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Noch hatte die einsetzende Dunkelheit nicht alle Gäste aus dem „Lustigen Bären“ vertrieben, und die dort anwesenden waren offensichtlich nicht betrunken genug, um ihn nicht zu erkennen, da sie dem Richter zumindest mit einer leichten Verbeugung ihren Respekt zollten. Dieser antwortete mit einem hastigen Kopfnicken hier und da, während er sich schnurstracks zur Theke bewegte und mit einem kurzen Klopfen auf den Tresen die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich zog.
„Werter Richter, was führt Euch denn in mein bescheidenes Haus?“, fragte Bjarn mit einem freundlichen Lächeln und einer höflichen Verbeugung, soweit der beengte Platz es zuließ.
Karl winkte ab: „Nicht so förmlich, ich bin nicht als Würdenträger hier. Ähm… sagt mir doch bitte, kennt ihr die beiden Wachen, die soeben nach Hause gegangen sind?“
Bjarn zog beide Augenbrauen hoch: „Aber sicher doch, sie sind hier Stammgäste. Das sind Lans und Max.“
Karl nickte: „Und welcher der beiden ist der Ältere?“
„Das wird dann wohl Lans sein. Warum fragt Ihr? Hat das was mit dem Dämonenjäger zu tun?“, Bjarn kam nicht umhin, neugierig zu werden.
Jetzt war es am Richter, fragend drein zu blicken: „Der Dämonenjäger? Wieso?“
Bjarn zuckte mit den Schultern: „Na, der Dämonenjäger hat sich mit ihm und seinen Kumpels ausführlich unterhalten, ich schätze mal wegen der Sache mit dem armen Irren. Aber vor allem mit Lans.“
Der Richter nickte langsam und verlangte nach einem guten, kräftigen Rotwein, den er auch umgehend bekam. Er nahm einen großen Schluck, und sah den Wirt ernst an: „Und hat der Dämonenjäger irgendetwas gesagt, was Lans anging?“
Bjarn schüttelte den Kopf: „Nein, er schien recht zufrieden mit dem Gespräch gewesen zu sein. Stimmt etwas nicht? Ich bin zwar nicht mehr ganz der Alte, aber falls…“
Der Richter leerte den Becher in großen Schlucken und schüttelte den Kopf: „Es ist vermutlich nichts.“
Bjarn beugte sich zu ihm vor und sprach wesentlich leiser: „Und weshalb habt Ihr Euch nach den freien Räumen in meinem Haus erkundigen lassen?“
Der Richter hielt inne und sah Bjarn dann durchdringend an: „Ich denke, Ihr wisst sehr gut, warum.“
Bjarn richtete sich auf und atmete tief durch: „Das gefällt mir nicht.“
Karl seufzte: „Ich denke, das wird hier niemandem gefallen. Es ist gewiss nicht unsere Schuld, was dort drüben passiert“, er deutete mit dem Kopf dezent in Richtung des Klosters, „aber man wird uns gewiss irgendetwas unterstellen. Vielleicht solltet Ihr Eure Frau für eine Weile…“
Bjarns Gesicht verfinsterte sich und er grollte leise: „Meine Frau geht nirgendwohin. Das ist unser Zuhause. Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen…“
„…außer so zu sein wie sie ist“, beendete der Richter leise. „Ihr habt unübersehbar Vorfahren im Norden, sie ist eine Kräuterfrau mit Spuren von Feenblut und Euer Sohn ist demnach auch ein ganz besonderes Früchtchen, wenn Ihr mir den Ausdruck verzeiht. Man wird euch alle ganz besonders genau unter die Lupe nehmen.“
Bjarn verschränkte die Arme vor der Brust: „Dann erwarte ich von Euch, dass Ihr für Gerechtigkeit sorgt, Herr Richter, und die Unschuldigen vor Willkür schützt.“
Karl seufzte erneut: „Glaubt mir, ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um die Angelegenheit für unsere Stadt möglichst… ereignislos zu regeln. Aber wir wissen beide, wenn sich die Stadtherren nicht mit dem Orden streiten wollen – wovon ich ausgehe –, dass dann das Kräfteverhältnis eindeutig nicht zu meinen Gunsten ausfallen wird.“
Selbst wenn er die Oberin auf seine Seite ziehen konnte, würde er nicht viel gegen die Macht des Ordens ausrichten können, erst recht nicht, wenn sie mit einem ausreichend großen Trupp bewaffneter und kampfbereiter Männer anrücken würden. Die Schwesternschaft konnte sich zwar im Notfall verteidigen, aber gegen eine Armee konnten sie nicht viel ausrichten. Sie waren Heilerinnen und Seelsorgerinnen, keine Soldaten. Und selbst wenn zusätzlich zur Stadtwache alle Männer und so manche Frau der Stadt mit Waffen ausgerüstet werden würde, wie man es normalerweise nur im Falle eines Krieges tat, gegen die kampferprobten, gut ausgebildeten und bestens ausgerüsteten Ordenskämpfer hatten sie wenig Chancen. Erst recht nicht, wenn diese Kämpfer sich bereits in der Stadt befanden und das Leben der Kinder und die gesamte Existenz der Leute auf dem Spiel stand. Den Zorn der Rächer auf sich zu ziehen hatte noch keiner Stadt gut bekommen.
