war. Lu vermutete, dass er abends, wenn die Gäste ihren Feierabend genossen, angezündet wurde, um eine gemütliche, heimelige Atmosphäre zu schaffen. Zum Heizen diente der Kamin jedenfalls nicht, denn das erledigten deutlich sichtbare Radiatorrohre aus reinem Silber, die an den bis zur halben Deckenhöhe weiß vertäfelten Wänden entlang liefen.
Früher einmal war Silber wertvoll gewesen, zwar nur mäßig, aber immerhin wertvoll. Aber seit man in den ‘Rodesischen Bergen’, nahe der Stadt Rodesia, riesige Vorkommen gefunden hatte, war das Metall nicht mehr wert als dieselbe Menge herkömmliches Eisen.
Lu trank den Rest seiner Ziegenmilch und stellte den leeren Becher auf den hölzernen Tisch. Satt und glücklich erhob er sich von seinem Stuhl.
Sofort schoss ein leichter, stechender Schmerz durch sein linkes Bein, der die wohlige Blase platzen und ihn zurück in die harte Realität fallen ließ.
Verdammter Mist!
Nur vorsichtig auftretend, wollte Lu gerade zurück auf sein Zimmer gehen, wo eine wunderbare beheizbare Kupferwanne auf ihn wartete, als drei Männer lautstark den Schankraum betraten. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, gehörten sie zur hiesigen Stadtwache. Sie trugen dunkelblaue Uniformröcke mit goldenen Knöpfen und Streifen an Hüfte und Ärmelenden und königsrotem Innenfutter, was durch den Rockaufschlag unterhalb des Bauches deutlich zu sehen war. Auf ihren Schultern prangten goldfarbene Rangabzeichen. Dazu trugen sie dunkelblaue Hosen und schwarze, hohe, feste lederne Stiefel. Ihre Köpfe wurden von dunkelblauen Schirmmützen mit goldenem Band und dem Wappen Istendahs bedeckt, das den Carob Toran als Zeichen für Fortschritt und Wissen und den roten Krebs als Symbol für das Meer zeigte, welches die Bürger der Stadt schon seit Angedenken ernährte.
Im Gegensatz zu den blitzsauberen Uniformen wirkten deren Träger eher mau. Der vordere, ein mittelalter bärtiger Mann mit der Statur eines Bären und dem Aussehen eines ungewaschenen Wildschweins, schien der Hauptmann zu sein, was man unter anderem an seiner Uniform erkennen konnte, die von einer dicken goldenen Kordel an der rechten Schulter geziert wurde. An seinem breiten, schwarzen Ledergürtel trug er eine große, eiserne Stichwaffe, einen Säbel.
Die beiden einfachen Soldaten hinter ihm, beides noch junge und dürre Burschen, schulterten je eine silberne Zweihandgan, sehr seltene längliche Feuerwaffen aus der ‘Alten Zeit’, die Lu zum ersten Mal in behördlichem Dienst sah. Absolut tödlich.
Die Soldaten setzten sich an einen Tisch, der direkt vor einem der großen, schwarz gestrichenen Sprossenfenster stand, durch die die Sonne hell in den Schankraum schien. Normalerweise hätte Lu die Männer einfach ignoriert und wäre in froher Erwartung eines heißen Bades auf sein Zimmer gegangen. Aber die Worte des Hauptmanns ließen ihn innehalten.
Während dieser lauthals von einem Mord am Ufer der Sanzea berichtete und seinen beiden Frischlingen ausgiebig seine Theorien zu den Geschehnissen darlegte, setzte sich Lu scheinbar willkürlich an einen Nebentisch und lauschte gespannt dem intensiven Wortschwall.
Der bärtige Hauptmann wischte sich mit einem Stofftaschentuch einige Schweißtropfen von der Stirn, winkte die Oberin heran und bestellte einen großen Krug Schwarzbier samt drei Tonbechern. Die Oberin nickte nur und verschwand schnell hinter dem Schanktisch, nur um wenige Augenblicke später mit einem vollen Tablett in der Hand wieder hervorzukommen.
