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„Was ich Euch jetzt sage, muss unbedingt unter uns bleiben, zumindest vorerst. Der Dämonenjäger hat angedeutet, dass der Wahnsinn, der Timeon in Besitz genommen hat, auf andere Personen übergehen kann, insbesondere auf die mit einem schwachen Willen, die selbst den einfachen, gewöhnlichen Versuchungen der Welt nicht widerstehen können. Doch diese... Besessenheit könnte sogar von noch stärkerer Natur sein, da wir selbst bei einigen der Schwestern ihren Einfluss hatten feststellen können.“
Der Richter sog erstaunt und auch etwas entsetzt den Atem an und gab sich Mühe, sich die Reaktion möglichst wenig anmerken zu lassen.
Die Oberin sprach unterdessen weiter: „Ihr müsst Euch um unser Kloster keine Gedanken machen. Wir haben alle nötigen Schritte unternommen, um zu verhindern, dass sich der Wahn ausbreitet. Die Schwestern sind außer Gefahr, unsere Kranken und anderen Schützlinge versorgt und selbst der unglückliche Timeon befindet sich auf dem Weg der Besserung und wird wohl wieder in den Schoß der Heiligen Familie zurückfinden.“
Karl führte mit seiner Antwort den Gedanken zu Ende: „Es sind also eher die Menschen außerhalb des Klosters, um die wir uns Sorgen machen müssen.“
Klarina nickte und hielt kurz inne, als ob sie sich nicht sicher war, wie sie weitersprechen sollte. Dann fasste sie sich schließlich: „Und ich bitte Euch um die Erlaubnis, in Euren Geist hinein zu forschen. Ich muss wissen, wo die Ursprünge der Albträume liegen, die Euch heimsuchen.“
Karl nickte: „Das könnt Ihr gerne tun, und solltet Ihr sogar.“
Sie lächelte: „Dann schließt Eure Augen und atmet tief und langsam.“
Er tat wie geheißen und spürte, wie sie die andere Hand auf seinen rechten Oberarm legte und damit einen Kreis bildete. Dann glitten ihre Hände ein wenig nach unten, so dass sie sich auf Höhe seines Herzens befanden. Sie begann, eine Melodie zu summen, die für ihn einen recht klerikalen Klang hatte, von der Tonalität her an die Gesänge erinnernd, die dem Geist des Heiligen Mittlers zuzuordnen waren – der nicht zuletzt für das Aufdecken der Wahrheit verantwortlich war. Dann spürte er, wie ihre Präsenz seine Seele berührte und war überwältigt in diesem einen Moment, in dem erneut alle Emotionen auflebten, die seine Träume in ihm geweckt hatten – Verwirrung, Schrecken, bis hin zum Ekel über die Melodie des Zweigesichtigen, die er selbst nachgesummt hatte. Doch dann spürte er den Hauch einer weiteren Präsenz, die wie ein erfrischender, kühler Wind an ihm vorbeizog und den Dunst des Grauens von ihm nahm.
„Ihr könnt die Augen wieder öffnen“, hörte er Klarinas herbe Stimme, in der trotz der Besorgnis auch eine Spur Hoffnung mitschwang. All das konnte er auch aus ihrem Gesicht herauslesen, in das er nun sah.