Bjarn knurrte leise und nickte: „In Ordnung, ich werde das Thema meiner Frau gegenüber ansprechen. Wenn sie für eine Weile fortgehen will, dann wird Osterik sie begleiten. Wenn nicht, dann hoffen wir, dass Ihr uns alle nicht im Stich lassen werdet.“
Der Richter spürte einen kalten, harten Klumpen in seinem Bauch und nickte: „Wie gesagt, ich werde alles mir mögliche tun. Passt auf Euch auf.“
Mit diesen Worten ließ er einige Münzen auf den Tresen fallen, und verließ eilig das Wirtshaus. Er hasste es, guten Menschen schlechte Nachrichten zu überbringen, und er hasste es, derartiges unvorbereitet tun zu müssen. Er verwünschte den Tag, an dem das Kloster gefallen war, und er verwünschte die Dämonen dafür, dass sie sich ausgerechnet dieses Kloster ausgesucht hatten. Dann fiel ihm auf, dass es beinahe Nacht geworden war, also machte er sich auf den Weg nach Hause. Zu dieser späten Stunde noch den Wachmann aufzusuchen, der nach einem anstrengenden Tag und ein paar Bier sicherlich bereits zu müde für eine Unterhaltung war, hatte keinen Sinn. Und Karl wusste nicht einmal, was er den Mann fragen wollte. Es war wohl besser, den folgenden Tag abzuwarten und sich Gedanken zu machen.
Kapitel 8
Die Stadt kam langsam zur Ruhe. Die meisten ihrer Bewohner waren bereits eingeschlafen, und die Nachzügler kehrten aus den Schenken in ihre Häuser zurück. Die Wolken wichen mehr und mehr dem aufziehenden Wind und das Wetter schien endlich umgeschlagen zu sein. Unter dem Licht des roten und grauen Mondes wirkte der Nachthimmel jedoch unheilvoll und so manches alte Weib wünschte sich die Wolkendecke zurück, die sie vor ihren finsteren, wahnsinnigen Blicken verbergen würde. Die Konstellation war ein düsteres Omen, für alle, die die Zeichen am Himmel in Bezug auf die Ereignisse auf der Erde deuten konnten. Ein merkwürdiger, süßlicher Geruch hing in der Luft, tänzelte mit den Windböhen und Luftzügen herum, in inniger Umarmung mit der Wärme, welche die kommende Zeit der Blüte ankündigte.
So verwunderte es Bjarn nicht, seine Frau in ihrer Kammer vor einem intensiv duftenden Häufchen aus glimmendem Räucherwerk in einer tönernen Schale vorzufinden. Sie kniete auf dem Boden, inmitten eines mit Kreide auf den Holzdielen aufgezeichneten, fünfzackigen Sterns, und umgeben von einem dünnen Kreis aus Salz. Kleine, kreisrunde Schälchen aus Ton standen an den Spitzen des Sterns, gefüllt mit klarem Wasser, warmer Asche, lockerer Erde, Honig und nichts als Luft.