Lu erfasste die Situation blitzschnell und reagierte sofort. Bevor die Oberin den drei durstigen Männern ihr Schwarzbier bringen konnte, sprang er auf, fing die Oberin kurzerhand ab und nahm ihr das Tablett aus der Hand. Verschwörerisch zwinkerte er der verdutzten Frau zu.
Dann ließ er sich einen vierten Becher geben und lief, das Tablett mit beiden Händen fest umklammert, zu dem Tisch, an dem die drei Soldaten der Stadtwache schon sehnlichst auf die kühle Erfrischung warteten.
“Die Runde geht auf mich, meine Herren. Darf ich mich setzen?”
Alkohol galt in Istendah als Luxusgut und musste im Gegensatz zu den meisten anderen Getränken auch von den Einheimischen bezahlt werden. Den Soldaten ein Schwarzbier auszugeben würde ihm somit Tür und Tor öffnen und auch die Zungen der Anwesenden lösen. Das hoffte Lu zumindest.
Der Hauptmann der Stadtwache unterbrach seinen lautstarken Monolog abrupt und verstummte. Alle drei Soldaten richteten ihre erstaunten Blicke auf den Fremden, der an ihren Tisch getreten war.
Der bärtige Riese fixierte Lus Augen und schien nicht ganz zu wissen, was er von ihm und seinem Angebot halten sollte. Lu hatte das Gefühl, von einem Stilett durchbohrt zu werden. Der Hauptmann blickte nicht einfach in seine Augen, sondern durch sie hindurch, direkt in seine Seele.
Plötzlich lag eine gefährliche Spannung in der Luft. Lu meinte zu ahnen, dass der Bärtige gleich wutentbrannt hochfahren und auf ihn losgehen könnte.
Doch der Moment verstrich so schnell, wie er gekommen war. Der kantige Blick des Hauptmanns löste sich in einem Lachen auf.
“Jeder, der eine Runde gibt, ist bei mir willkommen. Also setzt euch, stellt die Becher auf den Tisch und schenkt ein.”
Genau das tat Lu. Als er fertig war, nahm er seinen Tonbecher, prostete den Männern zu und trank einen winzigen Schluck Schwarzbier, wobei er das Glas länger an seinem Mund ließ, als dafür notwendig war. Schließlich wollte er den Schein wahren, richtig mitzutrinken.
In Wahrheit hasste er Alkohol. Lu verstand zwar, dass sich Menschen und auch andere intelligente Lebewesen gerne die Sinne benebelten, zum Beispiel, um ihre Gedanken von dem eigenen Elend abzulenken. Er selbst weigerte sich aber normalerweise, jegliche Form von Getränken zu sich zu nehmen, die seinen Geist beeinflussten. Wahrscheinlich war er einfach schon in zu viele Situationen geraten, in denen er ohne die volle Funktionsfähigkeit seines Körpers, vor allem seines Kopfes, nicht überlebt hätte. Und eine solche Situation konnte jederzeit und überall auftreten.
Aber was tut man nicht alles, um ein paar Informationen zu bekommen.
Der Hauptmann der Stadtwache leerte seinen Becher in einem einzigen Zug, wobei ein guter Teil des Bieres den Mund verfehlte und seinen Bart besudelte, was ihm nichts auszumachen schien. Einen tiefen Rülpser später verlangte er Nachschub, wobei er Lu erwartungsvoll anstarrte.
Lu nahm den schon fast leeren Krug Schwarzbier und schenkte dem Bärtigen nach. Dieser nickte ihm dankend zu und wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Lu ihm das Wort abschnitt.
“Werte Herren, ich habe eben zufällig mitbekommen, wie ihr über eine Leiche gesprochen habt.”
Die drei Männer hielten in ihren Bewegungen inne und schauten Lu verdutzt und gleichzeitig voller Misstrauen an.