Sie lächelte schwach, während sie ihre Hände von seinen Armen löste: „Ihr müsst Euch nicht fürchten vor diesen Träumen. Der Dämonenjäger selbst hat sie euch geschickt, als Warnung. Ich habe deutlich seine Präsenz und seine Absicht in ihnen gespürt. Sie sind so schrecklich, damit Ihr sie nicht zur Seite schiebt, damit Ihr nicht untätig bleibt. Er war es gewesen, der die Verderbnis im Wachmann gespürt hatte, er hatte wohl nur keine Möglichkeit, sich selbst dieses Problems anzunehmen. Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Leute hier, dafür zu sorgen, dass unsere Stadt dem Bösen nicht anheimfällt.“
Er nickte und war zumindest etwas erleichtert: „Wenigstens etwas Gutes inmitten der schlechten Nachrichten. Doch können wir noch etwas vollbringen, bevor die Rächer hier eintreffen?“
Sie blickte ihn an, als wäre sie sich nicht sicher: „Nun, was das Kloster angeht, kann ich Euch versichern, dass wir uns gegen jegliche Widrigkeiten halten können. Ich werde umgehend mit dem Großen Bruder Dobreon sprechen. Wenn es jemandem gelingt, ein Wunder zu wirken, dann ihm. Und Ihr solltet euch um die weltlichen Dinge kümmern.“
Karl nickte: „Ja, ich werde heute noch mit den Stadtherren über die Angelegenheit sprechen und auch schnellstmöglich den Hauptmann der Wache aufsuchen. Sagt, worauf müssen wir achten, um die Betroffenen von den Reinen zu unterscheiden?“
Die Oberin senkte die Augen, straffte sich und sah ihn dann wieder ernst an: „Es... ist kein Thema, über das ich gerne spreche, aber natürlich solltet Ihr das wissen. Da die Verderbtheit von den fleischlichen Teleram ausgeht... müssen wir mit allen Schwächen des Fleisches rechnen.“
Der Richter verzog seinen Mund: „Also alles angefangen mit der Wollust bis hin zu Raserei und Blutdurst?“
Sie nickte: „Ja, Zügellosigkeit und Gewalt.“
Der Richter grinste schief: „Zumindest letzteres fällt in meinen Zuständigkeitsbereich und auch in den der Stadtwache. Für das erstere sollte wohl eher der Große Bruder eine Lösung finden. Wir können unmöglich allen Leuten hier Keuschheitsgürtel anlegen.“
Karl hatte es nicht erwartet, aber der Oberin entwich tatsächlich ein kurzes Lachen: „Das wäre eine zu einfache Lösung. Gebt gut auf Euch Acht, Herr Richter. Und möge die Heilige Familie uns beistehen.“
Er verbeugte sich abermals vor ihr, diesmal zum Abschied: „Ich danke Euch. Ich werde mein Möglichstes tun.“
Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus. Er wollte nicht einen Augenblick vergeuden und sich sofort auf den Weg zum Hauptmann der Wache machen. Die Oberin schlug das Schutzzeichen über sich und wandte sich ebenfalls zum Gehen. Sie instruierte die Schwestern mit den bevorstehenden Aufgaben und begab sich zur Kirche. Und dann nahm sie sich vor, nach dem Gespräch mit dem Großen Bruder in den Teil der Stadt zu gehen, in den sie bisher noch nie auch nur in Gedanken einen Fuß gesetzt hatte. Sie musste wissen, wie es um die größten Sünder und Sünderinnen in dieser Stadt stand.
***
Um Hauptmann Forster zu sprechen musste Karl wohl oder übel den Marktplatz überqueren, auf dem jetzt schon ein geschäftiges Treiben herrschte und der Markt wie gewohnt erst am nächsten Tag der Woche, dem Bûrtan, angesetzt war. Die aus größerer Entfernung angereisten Händler waren jetzt schon damit beschäftigt, ihre Stände aufzubauen und die Waren soweit einzuräumen, dass sie diese am Markttag nur noch verkaufen mussten. Der eine oder andere übereifrige Kunde war zudem jetzt schon vor Ort und versuchte, möglicher Konkurrenz zuvorzukommen – oder schlicht und einfach jetzt schon Dinge wieder aufzufüllen, die im Haushalt oder in der Werkstatt nicht mehr vorrätig oder kaputt gegangen waren. Normalerweise würden ein paar Ordnungsleute in der Stadt das Treiben beaufsichtigen und dafür sorgen, dass der Handel in geordneten Bahnen erst am nachfolgenden Tag begann. Doch wie es schien, fühlte sich in diesem Augenblick keiner für diese Aufgabe zuständig.