Bjarn blieb im Türrahmen stehen und beobachtete sie. Sie schien nicht auf seine Präsenz zu reagieren, summte leise eine Melodie vor sich hin, die sich hypnotisch in sie hinein wand, wie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz fraß. Er wusste, in solchen Momenten hatte es keinen Sinn, sie anzusprechen. Sie würde ihn in ihrer Versunkenheit nicht hören. Also blieb er geduldig stehen, während sein Gemüt sich immer mehr verfinsterte. Ausgerechnet jetzt den Blutmond zu erblicken, nach den Warnungen des Richters und den unheilvollen Ereignissen im Kloster, das war ihm nicht geheuer. Und zugleich spürte er, wie sich das Blut seiner Vorfahren in ihm regte. Auch wenn Generationen zwischen ihm und seinem legendären Ahnen des Kanidenvolkes Marên lagen, manchmal spürte er das Temperament, den Zorn, die blutrünstige Raserei. Seine Frau war eine der wenigen, die ihn dann zu Sinnen bringen konnte. Sie konnte die Bestie in ihm besänftigen, der er so viele Siege auf dem Schlachtfeld zu verdanken hatte, aber auch so manche unrühmliche Szene abseits davon. Er liebte sie so sehr, dass er niemals die Hand gegen sie erhoben hatte oder je erheben würde. Und nun sollte er sie wegschicken?
Als ob sie spürte, dass seine Gedanken sich um sie drehten, sah sie ihn plötzlich an – doch ohne das besondere Lächeln auf den Lippen, das sie nur für ihn hatte. In ihren Augen standen Sorge und auch der Anflug von Angst. Er hatte noch nie diese Art von Angst in ihrem Gesicht gesehen und das fachte die Glut des Zorns in seinem Inneren weiter an.
„Der Richter sagt, es wäre besser, wenn ich alleine hier bliebe, ohne dich und Rik. Was denkst du?“, grollte er leise in seinem tiefen Bass. An seiner Stimme war klar zu erkennen, dass er in seinem Inneren nach Fassung rang.
Sie seufzte und erhob sich, um zu ihm zu gehen und ihn mit ihren Armen zu umschlingen. Er beugte seinen Kopf nach vorn, um den Geruch ihrer Haare einzuatmen, den er so liebte. Sie nutzte wohlduftende Kräuter bei jeder Haarwäsche, so dass es in ihrer Nähe immer nach der Zeit der Blüte roch. Er drückte sie an sich und wünschte sich, diesen Moment festhalten zu können, bevor alles nur schlimmer werden würde.
„Er ist ein vernünftiger Mann, und so gesehen hat er recht. Ihr beide seid meinetwegen in Gefahr, und ich ohnehin, wenn ich hier bleibe.“ Doch sie drückte sich fester an ihn, als wollte sie ihre Worte Lügen strafen.
Er atmete tief durch: „Dann solltest du morgen aufbrechen, besser noch ihr beide. Zieht nach Osten, weg von diesem Ort, und wartet irgendwo auf mich, wo es sicher ist.“
Sie hob ihr Gesicht, um direkt in seine Augen zu blicken und schüttelte den Kopf: „Ich werde dich nicht verlassen. Du wirst mich brauchen, vielleicht werden viele Menschen hier mich brauchen. Die Schwestern sind nicht die einzigen, die Wunden und Wahnsinn heilen können. Aber unseren Sohn, ihn müssen wir in Sicherheit bringen.“
„Das glaube ich nicht“; hörten sie die Stimme von Osterik aus dem dunklen Gang, schon aus dem Stimmbruch heraus, aber immer noch so jung. Er hatte sich angeschlichen, und anscheinend alles mitgehört.
