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Es regnete erneut, noch sehr viel schlimmer als in den Tagen zuvor, und die ganze Stadt schien überflutet zu sein. Karl sah das Wasser in kleinen Wellen über die Schwelle seines Schlafzimmers schwappen. Im Zwielicht des wolkenverhangenen Tages sah er Körper auf dem Wasser vorbeitreiben, das sich in den Straßen aufstaute. Die Flut machte keinen Unterschied zwischen Männern, Frauen, Alten oder Kindern. Er sah auch eine Ordensschwester, ihr Gesicht war nach oben gerichtet und ihr leerer Blick sah anklagend zum Himmel. Warum habt Ihr uns verlassen, oh Götter?
Das Wasser war dunkel, beinahe schwarz – doch als es dann mit sanften, unerwartet warmen Berührungen seine nackten Füße erreichte und er an sich hinunter sah, waren seine Zehen und die Oberseite der Füße nicht einfach nur nass, sie waren rot. Ein Wimmern des Entsetzens entwich seiner Kehle, das er mit beiden Händen über seinem Mund abzuwürgen versuchte. Dann hörte er ein dumpfes Geräusch und sah sich um – es war der Körper seines Dieners, der mit dem Gesicht nach unten an die Oberfläche des blutigen Wassers aufgestiegen war und gegen die Wand stieß. Dann riss er plötzlich seinen Kopf hoch und fauchte Karl mit einer dämonischen, hassverzerrten Fratze an. Es wurde dunkel.
***
Nachdem Feli sich vom Richter verabschiedet hatte, machte sie sich voller Vorfreude auf den Weg. Egal, was sie herausfinden würde, egal, was noch auf sie zukam – zuerst wartete die Straße auf sie, und die Wiesen und Wälder um sie herum. Das war das wichtigste in ihrem Leben, immerzu in Bewegung zu sein. Ein leichtes Schmunzeln lag auf ihren Lippen, weil sie sich ihrer Wirkung auf den Richter durchaus bewusst war – und es sehr zu schätzen wusste, dass er sich zurücknahm und ihre Beziehung rein geschäftlicher Natur war. Sie hatte schon mehr als einem Mann mit deutlichen Worten erklären müssen, dass sie kein Interesse an einem Heim oder einer Familie hatte. Die Welt war ihr Zuhause. Wer das nicht begreifen konnte, für den hatte sie nichts übrig. Das Haus, in dem sie lebte, war nichts weiter, als eine Zwischenstation, ein Ort zum Lagern von Dingen, die sie nicht immer bei sich brauchte. Sie konnte es sich zwar vorstellen, eine Nacht mit ihm zu verbringen, sowohl aus Sympathie als auch aus der Neugier heraus. Doch sie würde es erst tun, wenn es klar war, dass sie ihn nicht wiedersehen würde, um jegliche Komplikationen zu vermeiden.
Feli legte nur einen kleinen Umweg ein, um ihren Proviant aufzustocken und auch etwas Hafer für das Pferd zu besorgen. Alles andere war bereits aus der Gewohnheit heraus vorbereitet und musste nur noch eingesammelt und verstaut werden. Wie immer reiste sie mit leichtem Gepäck. Wenig später verließ sie die Stadt über das Westtor. Während sie zunächst noch der Straße folgte, stieg sie in Gedanken hoch wie ein Vogel. Die Truppen des Rächerordens würden sicherlich die Straße nehmen. Die Straße wiederum folgte nicht unbedingt dem kürzesten Weg. Sie musste Ortschaften miteinander verbinden, auf Brücken achten, auf ein Gelände, das geeignet war für Kutschen und Fuhrwerke. In Gedanken legte Feli sich eine Route zurecht, die es ihr erlaubte, eine Abkürzung durch den lichten Wald zu nehmen. Auf diese Weise konnte sie sich selbst und ihrem Pferd eine kurze Rast an einem Bach ermöglichen, und würde dennoch vor dem Einbruch der Dunkelheit ein paar Straßenabschnitte prüfen können. Sollte sie bis dahin auf die Kampftruppen oder ihre frischen Spuren treffen, dann könnte sie spätestens in der Nacht zurückkehren und dem Richter wenigstens mit dem Vorsprung von ein paar Stunden die Informationen bringen. Anderenfalls würde sie ein, vielleicht zwei Tage gewinnen können.
