Ardeen – Band 10 | Teil 1

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Noch ein drittes Mal an diesem Tag bekam er Besuch. Er stand gerade vor dem Fenster und überlegte, wie lange es wohl noch hell sein würde, als er das Gefühl hatte, jemand stünde direkt hinter ihm. Eryn fuhr herum und da saß Meister Raiden im Schneidersitz auf dem Sandbett.
„Du bist also zu unfähig, um den Magieblocker zu entfernen, Nurin.“
Er lässt mich immer dumm aussehen. „Dann zeig es mir doch“, brauste Eryn auf.
Prinz Raiden ging auf diese Forderung gar nicht ein, sondern meinte lediglich:
„Aus dir wird nie ein brauchbarer Magier werden, Nurin. Es ist nur recht und billig, dass du dich selbst eingesperrt hast. Ein Fennrebell wie du gehört weggesperrt. Du bist eine Gefahr für dich und andere.“
Warum ist Prinz Raiden überhaupt hier? Spielt Ador seine Spielchen mit mir? Aber dann kam Eryn noch eine andere Erklärung. „Das hier ist nicht real.“ Es ist mein eigener Geist, der mir diesen üblen Streich spielt. Hier manifestieren sich meine Ängste und meine Wünsche. Halluzinationen eines verwirrten Hirns. Eryn sah weg und konzentrierte sich auf die Fische, die in dem Vorratsbecken schwammen. Als er wieder aufsah, war Prinz Raiden verschwunden und das Bett war wieder leer.
Das brachte ihm einen Moment der Erleichterung, denn seine Flucht war nicht vergebens gewesen. Natürlich bestand immer noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Ador ihn mit diesen Trugbildern heimsuchte, denn die Illusionen kamen immer wieder. Meist war es Ador, doch auch Meister Raiden und andere Personen, die er kannte, tauchten auf. Vor allem jene, zu denen er ein schwieriges Verhältnis gehabt hatte. Sir Haerkin befand sich darunter und auch Meister Tellenor und Meister Savyen, obwohl ihm dieser zur Flucht verholfen hatte. Einmal tauchte auch der Forscherdrache auf und verkündete, dass er das Forschungsobjekt Nummer eins fressen wolle, um den unterschiedlichen Geschmack der Forschungsobjekte zu katalogisieren.
Eryn gewöhnte sich schnell an diese Halluzinationen. Manchmal unterhielt er sich mit ihnen sogar ganz gerne, denn sie vermittelten ihm das Gefühl, nicht alleine zu sein.
So verstrichen die nächsten Tage und wenn er gerade keinen Besuch hatte, lag Eryn oft antriebslos auf dem Haufen Seegras und döste. Manchmal aß er etwas und hin und wieder unternahm er einen Versuch, die Fußfessel zu zerstören. Aber bisher hatte er nicht mehr zustande gebracht, als eine dünne Rille in die Oberfläche des Metalls zu kratzen. Etwas mehr Erfolg hatte er beim Anker in der Mauer. Dort war es ihm gelungen ein paar Gesteinssplitter herauszuschlagen. Allerdings nicht genug, um den tief sitzenden Anker freizubekommen. Doch selbst wenn er die Kette vom Felsen lösen könnte, dann verhinderte immer noch der metallene Magieblocker um seinen Knöchel, dass er seine Magie würde gebrauchen können. Doch ohne Magie war es so gut wie unmöglich, von diesem kargen Felsen zu entkommen. Die Kette selbst war lang genug, sodass er sogar problemlos den Raum verlassen konnte.
Um den Wind abzuhalten hatte Eryn nämlich einen schmalen Einlass in den Stein gegraben, der steil eineinhalb Schritte nach oben führte und dann in einem ovalen Durchlass nach draußen mündete. Dort gab es dann nur mehr einen kleinen Vorsprung, bevor der Fels kerzengerade in die Tiefe abfiel.
Manchmal stand Eryn dort am Abgrund und sah den Wellen zu, wie sie in der Ferne immer kleiner wurden, bis sich Wasser und Himmel in der verschwommenen Linie des Horizonts trafen.
Zunächst war ihm nichts wichtig gewesen und die Zeit trieb nur so dahin, doch mit zunehmender Klarheit wurde er sich auch wieder der Probleme seiner derzeitigen Situation bewusst.