Lu mochte weder ausladende Floskeln noch langes Drumherumreden. Er stellte lieber auf direkte Art Fragen und bekam unerwartet oft eine passende Antwort. Vielleicht waren die überrumpelten Befragten - seiner aggressiven Offenheit wegen - einfach zu überrascht, um falsch oder gar nicht zu antworten. Auf jeden Fall hatte Lu durch seinen Stil schon die ein oder andere brisante oder gar geheime Information erhalten.
Da ihn der Hauptmann und seine beiden Grünschnäbel immer noch erstarrt anstierten, beschloss er, die Spannung nicht ausarten zu lassen, sondern seine Frage in eine kleine, beruhigende Lüge einzubetten.
“Es tut mir leid. Das Ganze geht mich natürlich nichts an, aber ihr müsst verstehen: Ich bin erst seit ein paar Tagen in Istendah und die Leute reden, wo auch immer ich hinkomme, nur von diesem einen Thema, den Morden. Ich möchte nur wissen, ob ich mich nachts überhaupt noch auf die Straße trauen kann.”
Der Bärtige war der Erste, der seine Worte wiederfand. Er prustete laut los, wohl, um seine Unsicherheit zu überspielen.
“Auf die Straße trauen könnt ihr euch schon. Ihr braucht lediglich ein reiches Waffenarsenal und Mumm für drei!”
Die beiden dürren Lappen lachten pflichtbewusst, genau wie Lu - anstandshalber.
Nur nicht die Stimmung kippen lassen.
Als das Lachen langsam abebbte, fragte Lu interessiert, aber bewusst beiläufig:
“Und jetzt mal im Ernst, die Herren? Wie siehts aus? Habt ihr schon eine Spur oder eine Ahnung, wer sich da draußen rumtreibt und Leute abmurkst?”
Das Grinsen des Bärtigen stoppte abrupt. Er kniff seine stechenden Augen fest zusammen und fixierte Lu erneut voller Misstrauen.
Es dauerte einige Herzschläge, bis der Hauptmann das angespannte Schweigen brach.
“Wer seid ihr, dass ihr so seltsame Fragen stellt? Man könnte meinen, ihr habt mehr Interesse an den Morden, als ein normaler Bürger haben sollte.”
In Lus Kopf arbeitete es. Seine Gedanken rasten. Blitzschnell versuchte er, die verschiedenen Vorgehensweisen abzuwägen.
Plan A: Sich für die Neugier entschuldigen, noch einen Krug Schwarzbier ausgeben und sich möglichst schnell verdrücken.
Plan B: Offensiv vorgehen.
Er entschied sich für Plan B und sagte mit fester, ernster Stimme:
“Mein Name ist Luhni Mahjos, Sohn des ‘Ersten Beraters’ des Stadthalters von Sahrip in Danarien.”
Den Titel seines Vaters erwähnte Lu nur, wenn er sich schnell Respekt verschaffen musste.
“Mein Job ist es, ungewöhnliche Geschehnisse aufzuklären, egal welcher Art. Ich habe im offiziellen Auftrag des Stadthalters von Grauheim in Mordfällen ermittelt, ebenso in Truhnheim, Takajan, Barkstadt und zahlreichen weiteren Orten, wenn die Kopfjäger versagten und die Stadtsoldaten und Inspektoren nicht weiterkamen.”
Lu machte eine kurze Pause, damit die Soldaten das Gehörte verarbeiten konnten.
“Nun bin ich hier in Istendah. Und wie es aussieht, könnte diese Stadt ebenso meine Hilfe gebrauchen.”
Lu griff in die Brusttasche seiner schwarzen Jacke und holte zwei zusammengefaltete Blätter gelblichen Papiers heraus. Im selben Moment erhob sich der bärtige Riese und breitete seine ganze Größe vor ihm aus. Er schien wenig beeindruckt von Lus Worten, schaute verärgert auf ihn hinab und überlegte womöglich, ob er den zu neugierigen Fremden nicht einfach ins Gefängnis werfen sollte.