Karl runzelte die Stirn. Dann fiel ihm auf, dass es wohl am anderen Ende des Marktplatzes eine handfeste Auseinandersetzung zwischen ein paar Männern gab, bei der die Stadtwachen eingegriffen hatten und die Streithähne gerade auseinanderzogen. Je nachdem, wie die Angelegenheit sich weiterentwickelte, würden die beiden Männer möglicherweise mit einem blauen Auge davonkommen und nur ein Bußgeld zahlen. Bei schwerwiegenderen Vergehen konnten die Wachleute vor Ort eine Prügelstrafe erteilen, wie das so üblich war. Sofern kein größerer Schaden entstand, würde es sich damit bewenden. Die Wachleute hatten gewisse Handhabe bei Ruhestörungen und Tunichtguten, als nächste Instanz war der Hauptmann angesprochen, und bei schwerwiegenden Verbrechen hatte dann er als Richter eine Entscheidung zu treffen. Diese Leute würden dann in den Kerker gebracht, wo sie auf die Verhandlung zu warten hatten. Karl schätzte die Situation aber als nicht so schwerwiegend ein, als dass er am nächsten Tag davon hören würde. Es sah nicht so aus, als ob einer der Männer eine Waffe gezogen oder schwere Verletzungen erlitten hätte. Also setzte Karl seinen Marsch zum Hauptquartier der Wache fort.
Das Gebäude lag an einer größeren Kreuzung, über die man alle drei Stadttore gut erreichen konnte, und von der aus die verschiedenen Patrouillen starteten. Erstaunt sah Karl, dass genau zum Zeitpunkt seines Eintreffens ein gebundener Mann von zwei Wachleuten in Richtung Kerker geschleppt wurde. Der Mann wirkte sehr ungehalten und versuchte immerzu, sich loszureißen und möglicherweise sogar einen der Wachleute zu beißen. Es sah sogar so aus, als hatte er sogar Schaum vor dem Mund, doch dessen war sich Karl nicht sicher. Im Zusammenhang mit dem, was die Oberin ihm anvertraut hatte, weckte der Anblick ein starkes Gefühl der Besorgnis in ihm.
Karl fragte sich eilig zum Hauptmann durch, der wohl gerade ein paar der Wachleute instruierte. Hauptmann Forster war ein Mann um die Vierzig. Er hatte ein markantes, wenn auch nicht besonders gutaussehendes Gesicht, war großgewachsen und von kräftiger Statur, und machte damit durchaus einen Eindruck. In den letzten Jahren hatte er allerdings ein wenig um die Leibesmitte zugelegt und Geheimratsecken entwickelt. In seinem dunkelbraunen Haar und Bart waren außerdem auch schon die ersten grauen Haare zu sehen. Doch er war noch immer so kräftig und kampferfahren wie eh und je, wurde von seinen Männern stets mit viel Respekt bedacht und von seiner Ehegattin durchaus eifersüchtig gehütet.
Der Richter wartete ab bis der Hauptmann seine Besprechung abgeschlossen hatte und ihn bemerkte. Der ohnehin schon missmutige Gesichtsausdruck von Forster verdunkelte sich noch etwas mehr.
„Ich grüße Euch, Herr Richter“, sprach er ihn mit seinem dunklen Bass an. „Ich vermute, es sind keine guten Neuigkeiten, die Euch zu mir führen.“
Karl schüttelte den Kopf: „Unglücklicherweise nein. Können wir irgendwo unter vier Augen miteinander sprechen?“
Der Hauptmann zog die Augenbrauen zusammen, nickte dann aber und deutete dem Richter an, er möge ihm folgen. Die beiden zogen sich in einen ruhigen, gut gesicherten Raum zurück, in dem der Hauptmann Aufzeichnungen bearbeitete und sich um die Verwaltung der Bußgelder kümmerte.
Ohne Umschweife begann Forster zu reden: „Also, was gibt es in der Stadt, dass der Richter zum Hauptmann kommt? Sagt mir bitte nicht, dass die Ereignisse der letzten Tage damit zu tun haben. Wir geben uns alle Mühe, die Dinge unter Kontrolle zu halten.“
Der Richter zog eine Augenbraue hoch: „Meint Ihr etwa den Besuch des Dämonenjägers?“
Der Hauptmann sah ihn verdutzt an: „Ich meine die vielen Prügeleien und Beschwerden über aufdringliche Männer und Frauen bis hin zu Vergewaltigungen. Was soll der Dämonenjäger damit zu tun haben?“
Karl atmete tief durch und fasste sich an die Stirn. Dann sah er den Hauptmann an: „Der Dämonenjäger hatte durchblicken lassen, dass der unglückselige Glücksritter Timeon eine dämonische Verderbnis in die Stadt eingeschleppt hat, und dass zumindest einer der Wachleute betroffen ist. Doch mir scheint es jetzt, als ob die Sache größere Ausmaße angenommen hat als befürchtet.“
Der Hauptmann gab einen wütenden Aufschrei von sich und schlug mit der Hand auf die Tischplatte. Der Richter zuckte zusammen und fragte sich sofort, ob der Hauptmann nicht möglicherweise selbst schon betroffen war. Doch andererseits hatte Forster schon immer ein aufbrausendes Temperament – er hatte es nur stets gut genug unter Kontrolle. Vielleicht hatte auch er einen Nordmann-Vorfahren in seiner Ahnenlinie, von dem niemand mehr etwas wusste.