Bjarn und Selena drehten sich um, und lösten dabei etwas ihre Umarmung. Bjarn sah seinen Sohn prüfend an: „Du bist der Sohn eines Nordmannes und einer Hexe. Du bist eigenwillig und nimmst kein Blatt vor den Mund. Was glaubst du, was die Herrschaften des Rächers mit Burschen wie dir machen?“
Osterik zuckte mit den Schultern: „Ich bin vielleicht eigenwillig, aber nicht blöde. Aber wenn Mutter nicht gehen wird, dann bleibe ich erst recht. Du bist ein Versehrter, und ich habe meine Gliedmaßen alle noch, also muss ich wohl auf euch beide aufpassen.“
Bjarn knurrte als Reaktion auf die freche Rede seines Sprosses, doch die Wahrheit darin war nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn er sich in einer Schlägerei immer noch mehr als gut behaupten konnte, gegen die gut gedrillten Truppen der Rächer zu bestehen würde sich als schwieriger erweisen, sollte es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kommen. Sie würden ihn mit ihren Schwertern vermutlich gar nicht erst in die Nähe lassen, aus der er den Vorteil seiner Größe und Körperkraft ausspielen konnte. Doch seinen Sohn hatte er gut ausgebildet, und er hatte Vertrauen in dessen Fähigkeiten, seinen wachen Verstand, seine aufmerksamen Sinne und seine hervorragende körperliche Verfassung.
Also klopfte er als Reaktion auf die Widerworte anerkennend auf Osteriks Schulter, um ihn dann ebenfalls kurz an sich zu drücken. Ihm gingen viele Worte durch den Kopf, die er vielleicht hätte sagen können, doch kein einziges davon schien auch nur ansatzweise geeignet zu sein, seine Gefühle auszudrücken. Wie so oft blieb er stumm. Doch seine Geste war alles, was zählte, und sein Sohn erwiderte sie.
Dann löste Osterik sich aus der Umarmung, und deutete schief grinsend mit dem Kopf hinter seine Eltern: „Aber so was dort werden wir wohl gut verstecken müssen.“
Selena seufzte: „Wir werden das ganze Haus auf den Kopf stellen müssen, aber ja. Nur Gewürze für Mahlzeiten und Tees sollen sie finden. Alles andere können wir vielleicht im Keller vergraben, tief, unter einem der Fässer.“
Bjarn nickte ihr zu und sah zu seinem Sohn: „Wir machen uns besser gleich daran, mein Junge. Wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt?“
Osterik nickte stumm und folgte seinem Vater. Selena hielt den Atem an, bis sie die beiden nicht mehr hörte, dann begann sie zu schluchzen, während sie aus ihrer Kammer alles zu vertreiben begann, was ihr wichtig war. Die Monde hatten ihr von Schrecken geflüstert, die sie in der Stadt erwarteten, würde sie bleiben. Doch würde sie gehen, dann würde sie ihren Mann nicht lebend wiedersehen, und das konnte und wollte sie nicht ertragen. Sie gewann die Fassung rechtzeitig wieder, als sie die Rückkehr ihrer am meisten geliebten Menschen hörte. Alles, was ersetzbar war, wanderte wenig später ins Feuer des Kamins. Alles, was verzehrt werden konnte, würde am kommenden Morgen ins Essen wandern. Die wenigen unersetzlichen Habseligkeiten ihrer Zunft schaffte sie mit Hilfe ihres Mannes und ihres Sohnes in den Keller, um sie unter Schichten von Erde zu begraben, die von den schwitzenden Männern immer wieder eingestampft wurde, um genauso fest zu werden wie der Kellerboden um das Versteck herum.
Als der Boden dann wieder ebenerdig war, und unter den prüfenden Blicken ihrer aller Augen sich kein verräterisches Zeichen im Übergang zum restlichen Kellerboden zeigte, schoben die Männer ein volles Weinfass an die Stelle, und stellten weitere Fässer dazu, rundum, dicht an dicht, damit es ordentlich aussah. Manche der Fässer, auch das besondere, bedeckten sie mit Brettern und weiteren Fässern in zweiter Schicht, und umringten manche der Fässer am Boden mit einem Haufen von ansonsten nutzlosem Gerümpel, damit es möglichst so aussah, als würde die Ansammlung von Fässern schon sehr lange in dieser Aufstellung verharren. Nichts sollte darauf hinweisen, welcher gefährliche Schatz unter ihrem Haus lagerte. Erst weit nach Mitternacht konnten sie sich endlich dem Schlaf überlassen, beruhigt von einem Hauch vager, verzweifelter Hoffnung. Selena schmiegte sich an ihren Mann, und schlief in seinen Armen ein.