Sie streichelte liebevoll über den Hals ihrer Stute Kari mit dem fuchsfarbenem Fell, die sie wegen ihrer Ausdauer ausgewählt hatte und die mit Sicherheit ihr kostbarster Besitz und ihre treueste Freundin war. Um ein Tier wie sie zu finden, war Feli vor Jahren bis in den Süden des Reiches gereist, ins ferne Fürstentum Kôsian, und hatte zudem Glück, die richtigen Leute zu kennen, so dass sie einen Freundschaftspreis bekommen hatte. Die berühmt-berüchtigten Dragons vergaßen nie ihre Feinde, aber noch weniger ihre Freunde, und Feli hatte genug Gefallen bei ihnen angesammelt für eine solche Kostbarkeit.
Ein leichter Druck mit den Oberschenkeln genügte, damit die Stute Felis Absichten verstand. Wenig später verschwanden Reiterin und Reittier aus der Sicht, auf einem schmalen Pfad zwischen den mit frischem Grün bedeckten Laubbäumen. Die Luft war frisch, und wurde zusehends wärmer. Das Wetter war ihr gnädig, und vielleicht war das sogar ein gutes Zeichen, ungeachtet der bösen Omen, die die finsteren Mondaspekte bei Nacht mit sich brachten.
Die erste Unterbrechung legte Feli um die Mittagszeit ein. Während Kari eine kurze Schonzeit hatte, am klaren Wasser eines Bachs und dem frischen Grün am Ufer, nahm Feli sich die Zeit, um die Beschaffenheit der Straße zu prüfen. Der andauernde Regen der vergangenen Tage hatte ganze Arbeit geleistet, die Erinnerung an die vielen Pilger und Händler auszumerzen, die zum Kloster gezogen waren, um nicht mehr von dort zurückzukehren. Auch die Spuren der Glücksritter, die den verschollenen Pilgern gefolgt waren, wurden vom Regen unkenntlich gemacht. Sie sah nur noch vereinzelte Reste von Abdrücken, die zu schwer beladenen Fuhrwerken gehört hatten, und zugehörige Spuren von Zugtieren und Menschen. Doch diese gehörten wohl kaum zu einem bewaffneten Heer mit Hundertschaften von Fußtruppen und Berittenen, sondern eher zu Leuten, die zwischen den Dörfern und Höfen umherzogen, vermutlich fahrende Händler oder Tagelöhner, die Arbeit auf den Höfen suchten. Feli hatte allerdings auch nicht erwartet, an dieser Stelle bereits die Kampftruppen anzutreffen. Es ging ihr vor allem darum, die Beschaffenheit der Straße etwas abseits der Stadt zu prüfen um abschätzen zu können, wie die relativ unberührten Passagen aussahen.
Die zweite Position prüfte Feli, als der Abend sich anzukündigen begann. Sie hatte ein großes Stück Weg gewonnen, da sie eine ihr bekannte Passage über den Fluss nutzen konnte, während die Straße einen meilenweiten Umweg zu einer Brücke schlug. Auch an dieser Stelle sah sie keine Hinweise auf ein vorbeigezogenes Heer. Nur die üblichen Spuren von einfachen Leuten, die ihren eigenen Tätigkeiten nachgingen und vermutlich nicht die geringste Ahnung davon hatten, in welcher Gefahr sie alle schwebten. Feli seufzte und blickte nach oben, um dem Sonnenstand nach ihre weiteren Möglichkeiten abzuschätzen. Sie hatte die Wahl zwischen einer kleineren Abkürzung, bei der sie noch vor dem Sonnenuntergang in einem kleinen Dorf einkehren konnte, aber nicht viel Zeit für den nächsten Tag gewinnen würde. Sie konnte auch eine längere Strecke einsparen, würde dann aber vom Einbruch der Nacht eingeholt werden. Zudem würde sie sich dann in einer weniger dicht besiedelten Gegend befinden, so dass die Gefahr bestand, an ein Rudel Wölfe zu geraten.