Abgesehen mal von dem gierigen Verlangen nach Rauschkraut, welches er immer noch nicht kontrollieren konnte, würde ihm irgendwann auch die Nahrung ausgehen. Die Muscheln hatte er schon allesamt gegessen und nur, um noch etwas anderes als Fisch zu essen zu haben, kaute er auf dem Seegras herum und spuckte dann den faserigen Brei aus, wenn er ihn nicht gerade auf die Scheuerstelle am Fußgelenk aufbrachte.
Fischhaufen und Wasservorrat hatten sich bereits halbiert und wenn diese Vorräte zur Neige gingen, dann hatte er ein richtiges Problem. Doch noch hoffte er auf eine Eingebung, wie es ihm gelingen könnte, die Fessel zu lösen.
Meister Raiden hat immer behauptet, sich eines einzelnen Magieblockers zu entledigen, wäre einfach. Manchmal hatte er das sogar demonstriert, nur um Eryn zu verspotten. Aber der Herr des Schwarzen Turmes hatte seinen Schüler nie in dieses Geheimnis eingeweiht. Eine andere Möglichkeit war es, sich den Fuß abzuhacken. Dann könnte der eiserne Ring mit Leichtigkeit entfernt werden. Ein zerstörtes Glied konnte mit Magie wieder ersetzt werden, doch trotz dieses Wissens war Eryn zu solch einer drastischen Maßnahme noch nicht bereit. Somit blieben ihm lediglich die unmagischen Methoden und er kratzte mit dem zackigen Messer, benutzte die inzwischen abgebrochene Gabel wie einen Meißel und manchmal schlug er mit dem Stein auf das Eisen ein. Doch dabei hatte er sich bereits mehrfach verletzt und nun zierten weitere Abschürfungen und mehrere dunkle Blutergüsse sein Bein.
Etwa eine weitere Woche verging und langsam wurde Eryns Verlangen nach dem Rauschkraut geringer, die Illusionen kamen seltener, sein Geist wurde deutlich klarer und die lethargische Antriebslosigkeit nahm ab. Allesamt gute Zeichen. Doch seine Vorräte nahmen ebenfalls stetig ab und im Trinkwasserbecken war der Wasserspiegel bereits auf eine Handbreite abgesunken.
Ich muss das Wasser rationieren, dachte Eryn und etwas anderes bereitete ihm ein flaues Gefühl im Magen. Wenn ich den verdammten Reif nicht bald zerstören kann, dann muss ich meinen Fuß abschneiden. Und er begann damit, sich eine bessere Säge zu basteln. Dafür musste ein Blechteller herhalten, den er so lange hin und her bog, bis er in der Mitte auseinanderbrach. Er stanzte Zacken in die Bruchkante hinein und schaffte es sogar, den oberen Bereich derart umzubiegen, dass er dort seinen einzigen Löffel als Griff einsetzen konnte. Diese neue Säge benutzte er nicht, um am Metallreif herumzuschaben. Das würde die größeren Zacken nur stumpf werden lassen. Diese Zacken mussten scharf bleiben, wenn der Moment kam, an dem sie durch Fleisch und Knochen schneiden mussten. Doch noch hegte Eryn die Hoffnung, dass er den Reif irgendwie zerstören könnte. Die kleine Rille hatte mittlerweile eine Tiefe von zwei Millimetern erreicht, was ungefähr einem Fünftel der Metalldicke entsprach. Er arbeitete nun viel intensiver daran, denn ihm war klar, dass er bessere Fortschritte machen musste, um nicht auf den letzten Ausweg angewiesen zu sein.
Seiner Schätzung nach blieben ihm noch ein paar Tage, wenn er das Wasser gut einteilte. Das Messer kratzte ständig und so fiel es Eryn zunächst gar nicht auf, dass der Wind draußen stärker wurde. Der Wind blies beständig und kam nie ganz zum Erliegen, doch jetzt braute sich etwas zusammen. Dunkle Wolkenberge türmten sich am Himmel auf und starke Böen peitschten über die See.
So, wie der Raum angelegt war, hielt er den Wind gut ab, doch das Heulen vom Eingang her konnte man nun überdeutlich hören. Eryn sah von seiner Arbeit auf und ging zum Ausgang hinüber. Dort peitschte ihm bereits heftiger Regen aus schwarzblauen Wolken entgegen und große Wellen brachen sich an dem Felsen, sodass die Gischt bis zum Eingang emporspritzte.