***
Auch Lans fand in dieser Nacht nicht allzu bald Schlaf. Das hatte jedoch ganz andere Ursachen. Seit er den verrückt gewordenen Söldner in der unglückseligen Nacht vom Tor der Stadt zu den Schwestern gebracht hatte, war ihm bewusst geworden, wie wenig Zeit sie alle doch hatten, und wie schnell sich alle schönen Dinge im Leben ins Gegenteil verkehren konnten. Er wollte nicht eine einzige Stunde mehr vergeuden. So wollte er nach der Erfüllung seiner Pflicht als Wachmann und als Kumpane im Gasthaus die verbleibende Zeit seines Tages seiner Frau widmen, und nur ihr allein.
Darauf freute er sich am meisten, und in letzter Zeit schien es ihr genauso zu gehen. Es war, als hätte sie ihre Schwermut überwunden, die Trauer darüber, noch nicht Mutter geworden zu sein, und hatte nun wieder Hoffnung in den Augen. Hoffnung, und das gewisse Funkeln, das er schon länger nicht mehr in ihnen erblickt hatte. Das Funkeln, das er vor ihrem ersten, verstohlenen Kuss gesehen hatte, und damals, als sie das erste mal allein waren und eine Kostprobe von dem bekamen, was sie in der Hochzeitsnacht und danach erwartete. Als hätten die unwichtigen Dinge des Daseins ihren Einfluss auf sie beide verloren und ihre Leidenschaft sie erneut zueinander geführt.
Sie riss die Tür auf, kaum dass er klopfte, und zog ihn in ihre Umarmung. Er schloss hastig hinter sich, um die Neugier der Nachbarn nicht anzustacheln, und schob den Riegel vor. Danach ergab er sich ihren Händen, die an den Schnallen seiner leichten Rüstung zerrten, die er als Wachmann zu tragen hatte. Er konnte ihre Leidenschaft förmlich glühen sehen, die rötliche Glut ihrer Seele, und er war den Göttern unendlich dankbar für diese Gabe. Seine Lippen legten sich auf ihre, die Zungenspitzen fanden zueinander, und er überließ sich ganz und gar seinen Instinkten.
***
Max, einer der Kameraden aus der Wachmannschaft, der Lans angehörte, war nicht allzu traurig darüber, dass ihre abendlichen Runden im Wirtshaus in letzter Zeit kürzer ausfielen, weil Lans seit neuestem so eine Sehnsucht nach seiner Frau verspürte wie man es sonst nur von Frischvermählten kannte. Das ließ ihm wiederum mehr Zeit, um sich seinen eigenen Spaß zu besorgen. Er war jung, noch ungebunden, fand sich recht stattlich und hatte oft genug die eine oder andere Münze locker, um sie für die Zeit mit einem der Freudenmädchen der Stadt einzutauschen. Er musste jedes Mal grinsen, wenn er sich in das verruchte Stadtviertel begab, in dem diese Frauen ihrem Gewerbe nachgingen. Eigentlich wäre es seine Arbeit gewesen, Etablissements wie diese aufzudecken und aufzulösen, da solch ein Treiben nicht im Sinne der Heiligen Familie war. Doch war er kein Kirchenmann, und fand auch, dass die leichten Mädchen und Frauen nichts verwerfliches taten. Er gehörte zu den Wachleuten, die sich taub und blind stellten, wenn es um solcherlei Dinge ging, und die auf diese Weise deutlich günstiger und damit öfter in den Genuss der Dienste der Schönen der Nacht kamen als gewöhnliche Kunden.
Gewiss wollte auch Max eine Frau ehelichen, eine Familie gründen und Kinder großziehen, die sich dann um ihn kümmern würden, wenn er ein schwacher Greis werden würde. Aber noch war er jung, das Alter fern, und er noch nicht bereit dazu, seine Nächte immer nur mit ein und derselben Frau zu verbringen. Nicht jeder hatte so ein Glück wie Lans, und fand die Richtige im ersten Augenblick. Manche mussten lange auf die Begegnung warten, und da war es besser, sich nicht an die falsche Frau zu binden. Und während man wartete, konnte man auch ein wenig Spaß haben. Womöglich brachte das auch noch den einen oder anderen Vorteil in die kommende Ehe mit ein.