Während sie ihre Optionen abwog wurde ihr klar, dass sie die riskantere wählen musste, wenn sie mehr Zeit für ihre Rückkehr herausholen wollte. Dann fiel ihr eine Hütte entlang des Weges ein, die am Waldrand lag und Reisenden Schutz bieten sollte, die es nicht mehr rechtzeitig in ein Dorf schaffen würden und in keiner größeren Gruppe reisten, die ihnen Schutz bot. Damit war ihre Entscheidung getroffen, und Feli schwang sich rasch in den Sattel.
Da sie ihre Kari bisher noch vergleichsweise geschont hatte, nahm sie sich nun heraus, in den verbleibenden Stunden ein etwas höheres Tempo einzufordern. Die schmalen Wege durch die Waldabschnitte, die von Jägern und Waldläufern genutzt wurden, verlangsamten sie zwar im Vergleich zum offenen Feld, da sie auf peitschende Äste und Zweige achten musste und auch die Wurzeln am Boden waren nicht ungefährlich, doch sie kam immer noch schneller voran als über die gewundene Straße.
Die Sonne senkte sich unaufhaltsam zum Horizont. Als Feli an ihrem letzten Punkt der Straße angekommen war, um dort die Spuren zu prüfen, war sie schon fast hinter den Baumwipfeln verschwunden. Feli hatte gerade noch genug Licht, um sicher zu gehen, dass sie auch an dieser Stelle noch vor den Truppen des Rächerordens war. Einen kürzlich vorbeigezogenen Tross hätte man anhand der Spuren klar erkennen müssen. Darüber hinaus war sie sich sicher, dass die Männer zu dieser Tageszeit das Nachtlager vorbereiten würden. So günstig wie der Wind gerade wehte, würde sie die laute Geräuschkulisse noch meilenweit hören, falls das Lager sich weiter in Richtung Starogrâd befand. Sie war sich sicher, dass die Truppen noch vor ihr waren.
Damit wandte sie sich mit Blicken und Gedanken ihrem nächsten Ziel zu. Auch wenn die Tage inzwischen länger waren, würde sie die Hütte nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Doch zu ihrem Vorteil musste sie dafür die Straße nicht mehr verlassen, außer beim allerletzten Stück, der über eine Wiese führte und an den Wald heran. Für alle Fälle bereitete sie eine kleine Laterne vor, füllte das Öl nach und entzündete den Docht. Solange sie noch halbwegs etwas sehen konnte, trieb sie die Stute an, um Zeit zu gewinnen. Je schneller sie bei der Hütte ankam, desto schneller konnte sie schlafen, desto eher konnte sie am kommenden Morgen aufstehen.
Der graue Mond, auch bekannt als das Chaosgestirn und der rote Mond des Feuers waren bereits am Himmel zu sehen, während die übrigen drei im Zwielicht nur zu erahnen waren. Feli trieb Kari zur Eile an. Die Stute spürte die Nervosität ihrer Reiterin und eilte die Straße entlang. Feli hoffte zwar darauf, dass die Wölfe es inzwischen einfacher hatten, in den Wäldern Beute zu reißen im Vergleich zum kargen Winter, und ihr nicht entlang des Weges auflauern würden, doch man konnte sich nie sicher sein. Menschen waren nicht die einzigen, die zur dunklen Phase des roten Mondes stärker zu finsteren, blutrünstigen Gefühlen und Taten neigten, auch die Raubtiere waren in dieser Zeit gefährlicher. Darum nannte man das Gestirn in solchen Zeiten auch den Blutmond.
Das Sonnenlicht schwand immer mehr zu einem immer schwächeren Glimmen über den Baumwipfeln und erstarb schließlich ganz. Mit ihm zusammen verstummten die tagaktiven Vögel. Das Licht der Monde war zwar hell genug, um die Straße zu erkennen, sobald sich die Augen darauf eingestellt hatten, doch nicht ausreichend, um eine lauernde Gefahr um sie herum zu bemerken. Immerhin war es nicht mehr weit. Noch ein Paar Meilen über die Straße, dann eine kurze Strecke über den Wiesenpfad. Die von ihr angepeilte Hütte stand unweit eines Bachs, wo sie ihren Wasserschlauch befüllen und Kari tränken konnte.