Mit Unbehagen zog sich Eryn wieder zurück in seine Kammer, denn ein Sturm zog auf. Immer heftiger heulte und rüttelte es und dann schlug Wasser gleich einem Hammer von draußen an die Scheibe des Fensters und ließ sie zerbrechen. Die nächste Welle trieb dann einen Schwall Wasser durch die Öffnung und Eryn mühte sich verzweifelt, das Loch abzudichten. Doch die Kräfte der wütenden Wellen waren einfach zu groß. Sie zerstörten seine kläglichen Bemühungen und warfen ihn selbst zu Boden. Dort sammelte sich bereits das eingedrungene Wasser und immer mehr kam herein, sodass Eryn den Rückzug antrat.
Er begab sich in den schmalen Durchgang, der sich nach draußen öffnete. Der war so steil, dass es das Wasser noch nicht bis dorthin geschafft hatte, während es bereits knietief den Boden des Raumes bedeckte.
Bei den Göttern, warum werde ich so heimgesucht? Das Wasser stieg und Eryn befand sich nun fast am Ende des Durchgangs. Auch vom Eingang spülte Wasser herein und lief die Schräge hinunter, um beim Befüllen des Raumes zu helfen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und es war so dunkel geworden, dass man nicht mehr die Hand vor Augen sah. Eryn horchte auf das zornige Heulen, ob der Sturm vielleicht langsam schwächer werden würde. Kein Unterschied ließ sich erkennen und dann begann das Wasser seine Füße zu umspülen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Kammer nun fast vollständig geflutet war. Eryn ertastete die Kante des Ausgangs mit seinen Händen, dann kam ihm ein Schwall Wasser entgegen und der warf ihn rückwärts zurück in den Durchgang. Er fiel und tauchte kurz mit dem Kopf unter, bevor er japsend an die Oberfläche kam. Auf Händen und Knien kletterte er wieder nach oben. Doch der Sturz hatte seine Orientierung beeinträchtigt und er merkte nicht, dass er inzwischen den geringen Schutz des Durchgangs verlassen hatte und sich nun draußen auf dem schmalen Vorsprung befand. Die nächste Welle erwischte ihn mit voller Kraft und drückte ihn mit dem Rücken an den Felsen. Wieder drohte er zu stürzen. Schnell machte er einen Schritt zur Seite, um sich abzufangen, dabei glitt er aus und fiel über den Rand des Vorsprungs in die Tiefe. Er schrie, doch der Sturm verschluckte seine Stimme. Und dann schrie er noch mehr, als ein scharfer Ruck an seinem Fußgelenk den Sturz bremste. Nun hing er kopfüber von der Klippe und der Eisenring schnitt grausam in das Fleisch seines Beines, doch die Kette hielt und hinderte ihn daran, gänzlich in die tosenden Wellen zu stürzen.
Die nächste Welle rollte heran und schlug mit Wucht zu, während Eryn hilflos über Kopf herunterhing.
Ihr Götter, lasst mich einfach sterben. Der Gedanke war verlockend, doch dann obsiegte sein Willen zu überleben. Er drehte sich zur Seite und konnte mit der Hand einen guten Griff in der Felswand finden. Tatsächlich war dies gar nicht so schwierig, denn der Fels war verwittert und scharfkantig. Er zog sich seitlich nach oben, und dann fand er Halt mit seinem freien Bein. Eine weitere Welle krachte neben ihm gegen den Felsen, doch ihn traf dabei nur ein Schauer von Tropfen. Langsam kämpfte er sich die Felswand wieder hoch und dann rollte er über die Kante des Vorsprungs, wo er keuchend auf dem Rücken liegen blieb. Bildete er sich das nur ein, oder war der Regen inzwischen schwächer geworden? Er horchte. Eine Welle brach sich am Felsen und überschüttete ihn mit Gischt. Daraufhin kroch er halb in den Durchgang hinein, damit er nicht wieder in die Tiefe gerissen würde.