Forster knurrte unterdessen: „Falls das stimmt, dann haben wir vermutlich keine Möglichkeit mehr, etwas zu unternehmen. Wie zeigt sich diese Verderbnis? Und welcher Wachmann soll betroffen sein?“
Karl seufzte: „Durch Gewalttaten und Zügellosigkeit. Und die Rede war von Lans.“
Der Hauptmann verengte die Augen: „Nun, was Gewalttaten und Zügellosigkeit angeht, die Schwierigkeiten haben wir seit knapp einer Woche. Wir haben allerdings vermutet, dass das grässliche Leuchten im Kloster im Dunkeln die Ursache dafür ist, dass so viele Leute sich ungehörig benehmen – weil die meisten Gewalttaten bei Nacht passiert sind. Was Lans angeht kann ich nicht glauben, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Sein Verhalten ist tadellos, und er hatte noch nie auch nur eine andere Frau unangemessen angeblickt. Er ist ein wirklich sehr treuer Ehemann, seit Jahren verheiratet und noch immer wie frisch verliebt.“
Karl zog eine Augenbraue hoch und sah Forster skeptisch an: „Noch immer?“
Forster rollte mit den Augen: „Um genau zu sein, war es in den letzten Jahren ruhiger gewesen und Lans hatte mehr Zeit mit den Männern beim Bier verbracht als bei seiner Frau, aber jetzt scheint bei den beiden alles wieder in bester Ordnung zu sein. Ich glaube, sie machen sich sogar Hoffnung auf Nachwuchs, der ihnen bisher verwehrt blieb.“
Der Richter seufzte und dachte sich, dass sich eine so plötzlich wieder entflammte Leidenschaft für ihn schon sehr verdächtig anhörte, wollte aber nicht weiter nachbohren: „Na schön, wie auch immer. Falls Euch ein unangemessen grausames oder lüsternes Verhalten der Wachleute zu Ohren kommen sollte, dann wendet Euch bitte an Oberin Klarina oder an den Großen Bruder persönlich. Sie werden sicherlich wissen, was zu tun ist, um der Verderbnis Herr zu werden.“
Der Hauptmann grinste schief: „Oh ich kann mir gut vorstellen, was sie sagen würden. Gebete, Enthaltsamkeit, Mäßigung und überhaupt der Verzicht auf alles, was auch nur ansatzweise Spaß macht. Und spätestens beim Bier werden die Männer ungehalten sein.“
Der Richter rollte mit den Augen: „Wie auch immer. Wir müssen wachsam sein und uns nichts zuschulden kommen lassen.“ Dann sprach er etwas leiser: „Schon allein deshalb, weil wir die Ankunft des Rächerordens erwarten.“
Der Hauptmann nickte. Das war eine Tatsache, die ihm bereits bekannt war, an die er aber offensichtlich nicht denken wollte. Dann sah er den Richter fragend an: „Und wisst Ihr zufällig, wann wir mit ihrem Eintreffen rechnen können?“
Karl seufzte: „Das versuche ich noch immer in Erfahrung zu bringen. Ich vermute aber, frühestens übermorgen. Sonst wäre meine Kundschafterin schon wieder zurück.“
Forster nickte abermals: „Gut, wenigstens haben wir noch ein paar Tage. Ich werde den Männern nochmals einschärfen, in der nächsten Zeit möglichst... tadellos zu sein. Und was machen wir mit denen im Kerker?“
Der Richter überlegte kurz: „Ich denke es ist besser, sie vorerst noch eingesperrt zu lassen, und sie gut zu bewachen. Ich kann im Augenblick nicht sagen, wie sich diese Verderbnis entwickelt, und wie sie sich verbreitet. In jedem Fall ist es sicherlich besser für die Stadt, wenn sie keine Unruhe stiften können, und wer weiß, vielleicht bringen die Gefangenschaft und die kargen Mahlzeiten sogar eine Besserung, als eine Art unfreiwillige Bußezeit.“