Feli griff zur Laterne, um das schwach glimmende Licht stärker aufzudrehen, da sah sie, wie sich die Ohren der Stute aufstellten und hörte selbst das Knurren der Raubtiere um sie herum. Von beiden Seiten sprangen die lauernden Wölfe sie an. Im Bruchteil eines Augenblicks zählte sie drei Tiere auf der einen Seite und drei auf der anderen. Mit einem Kampfschrei zog sie ihre Waffe, gab Kari aber mit ihren Oberschenkeln zu verstehen, dass sie nach vorne preschen sollte. Zwei der Wölfe versuchten ihnen jedoch den Weg abzuschneiden. Die Stute bäumte sich auf und schlug mit den Hufen aus. Feli hielt sich mit etwas Mühe im Sattel fest und schlug nach dem anderen Wolf. Den Hufen entgingen die Räuber, doch Felis Säbel fand ihr Ziel und schnitt dem Wolf ins Fleisch, zog eine Spur aus frischem Blut hinter sich, das über die Erde und das Gras spritzte. Das Tier heulte auf vor Schmerz und zog sich zurück. Dann gab sie Kari erneut das Zeichen, weiter zu reiten, brüllte laut und knurrte dann mit gefletschten Zähnen, um den Wölfen begreiflich zu machen, dass sie keine leichte Beute war. Dann verteilte sie Hiebe nach links und rechts, um diejenigen Räuber abzudrängen, die nach ihren Beinen schnappten. Der linke Hieb verfehlte den Wolf, der geschickt nach Hinten zurückwich. Der rechte jedoch traf zielsicher, und der nächste Räuber musste Blut lassen, heulte auf und winselte sogar. Kari schlug noch einmal mit ihren Hinterläufen aus, dann preschte sie nach vorne, bevor die nächsten Wölfe nachrücken und ihr abermals den Weg versperren konnten.
Feli drückte sich an das Tier, um dem Wind weniger Widerstand zu bieten, und warf einen Blick nach hinten über die Schulter, während Karis Überlebensinstinkt sie nach vorne über die Straße trieb. Sie sah, dass die unverletzten Wölfe ihnen zuerst noch nachjagten, doch dann die Verfolgung aufgaben und von der Finsternis der Nacht verschluckt wurden. Kari raste durch die Nacht, und erst als die Hütte in unmittelbarer Nähe war, gab Feli ihr das Zeichen zur Entwarnung. Sie stieg ab und strich der Stute beruhigend über den Hals, während sie ihr leise zusprach. Dann führte sie das Tier zum Bach, hängte die Laterne an einen nahen Ast, und ließ sie trinken, während sie ihr den Sattel abnahm und mit einem Tuch den Schweiß abwischte. Sie nahm sich auch die Zeit, die Läufe der Stute auf Verletzungen zu prüfen, und stellte mit Erleichterung fest, dass das flinke, wendige Tier in der glücklicherweise kurzen Auseinandersetzung mit den Wölfen nichts abbekommen hatte. Sie trank selbst etwas, aufmerksam lauschend, und füllte ihren Wasserschlauch mit dem klaren Wasser auf. Dann führte sie die Stute in Richtung Hütte.
Feli glaubte zwar nicht, dass das kleine Wolfsrudel ihnen nachsetzen und ihnen womöglich auflauern würde, doch um sicher zu sein ließ sie Feli nicht in der Nacht draußen grasen, sondern nahm sie mit unters Dach. Die Hütte war groß genug, um auch ein Pferd reinzulassen und zu beherbergen. Als kleine Aufmerksamkeit gab Feli ihrer Stute eine Möhre zu fressen, und hing ihr einen Beutel mit Hafer um, während sie selbst noch etwas Dörrfleisch und einen Apfel verspeiste. Danach stellte sie sicher, dass die Tür und die Fensterläden fest verriegelt waren, und hing für sich selbst zum Schlafen eine Hängematte an den in die Wände eingelassenen Haken auf. Sie schlief wie gewohnt schnell ein und wurde bis zum Morgengrauen von keinen Träumen gestört, weder guten noch bösen.