Sein Fuß musste ziemlich lädiert sein, doch zum Glück spürte er keinen Schmerz. Noch nicht. Er tastete nach dem Gelenk und fühlte eine tiefe Schnittwunde. Sie musste ziemlich bluten, doch alles war so dermaßen nass, dass er das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Allerdings war er in der Heilkunst versiert genug, um zu wissen, was er zu tun hatte. Von seinem Hemd riss er einen Streifen Stoff und band damit das Bein ab, während der Sturm langsam zur Ruhe kam.
Eryn lehnte erschöpft mit dem Rücken an der Wand und zitterte am ganzen Körper. Es war kühl, doch nicht so kalt wie an der Küste im Norden, sonst hätte er diese Nacht nicht überlebt. Aber auch so war ihm klar, dass sich seine Situation drastisch verschlechtert hatte. Salzwasser hatte sein Domizil geflutet und damit waren seine Vorräte an Trinkwasser dahin. Vielleicht fand er noch etwas Seegras und einen der Fische, doch auch das würde ihn nicht mehr lange retten. Somit war seine finale Entscheidung gefallen.
Hoffentlich finde ich noch die Säge. Sobald es genügend Licht gibt, muss ich den Fuß abnehmen. Ich brauche Zugriff auf meine Magie, der Rest lässt sich heilen.
Sein ausgezehrter Körper hatte ihn in einen traumlosen Schlaf gleiten lassen und als er erwachte, schien die Sonne von einem blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte. Nichts mehr erinnerte an den gewaltigen Sturm der letzten Nacht. Eryn saß im Durchgang im Trockenen, denn der nun ruhige Wasserspiegel in seiner Behausung reichte nur bis auf die Höhe des tiefer liegenden Fensters.
Ich hätte in der Kammer bleiben können und wäre nicht ertrunken, dachte Eryn. Doch tags zuvor hatte das alles anders ausgesehen. Sein Fuß war nun dunkelblau angelaufen und er spürte ihn nicht mehr. Kein gutes Zeichen. Ich muss die Säge finden. Doch was er zuerst fand, war ein größerer Stein, der sich gelöst haben musste und nun im Durchgang halb unter Wasser lag. Eryn griff danach und beschloss, damit noch einmal auf den Metallreif einzuschlagen. Das erschien ihm noch deutlich besser, als die Säge zu benutzen. Außerdem spürte er den Fuß sowieso nicht mehr.
So hämmerte er auf das Metall ein. Einmal, zweimal. „Du Scheißding, geh endlich auf!“
Und dann schmetterte er den Stein wie ein Irrer wieder und wieder auf das Eisen. Tränen standen ihm in den Augen.
„Ich habe eine Scheißangst, diese Säge zu gebrauchen ... Wenn ich sie überhaupt finden kann. Geh auf, geh auf, geh auf!“
Da endlich hatten die Götter ein Nachsehen und der Eisenring zerbrach. Zunächst konnte Eryn es gar nicht fassen, als ihn die Magie durchflutete. All seine zwölf Adern pulsierten in leuchtenden Farben. „Die Poxe am Arsch, ich bin frei!“, jubelte er. „Ich bin wieder frei und nie wieder in meinem Leben werde ich so dumm sein, mir so etwas anzutun. Einen Magieblocker ohne Schloss. Wie dämlich muss man sein.“ Eryn lachte befreiend über seine eigene Dummheit. Sein benebeltes Hirn hatte ihn damals nicht klar denken lassen, doch nun war alles anders. Das Martyrium durch den Sturm und die Schmerzen hatten die letzten Reste der Rauschkrautvergiftung aus seinem Körper getrieben und nun konnte er wirklich ein neues Leben beginnen.
Doch zunächst musste er sich um seinen verletzten Fuß kümmern. Er löste das Stoffstück, mit dem er das Bein abgebunden hatte und untersuchte die Verletzung magisch, so wie er es schon oft getan hatte – allerdings stets bei anderen. Was sich ihm da offenbarte, sah nicht gut aus.