Der Hauptmann sah so aus, als wäre er im Prinzip mit dem Vorschlag einverstanden, aber nicht besonders zufrieden: „Und was machen wir mit den Leuten, die keinen Platz mehr im Kerker finden?“
Karl seufzte: „Haben wir die Möglichkeit, ein behelfsmäßiges Gefängnis einzurichten?“
Der Hauptmann überlegte kurz: „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Der Richter nickte: „Gut. Dann werde ich sehen, ob ich uns noch die Unterstützung der Stadtherren sichern kann.“
Forster grinste schief: „Viel Glück dabei. Ausgerechnet Eisenmeister und Waldherr sind vor Ort.“
Karl nickte missmutig: „Ich weiß. Euch auch viel Glück... und stellt mehr Männer auf beim Markt. Wer weiß, was da noch passieren könnte.“
Forster nickte: „Ja, das habe ich mir auch gedacht. Ich werde mich bei Euch melden, sollte noch etwas ungewöhnliches passieren. Schickt mir eine Nachricht, wenn sich bei den Stadtherren etwas ergibt.“
Der Richter nickte ebenfalls und reichte Forster die Hand, die dieser mit einem festen Druck bedachte. Dann machte sich der Richter erneut auf den Weg.
Kapitel 10
Feli erwachte wie gewohnt im Morgengrauen. Die minimale Änderung der Helligkeit in der größtenteils abgeschotteten, aber nicht vollkommen abgedichteten Hütte genügte ihr, um den anbrechenden Tag zu erkennen. Sie kletterte aus der Hängematte, packte diese schnell zusammen und führte Kari hinaus, damit sie wieder trinken und etwas grasen konnte, während Feli sich selbst eilig frisch machte und ein wenig Brot und Käse zum Frühstück verspeiste.
In Gedanken ging Feli bereits die Strecke durch, die sie an diesem Morgen prüfen wollte. Diesmal würde sie zunächst einmal auf die Straße zurückkehren und einige Meilen auf diese Weise hinter sich bringen. An diesem Wegabschnitt gab es tatsächlich keine nennenswerte Abkürzung, mit der sie sich Zeit herausholen konnte. Danach aber würde sie wieder eine Windung nutzen können. Die Straße würde Grünau, ein größeres Dorf passieren, und über dieses hinaus einen ziemlichen Umweg in Richtung Fluss und Brücke nehmen. Sie würde hinter Grünau jedoch eine nur wenigen Menschen bekannte Fuhrt ansteuern, die einzelne Reisende und kleine Gruppen nutzen konnten, die für einen größeren Tross oder gar einer Armee jedoch eine zu hinderliche Engstelle war.
Kari warf ihrer Reiterin einen Blick zu. Sie hatte offensichtlich genug vom Herumstehen. Feli lächelte die Stute an und legte ihr Sattel und Zaumzeug an, um sich dann mit einer schnellen, fließenden Bewegung in den Sattel zu schwingen und aufzubrechen. Die Sonne zeigte sich über den Wipfeln der Bäume und es war hell genug, dass Kari ohne Schwierigkeiten querfeldein über die Wiese preschen konnte, die zwischen der Straße und dem Waldrand lag. Das lange Gras wogte im sanften Morgenwind, und der letzte Tau flog funkelnd durch die Luft, wann immer die Grashalme durch Karis Ansturm zur Seite gepeitscht wurden. Feli sog gierig die frische Morgenluft ein, die sie so liebte. Noch war es kühl, aber darum machte sie sich keine Sorgen. Die Bewegung würde sie und Kari schnell aufwärmen.