Kapitel 9
Der Richter erwachte am Morgen zur gewohnten frühen Stunde und fühlte sich kaum erfrischt. Die scheußlichen Albträume machten ihm zu schaffen. Mit dieser Art Schreckgespenstern hatte ihn der Schlaf bisher noch nie gequält, und jetzt suchten sie ihn gleich zwei Nächte in Folge heim. Doch da musste er jetzt durch. Leicht benebelt und mechanisch aß er sein Frühstück, verabschiedete sich von seinem Hausdiener, und machte sich auf den Weg zum Rathaus. Er setzte wie gewohnt einen Fuß vor den anderen, nickte gedankenverloren der Bäckerwitwe zu, und bemerkte erst dann, dass er deutlich langsamer unterwegs war im Vergleich zu seinem gewohnten Tempo. Als ob etwas ihn ihm die kommenden Dinge von sich schieben, noch etwas Zeit schinden wollte. Er atmete tief durch, um sich zusammenzureißen, und begann, schneller zu gehen. Er musste noch einiges erledigen, bevor er sich mit der Oberin zum Mittagessen treffen würde. Denn am Nachmittag würde er die Stadtherren aufsuchen müssen, um mit ihnen die noch anstehenden Vorbereitungen zu besprechen. Und auch wenn nur zwei von ihnen derzeit in der Stadt waren, so würde die Angelegenheit dennoch einiges an Zeit benötigen.
Frau Petrana Eisenmeister, eine verbitterte und strenge Witwe, neigte dazu, sich pedantisch mit allerhand Details aufzuhalten. Sie war zudem dem Klerus wohlgesonnen und würde gewiss verlangen, dass die Stadt im besten Licht erscheinen müsste – wozu auch gehörte, dass die hochrangigen Mitglieder des Rächerordens die bestmöglichen Unterkünfte erhielten. Karl hoffte insgeheim, dass sie den ranghöchsten von ihnen eine persönliche Einladung auf ihr Anwesen aussprechen würde. Dann könnte ihr straff geführter Haushalt, in dem es angeblich strenger zuging als in einem Kloster, sicherlich alles nötige dafür tun, damit die Herrschaften des Ordens nichts auszusetzen hätten.
Für Femeon Waldherr würde Karl ebenfalls einiges an Zeit benötigen, allerdings aus anderen Gründen. Dieser Stadtherr war so ziemlich das genaue Gegenteil von Frau Eisenmeister – ein weicher, freundlicher Mann, der dazu neigte, ständig abzuschweifen und nie auf den Punkt zu kommen. Er war eine recht unterhaltsame Gesellschaft bei geselligen Zusammenkünften, doch wann immer es um wichtige Themen ging, war der Mann in seiner Inkompetenz nicht zu ertragen. Seine Frau Daria war diejenige, die sich um alle Geschäfte kümmerte – unglücklicherweise hielt sie sich häufig nicht in der Stadt auf sondern sah persönlich und zusammen mit ihrem Sohn nach den Holzfällern und dem Holztransport über den Fluss. Wenn man der Gerüchteküche glauben konnte, so verließ mit der Hausherrin auch jegliche Disziplin den Haushalt des Waldherr-Anwesens, da Femeon selbst den Leuten allerhand durchgehen ließ und sich nicht im Geringsten um die Dinge kümmerte, die eine Frau Eisenmeister als verderbten Verfall der Sitten bezeichnet hätte.
Auf den Straßen der Stadt war mit dem guten Wetter nun definitiv die gewohnte Geschäftstüchtigkeit eingekehrt. Der Richter achtete nicht besonders auf das Treiben der Leute um ihn herum, da er sich so schnell wie möglich im Rathaus einfinden wollte. Er hatte aber auch nie Interesse daran gezeigt, sich mit den Menschen auf einer so nahen Weise zu befassen. Ihr Geschnatter, ihre Gerüche, ihre oft zu aufdringliche Nähe bereiteten ihm Unbehagen. Er fand keinen Vergnügen daran, sich darüber zu unterhalten, wer mit wem zugange war, wo schon wieder ein Kind geboren wurde, oder mal wieder jemand verstorben war. Verbrechen interessierten ihn, weil das sein Beruf und seine Verantwortung war, aber mit allem anderen konnten die Leute ihm wirklich gestohlen bleiben. Und jetzt, wo es erneut warm wurde und die Leute immer öfter miteinander in Berührung kamen, war er froh, sich so schnell wie möglich wieder in seine Stube zu seinen Dokumenten zurückziehen zu können. Es gab nur sehr wenige Menschen auf der Welt, mit denen er irgendeine Form von Nähe unterhalten wollen würde, und dazu zählte keiner der Leute um ihn herum.