„Den Schaden wieder zu richten, wird eine Weile dauern“, murmelte er und leitete erste Schritte ein. Blutgefäße waren zerstört und der Schnitt, welchen er sich beim Fall von der Klippe zugezogen hatte, reichte bis hinunter auf den Knochen. Drum herum gab es noch etliche Quetschungen und Eryn vermutete, dass einige davon auf die Schläge mit dem Stein zurückzuführen waren. Am Fußgelenk selbst gab es eine Knochenabsplitterung und die Bänder waren arg in Mitleidenschaft gezogen. Rund eine Stunde lang war er in die Behandlung vertieft und konnte dabei vieles richten. Doch selbst mit magischer Unterstützung würde die endgültige Heilung noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Dann zog er Wasser aus der Luft und ließ es sich direkt in den Mund laufen. Als er auch seinen Hunger gestillt hatte, schickte er ein Auge aus. Denn so viel stand fest:
Hier auf diesem Felsen bleibe ich nicht. Zunächst sah er nichts als blaues Meer, was die Vermutung nahelegte, dass er sich ziemlich weit vom Kontinent entfernt befand. Als das Rauschkraut ihn noch fest im Griff hatte, konnte rein gar nichts sein Interesse wecken, doch nun kehrte seine Wissbegierde zurück.
Ob es noch einen weiteren Kontinent gibt? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte ihn schon längst jemand gefunden. Aber einen Steinhaufen wie diesen hier könnte es durchaus noch irgendwo geben. Wenn ich allerdings nichts weiter finde, dann muss ich doch weiterhin hierbleiben.
Aber das Blatt des Schicksals hatte sich gewendet und die Götter meinten es gut mit Eryn. In einiger Entfernung lag eine weitere Insel. Da Eryn nicht viel Erfahrung mit Schiffen und ihrer Fahrgeschwindigkeit hatte, schätzte er die Distanz bis dorthin auf ungefähr zwei Tagesritte. Diese neue Insel war etwas größer als sein jetziges Domizil und hatte die Form eines zu drei viertel geschlossenen Kreises. Dadurch konnten sich die Wellen an einer Seite brechen und bildeten so einen natürlichen Schutzwall. Eryn erspähte sogar einen schmalen Streifen Sandstrand innerhalb dieses geschützten Bereiches.
„Perfekt! Dann werde ich mal umziehen.“ Irgendwie hatte er es sich in letzter Zeit angewöhnt, laut mit sich selbst zu sprechen. War ja sonst keiner da, mit dem er sich unterhalten konnte.
Ein Tor brachte ihn zur Sichel, wie er die neue Insel bereits getauft hatte und dort setzte er sich erst einmal an den Strand und genoss die angenehme Wärme der Sonne auf seiner Haut. Ohnehin musste er sein Bein schonen und als Magier bestand auch keine Notwendigkeit herumzulaufen, nur um die Insel zu erkunden. Sein Auge wanderte flink hin und her, während er selbst träge im Sand lag.
Drei Tage später hatte sich Eryn schon gut eingerichtet. Im höchsten Felsen der Insel befand sich nun seine Unterkunft und die konnte sich durchaus sehen lassen. Ohne Zeitdruck und mit klarem Kopf hatte Eryn seine Fähigkeiten voll ausschöpfen können und eine Behausung mit fünf Zimmern gebaut. Schon früher hatte er reichlich Übung mit der Ader Grau gehabt und sich als ganz guter Baumeister erwiesen. Vom großzügigen Eingangsbereich kam man in die Haupthalle und die Küche. Dort lagerten auch Eryns Vorräte, die allerdings auch wieder nur aus Fisch und Muscheln bestanden. Ein ovales Becken aus poliertem Stein war mit klarem Wasser gefüllt. Es gab noch einen extra Baderaum, den man von der Halle aus durch einen kleinen Gang betreten konnte. Derselbe Durchgang führte auch in Eryns neues Schlafgemach.
Die Wände drinnen waren akkurat gerade, wohingegen er den Felsen draußen in seiner ursprünglichen Form belassen hatte. Die Fenster waren in den Stein eingearbeitet, und zwar dort, wo sich bereits natürliche Vertiefungen befunden hatten. Darum war auch keines von ihnen symmetrisch, sondern sie sahen vielmehr aus wie vergrößerte Risse. Auch der Eingang lag etwas versteckt und führte nur auf ein kleines Plateau hinaus, ähnlich wie bei seiner ersten Behausung. Um auf den Strand hinunterzukommen, musste Eryn schweben, was für ihn freilich kein Problem darstellte. Er hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, eine Treppe zu bauen, denn niemand sollte auf den ersten Blick erkennen können, dass die Insel bewohnt war. Zu sehr saß Eryn noch die Angst im Nacken, dass Ador ihn aufspüren könnte. Darum brachte er auch keine permanenten Zauber an, die durch einen Scan leicht zu erkennen waren.