Er blieb vor einem Haus mit zwei Stockwerken stehen, das dem Schild nach angeblich die Werkstatt von Schneidern und Nähern war und neben einem Garnknäuel und einer Nadel auch ein mit einer Rose besticktes Tuch zeigte. Demnach sollte es im Erdgeschoss die Arbeitsräume sowie das Lager im Keller beherbergen, während darüber üblicherweise Wohnkammern der Handwerker liegen sollten. Natürlich wusste Max, dass das nur eine Tarnung war. Er sah aufmerksam nach beiden Seiten der Gasse, um sicher zu sein, dass ihn niemand erblicken würde, und kündigte sich mit dem vereinbarten Klopfzeichen an, mit dem die richtigen Kunden von den falschen unterschieden wurden. Er musste kurz warten, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Er sah das Aufblitzen von aufmerksamen, schwarzen Augen im Dunkel dahinter, dann die hellen Zähne eines makellosen, verruchten Lächelns und die Tür schwang auf, um ihn einzulassen. Rasch trat er ein, und die Tür wurde leise hinter ihm geschlossen.
Es war selbstverständlich Rose, die gertenschlanke, großgewachsene Frau mit südländischer Herkunft, auf die ihr selbst im tiefsten, dunkelsten Monat der Kälte dunklerer Teint und die einen Hauch mandelförmigen Augen hinwiesen. Sie hatte wie immer aufreizend rot angemalte, sinnliche Lippen, die in aufregendem Kontrast zu ihren schwarzbraunen Haaren standen, die sie einem Krieger gleich kurz trug. Rose achtete stets auf die Tür, kannte Max inzwischen gut und er sie ebenfalls. Unter ihrer auf Figur geschnittenen Männerkleidung hatte sie trotz ihrer schlanken Statur gut definierte Muskeln wie ein Kämpfer, der stets im Training war. Sie war sehr gut in der Lage, die Kunden aus dem Haus hinauszubefördern, wenn sie den Mädchen Scherereien machten, oder gar die Hand gegen sie erhoben. Er wusste auch, dass sie hin und wieder selbst Kunden bediente – allerdings nicht auf die übliche Art, sondern vielmehr durch den Gebrauch einer Reitgerte oder eines Rohrstocks, oder auch mal mit der Hand, die zu solchen Gelegenheiten in einem schwarzen Lederhandschuh steckte. Max hatte sich mal mit betrunkenen Kopf von ihr den Hintern versohlen lassen, dann aber befunden, dass diese Spielart nichts für ihn war. Rose war auch eine der beiden Frauen, die das Geld von den Kunden kassierten.
„Guten Abend, Herr Wachmann“, neckte sie ihn mit einer gespielten Unterwürfigkeit. „Wir freuen uns alle sehr über Ihre Besuche. Heute schon eine bestimmte Blume im Sinn?“
Max schmunzelte, er mochte den Klang ihrer dunklen Stimme. In diesem Haus war es Brauch, dass die Damen sich nach Blumen benannten – passend zu ihrer äußeren Erscheinung oder ihrem Naturell. Er wusste nicht, woher diese Sitte kam, hatten die anderen Freudenhäuser doch keine so verspielte Regel. Aber sie gefiel ihm, und darum kam er stets nur dorthin. Max dachte kurz nach: „Gibt es womöglich eine neue im Blumenstrauß?“
Rose schüttelte den Kopf. „Derzeit nicht, mein Herr. Aber ich bin mir sicher, dass eine eurer Lieblingsblumen heute zu Eurer Verfügung stehen wird, auch wenn die meisten Mädchen schon beschäftigt sind. Seit etlichen Tagen laufen die Geschäfte hervorragend. Das ist wohl der Ausgleich für die schlechten Wochen zuvor.“ Dann sah sie ihn - wie immer - erwartungsvoll an.
Max grinste, löste seinen Waffengurt, um ihn der Frau zur Verwahrung zu überlassen, und drückte ihr die vereinbarte Anzahl von Münzen in der Hand, wie immer. Sie nickte lächelnd mit dem Kopf und ließ ihn aus dem Vorraum ins Innere des Gebäudes passieren.