Auf seinem Schreibtisch häuften sich die Rückmeldungen, die ihm von den Boten gebracht wurden. Karl inspizierte sie sorgfältig eine nach der anderen und seine innere Unruhe legte sich ein wenig. Die Stadt hatte genug Vorräte vorzuweisen, um einige Tausend zusätzlicher Münder für ein bis zwei Wochen versorgen zu können – das, was die Pilger nicht hatten aufbrauchen können, da ihre Rückkehr aus dem Kloster nicht stattgefunden hatte. Alternativ würde man mit den vorhandenen Vorräten eine längere Belagerung überstehen können, sollte sich aus irgendeinem Grund ein solcher Notfall einstellen. Der letzte große Krieg lag zwar dankenswerter Weise schon etliche Jahrhunderte zurück, doch man konnte ja nie wissen, was die Zukunft mit sich brachte.
Auch hinsichtlich der möglichen Unterkünfte gab es nichts zu befürchten. Den „Lustigen Bären“ setzte Karl bewusst möglichst weit nach unten auf die Liste, mit dem Vermerk, dass dort nur einfache Leute und Söldner einkehrten und man den ranghöchsten Rächern eine ihres Standes würdigere Unterkunft anbieten wolle. Die Gaststätten rund um die Kirche der Stadt setzte Karl dagegen möglichst vorn auf die Liste, da die Mitglieder des Klerus sicherlich die Nähe des heiligen Ortes bevorzugen würden. Die Möglichkeit einer Aufnahme im Anwesen der Familie Eisenmeister versah er noch mit einem Fragezeichen. Er wollte sich dazu erst noch die Zustimmung der Stadtherrin einholen.
Der Glockenschlag der Kirchturmuhr riss Karl aus seiner Arbeit und er erschrak ein wenig. Beinahe hätte er seine Verabredung mit Oberin Klarina verpasst. Eilig räumte er die Dokumente an den ihnen zugewiesenen Platz und machte sich auf den Weg zum Kloster der Schwesternschaft, wo die Oberin ihn empfangen wollte. Besonderen Appetit hatte er zwar nicht, aber das war vermutlich auch gut so. Das Kloster würde ihm ein eher einfaches Mittagsmahl anbieten, und es würde einen guten Eindruck bei Klarina erwecken, wenn ihm das genügte. Zum Glück war das Rathaus nicht allzu weit von der Kirche und dem Kloster mit seinem Hospital und dem Waisenhaus entfernt.
Die Oberin wartete bereits auf ihn, als er dort eintraf und von einer der Novizinnen zu ihr gebracht wurde. Sie erhob sich zur Begrüßung und verbeugte sich leicht. Der Richter erwiderte diese Geste und verbeugte sich ein wenig tiefer als Zeichen seiner Ehrerbietung.
Sie zog eine Augenbraue hoch und sprach, als sie sich wieder setzte: „Es ist sehr ungewohnt, dass Ihr nicht pünktlich erscheint, werter Richter. Ist etwas passiert?“
Er schüttelte den Kopf und lächelte beschwichtigend, während er ebenfalls Platz nahm: „Ich war nur sehr von meinem Tagwerk eingenommen, das ist alles.“
Sie lächelte versöhnlich: „Müßiggang ist aller Laster Anfang, sagt man – umso besser, dass Ihr Euch nicht davon anstecken lasst. Nun, bei uns gibt es heute einen Gemüseeintopf mit dunklem Brot. Ich hoffe, das ist Euch genehm.“
Eine der Schwestern deckte den Tisch, während die Oberin sprach, und füllte die einfachen Tonteller mit der Mahlzeit, ergänzt mit einer Scheibe Brot für jeden der Beiden.