Die Straße floss unter Karis Hufen vorbei wie ein Fluss aus Erde und Staub. Felis scharfe Augen sahen deutlich, dass ihr die Begegnung mit dem Heer des Rächerordens noch immer bevorstand. Alles, was der Wind ihr zutrug, waren die Geräusche des Waldes und der Wiese, Vögel und Insekten. In dieser Gegend war nichts zu spüren von der drohenden Gefahr, die irgendwo im Südosten lag.
Grünau war schon bald zu sehen. Gewöhnliche Reisende hätten von der Hütte aus sicherlich einen halben Tag gebraucht, aber Feli reiste schnell und mit leichtem Gepäck. Als sie sich dem Dorf näherte, sah sie bereits die Bauern auf den umliegenden Feldern, und in größerer Entfernung auch die Schafe kleinen Wolken gleich auf den grünen Wiesen. Sie fragte sich, ob das von ihr geschlagene Wolfsrudel sich an einem dieser Tiere gütlich getan hatte, oder ob die Bauern Glück gehabt hatten. Sie hatte keine Zeit, um sich dieser Angelegenheit anzunehmen, und konnte nur auf das Beste hoffen.
Die Straße führte sie schließlich mitten ins Dorf hinein, über den Marktplatz, und weiter nach Osten. Sie musste Kari etwas zügeln, um die vielen Menschen auf den Straßen nicht über den Haufen zu reiten, und ihre Anwesenheit immer wieder mit Ausrufen ankündigen. Der Markttag würde zwar erst am folgenden Tag stattfinden, doch auch an einem gewöhnlichen Tag war in einem Ort dieser Größe einiges auf den Straßen los. Die Handwerker hatten ihre Türen geöffnet und präsentierten die zum Verkauf stehende Ware in der Auslage direkt am Straßenrand. Kinder, die gerade nicht dazu verdonnert waren, im Haushalt oder auf den Feldern auszuhelfen, tobten unter der Sonne im Freien. Sie sah den einen oder anderen streunenden Hund, und Katzen, und auch ein rebellisches Huhn, das wohl vor dem Schlachtblock Reißaus genommen hatte und von einer wütend schreienden Bauernfrau verfolgt wurde. Sie sah Waschfrauen am einem großen Zuber am Brunnen, den einen oder anderen bereits rauchenden Kamin, auf dem wohl bereits das Mittagsmahl gekocht wurde, und auch die bemannten Ausgucke in hölzernen Türmchen entlang des Palisadenzauns, der das Dorf umgab und die Wachsamkeit über das offene Gelände in alle vier Himmelsrichtungen sicherte. Feli war sich sicher, dass diese Befestigung das Dorf in einem richtigen Krieg nicht retten würde, doch vor marodierenden Banditen und Wolfsrudeln bot das einen genügenden Schutz.
Die Dorfleute sahen ihr neugierig nach, doch nicht allzu lange. Es kam nicht oft vor, dass Menschen wie Feli in größter Eile durch Grünau geprescht kamen, aber es war nicht unerhört. Die Gilden waren zwar schon lange in den Hintergrund getreten, und hatten in diesen Landen bei weitem nicht mehr die Präsenz und die Macht wie sie sie in den früheren Tagen ausgeübt hatten, aber das Abzeichen der Waldläufer, das Feli deutlich sichtbar an ihrer Reisegewandung und auch am Sattel und Zaumzeug ihrer Stute trug, war den meisten Leuten noch ein Begriff. Wann immer es notwendig war, Nachrichten schnell zuzustellen, oder bedeutende Personen sicher durch die Wildnis zu geleiten, wandte man sich an ihre Zunft. Damit war diese Gilde in den Köpfen der Leute noch immer präsent, während die obskuren Geistesbegabten und verschiedenen Magierschulen schon längst zum Stoff von Geschichten und Sagen wurden, und die legendären Kampfakademien ebenfalls in Vergessenheit geraten waren. Manche Gilden waren in diesen Landen sogar ganz und gar aufgegangen im Klerus, so wie die Heilkundigen und die Geistesbegabten, die nun oftmals als Dämonenjäger oder Seher zu finden waren. Oder aber sie traten an den Höfen der höchsten Adligen als geschätzte Berater auf, da ihr tadelloses Gedächtnis und ihr herausragendes Denkvermögen sie zu unschätzbaren Verbündeten machten, von den weniger bekannten Fähigkeiten ganz zu schweigen.