Im nachfolgenden Raum, der durchaus gemütlich eingerichtet war, sogar durch eine Feuerstelle gewärmt und durch Öllampen ausreichend erhellt, kannte er sich inzwischen sehr gut aus. Er ließ sich von Nelke, der blonden Schankfrau mit graugrünen Augen und mit einer fast schon knabengleichen Statur, noch einen Wein reichen – die andere Person, die ihm das Geld abnehmen würde, falls er nicht schon bei Rose gezahlt hätte – und ließ seine Blicke über die drei Mädchen wandern, die gerade keinen Kunden hatten. Er kannte sie inzwischen alle, auch diejenigen, die gerade nicht anwesend waren. Von oben hörte er gedämpft eindeutige Geräusche aus mehreren Räumen. Es hörte sich für ihn wirklich so an, als wären die drei vor ihm die einzigen, die gerade noch verfügbar waren. Rose hatte demnach nicht geflunkert.
Nachdem sein Blick erst in die eine Richtung gewandert war, dann wieder vollständig zurück, war er sich immer noch unschlüssig. Jede der Frauen hatte ihre Vorzüge, auf die eine oder andere Art. Aber zwei von ihnen hatte er in den letzten Tagen schon einmal aufgesucht, und ihm stand der Sinn nach Abwechslung. Also streckte er seine Hand mit einem wie er fand nicht unfreundlichen Grinsen in Richtung der braunhaarigen, blauäugigen Lilie aus, die er wegen ihrer ausgeprägten Kurven schätzte, aber auch wegen ihrer gefügigen Art. Wie die anderen trug sie nichts weiter als ein aufreizendes Nachtkleid aus dünnem Stoff, der sich um ihren Körper schmiegte und beinahe nichts der Fantasie überließ. Mit einem Lächeln erhob sie sich, nahm seinen Arm und ging mit dem Wachmann nach oben, um ihm zu Diensten zu sein.
Ein Mann begegnete ihm, der gerade auf seinem Weg nach unten und Richtung Ausgang war. Max erkannte dessen Gesicht. Er hatte den Mann schon häufiger in diesem Etablissement gesehen. Er nickte ihm zu, die übliche Art von Begrüßung in diesem Haus, wo man einen anderen Mann nicht nach seinem Namen fragte und auch nach nichts anderem sonst. Für einen Moment, mehr durch Zufall denn durch eine Absicht, trafen sich ihre Blicke. Die Härchen auf Max' Unterarmen richteten sich auf, als ihm für wenige Momente ein Schauer über die Haut lief. Doch dann legte Lilie ihren Arm enger um seine Hüfte und seine Aufmerksamkeit wandte sich erneut ihr zu, so dass der Augenblick verflog und in Vergessenheit geriet. Und während Max sich die Freiheit herausnahm, die besonderen Vorzüge von Lilies Gesellschaft zu genießen, begab sich der andere Kunde nach Hause, zu seiner Familie, und zu seiner Frau.
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Das Abendessen wartete bereits auf dem Tisch, als der Richter sein Haus betrat. Sein Bediensteter hatte sich aber schon vor einer Weile zurückgezogen. Karl roch frisches, selbstgebackenes Brot und lächelte leicht. Der Duft nahm ihm etwas von der Anspannung des Abends, so dass er den Schlaf womöglich doch schneller finden würde als befürchtet. Er ließ sich mit der Mahlzeit dennoch Zeit, obwohl es an diesem Tag später geworden war als sonst. Die Dunkelheit und das Licht der beiden dominanten Monde machten ihn nervös. Normalerweise machte er sich nichts aus den Dingen, die von Menschen in die Konstellation der Gestirne hineingedeutet wurde, obschon er von einer geheimen Kunst wusste, die daraus ihre übernatürliche Macht bezog. Doch im Anbetracht der jüngsten Ereignisse erschienen auch ihm der Graue und der Rote sehr unheilvoll in ihrem gemeinsamen Wirken. Als der Richter sich dann schließlich zu Bett begab hoffte er, dass ihn diese Nacht keine bösen Träume heimsuchen würden - doch das war ihm nicht vergönnt.