Der Richter sog den wohlriechenden Duft der Speise ein und lächelte: „Ich danke Euch für diese Speisen, mehr ist wahrlich nicht nötig.“
Die Oberin nickte mit einem Lächeln und die Schwester ließ sie allein. Klarina faltete die Hände vor der Brust, Karl ebenso, und sie sprach ein einfaches Gebet vor dem Essen, mit dem Dank an den himmlischen Vater und die himmlische Mutter für diese Gaben. Dann verspeisten sie den Eintopf schweigend Löffel für Löffel, um im Anschluss mit dem Gespräch zu beginnen. Oberin Klarina bat den Richter, ihr dazu in den Kräutergarten zu folgen, wo sie nach dem Mahl zu spazieren pflegte und gleichzeitig nach den Pflanzen sah, die nicht nur ihre Mahlzeiten mit ihrem Aroma bereicherten, sondern auch in den heilenden Tees, Salben und Tinkturen Verwendung fanden. Es war einer der wenigen Orte, an denen in Ausnahmefällen die Anwesenheit eines Mannes gestattet war, zumindest im Falle eines Würdenträgers wie Karl einer war.
„Nun, was wolltet Ihr besprechen, Richter?“, fragte sie ihn leise, um die wenigen im Garten anwesenden Schwestern nicht in die Versuchung der Neugier zu locken.
Karl seufzte leise: „Ich weiß ehrlich nicht, wie ich anfangen soll. Es ist... eine neblige Sorge, die mich seit ein paar Tagen umtreibt – um genau zu sein, seit der Dämonenjäger zum Kloster aufgebrochen ist. Träume und Ahnungen sind nichts, womit ich mich bislang abgegeben habe, doch nun...“
Klarina warf ihm einen prüfenden Blick zu: „Ihr tut gut daran, damit zu mir zu kommen. Erzählt mir von den Träumen.“
Karl nickte und schilderte ihr alles, woran er sich erinnern konnte. Er beschrieb den Zweigesichtigen und erwähnte auch, dass er inzwischen wusste, dass das Gesicht zu einem der Wachmänner gehörte, und dass eben dieser Wachmann den verrückten Timeon in die Obhut der Schwestern gebracht hatte. Er erzählte vom geschändeten Symbol des Glaubens und dass er befürchtete, dass dies womöglich den Tod oder sogar den Fall des Dämonenjägers bedeutete. Er erwähnte auch den jüngsten Traum, der für ihn nichts anderes bedeutete als ein schreckliches Unheil, das der Stadt drohte. Seinen Besuch bei Bjarn Bärenpranke und die Warnung bezüglich dessen Familie sprach er vorerst nicht an. Er war sich zwar sicher, dass diese Leute von einer Frau wie Klarina selbst nichts zu befürchten hatten. Schließlich war sie keine Fanatikerin. Doch er konnte nicht sagen, ob sie sich nicht verpflichtet fühlen würde, das an die Rächer zu berichten, wenn diese danach fragen würden. Es war besser, keine unnötige Aufmerksamkeit auf diejenigen zu lenken, die grundlos beschuldigt werden könnten.
Die Oberin hörte ihm zu, nickte hin und wieder mit dem Kopf, unternahm meist aber keine Anstalten, ihn zu unterbrechen. Nur hin und wieder fragte sie nach, was genau er gemeint hatte, als wollte sie sich ein besseres Bild von dem machen, was ihm in seinen Träumen erschienen war. Die Erwähnung des Zweigesichtigen hatte bei ihr zunächst keine besondere Reaktion hervorgerufen. Doch Karl merkte, dass seine Entdeckung von dessen Identität sie deutlich beunruhigte – mehr als er erwartet hätte.
Als er zu Ende gesprochen hatte, geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Klarina legte ihm ihre rechte Hand auf den linken Oberarm, knapp unterhalb der Schulter, und sah ihm ernst in die Augen. Er war überrascht über diese Geste, und noch viel mehr darüber, dass sie ihn nicht störte, wie das normalerweise der Fall gewesen wäre.