Trotz der Verzögerung konnte Feli Grünau bald hinter sich lassen, und spornte Kari abermals an. Sobald sie die das Dorf umgebenden Felder hinter sich ließ, ritt sie wieder querfeldein über die Weidegründe der Kühe und Schafe, und wäre beinahe einem Sturmhauch gleich an ihnen vorbeigeschossen, doch dann kam ihr ein beunruhigender Gedanke in den Sinn und sie zügelte das Pferd neben einem ergrauten Schäfer, der sie unter der Krempe seines großen Schlapphuts aus Filz überrascht und auch etwas erschrocken ansah.
„Keine Angst, es ist nichts passiert,“ rief sie ihm hastig zu. „Ich muss gleich weiter. Ein Heer der Rächer wird bald hier über die Straße ziehen, nach Starogrâd. Warnt die Dorfbewohner vor, damit sie möglichst wenig Scherereien haben. Und haltet eure wertvollsten Tiere zurück, nicht dass man sie zum Schlachten einfordert.“
Sie wartete die Antwort des Mannes nicht ab und trieb Kari wieder zur Eile an. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, dass der alte Schäfer einen der jüngeren Burschen zu sich gerufen hatte und ihm wohl wild gestikulierend die Anweisung gab, ins Dorf zu laufen. Feli hoffte, dass sie den Menschen im Dorf mit dieser Vorwarnung einen Gefallen getan hatte. Auch wenn die Truppen der Rächer sich in vielerlei Hinsicht deutlich disziplinierter und zivilisierter benahmen als die Söldnerheere der Adligen, so nahmen sie sich zumindest in Bezug auf die Versorgung der Soldaten durchaus gewisse Freiheiten heraus, was das Eigentum anderer Leute betraf. Der Klerus und seine Armeen hatten schon immer ihre Sonderrechte. Also war es besser, wenn die besten Tiere, insbesondere die für die Zucht, dem Heer gar nicht erst ins Blickfeld fallen würden, ebenso wie das gelagerte Saatgut. Alles andere ließe sich verschmerzen. Die Zeit der Kälte war zwar wie immer grausam gewesen, aber das Jahr zuvor hatte sich als fruchtbar erwiesen, so dass die Menschen ein paar Verluste verkraften können würden.
Feli war inzwischen an dem kleinen Weg angekommen, den Jäger in dieser Gegend nutzten, um schnell durch die Wälder zur Fuhrt zu gelangen. Sie ließ ihre Stute so schnell vorwärts reiten wie es unter dem Blätterdach möglich war, und wandte ihre Sinne ganz und gar der Umgebung zu. Mit Raubtieren würde sie vermutlich keine großen Schwierigkeiten bekommen, aber sie wollte nicht unerwartet auf einen Trupp Wegelagerer stoßen, die solche versteckten Wege auch gern nutzten, um schnell zwischen verschiedenen Abschnitten der großen Straße zu reisen und einem ausgekundschafteten Ziel einen Hinterhalt bereiten zu können. Diesen Leuten wollte Feli nicht in die Arme laufen. Auch wenn sie den meisten Banditen durch ihre Kampfausbildung, Bewaffnung und Erfahrung überlegen war, gegen eine Überzahl mitten im Wald zu kämpfen war eine riskante Angelegenheit. Sie wollte lieber vorgewarnt sein, und selbst das Überraschungsmoment nutzen können, um so viele Gegner wie möglich mit ihrem Bogen niederzustrecken, bevor sie in den Nahkampf musste. Sie wollte Kari um keinen Preis der Gefahr aussetzen, verletzt oder gar abgestochen zu werden, nur um dann als Mahlzeit zu enden, weil solche Leute den Wert eines derart edlen Tiers nicht erkennen würden. Und wenn die Räuber halbwegs bei Verstand wären, dann würden sie zuerst versuchen, das Pferd niederzustrecken, bevor sie sich an die Reiterin machen. Dieses Szenario wollte Feli unbedingt vermeiden.