Aber der Sturm von neulich hatte ihm eine andere, ganz unmagische Gefahr aufgezeigt und Eryn nutzte die Adern Braun und Grau, um den schützenden Ring aus einzelnen Felsbrocken um die Insel herum noch zu verdichten. Dabei hob er den Meeresboden magisch an. Keine intellektuell schwierige Arbeit, jedoch eine sehr anstrengende. Und nachdem er den ganzen Vormittag damit verbracht hatte, hinkte er den Sandstrand ein paar Schritte hinauf und setzte sich dann auf ein sonniges Plätzchen. Sein Fußgelenk schmerzte von der Belastung und er bedachte es mit einer Kombination aus Betäubung und Heilzauber. Ich muss dem Fuß mehr Ruhe geben, dann heilt er schneller. Offensichtlich war es ihm nicht gelungen, alle kaputten Stellen im Gelenk zu reparieren. Dergleichen verlangte eine sehr hohe Kunstfertigkeit, doch Eryn war mit dem erzielten Ergebnis ganz zufrieden und mit der Zeit würde auch der Rest noch heilen.
Aber es gab andere Probleme, mit denen er sich außerdem auseinandersetzen musste. Stein, Eisen, Fisch und Wasser gab es im Überfluss, doch an allem anderen mangelte es. Seine eigene Kleidung war mittlerweile so zerrissen und verdreckt, dass sie den Namen kaum mehr verdiente. Eryn hatte versucht, aus dem Seegras einen Stoff zu weben, doch das Ergebnis war ein kratziges, raues Gewebe, welches mehr einer Matte denn einem weichen Stoff glich. Meister Raiden war stets der große Webkünstler gewesen, weswegen sich Eryn mit dieser Kunst nie sonderlich beschäftigt hatte. Er hatte Kleidung und Stoffe auf dem Markt gekauft. Auch Möbel und Nahrungsmittel hatte er dort erstanden.
Und gerade erschien ihm ein Markt wie ein gesegneter Ort der Götter.
Dort gibt es alles. Obst, Gemüse, Hühnchen – lebendig und gebraten. Frisches knuspriges Brot, gebratene Apfelringe. Eryn stöhnte sehnsüchtig. Allein ein unmagisches Feuer hat seinen Charme. Und er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass er in die Zivilisation zurückkehren musste, um sich all diese notwendigen Dinge zu besorgen, die es hier auf seiner Insel nicht gab. Nur etwas machte ihm dabei Kopfzerbrechen: Meister Ador. Er war Eryns größter Feind und seine Spezialität waren die Ader Gold und das Reisen in den Wegen.
Kann er mich in der Zwischenwelt aufspüren? Das war die Frage aller Fragen und Eryn wusste keine Antwort darauf. Was er allerdings mit Sicherheit wusste, war, dass er nie wieder ein Gefangener in Elverin sein wollte. Ebenso wenig wie er in die Dienste Naganors zurückkehren wollte. Es war die Zeit gekommen, endlich sein eigener Herr zu sein – frei und niemandem verpflichtet, außer sich selbst. So war er hin und her gerissen, doch dann obsiegte die Notwendigkeit über seine Bedenken.
„Wasser verwischt die Spuren, hat mein weiser Urgroßvater Meister Savyen gesagt. Ich öffne das Tor erst im Wasser und komme dort auch wieder heraus. Und ich werde in der Nacht gehen, wenn selbst dieser verdammte Bastard von Ador schläft.“
Hätte Eryn gewusst, dass Meister Adors Gedanken zu dieser Zeit einzig und allein Lady Syrdae galten, dann hätte er sich nicht all diese Mühen gemacht. Doch davon ahnte er nichts und sein erster Raubzug führte ihn in die Abgeschiedenheit der Berge. In jenes Tal, in welches es ihn in Begleitung von Meister Raiden, Meister Eriwen und dem Forscherdrachen auf der Flucht verschlagen hatte. Damals hatte die Barriere des Nimrods noch die Welt geteilt. Doch das gehörte inzwischen schon längst der Vergangenheit an.
Eryn hielt sich nicht lange dort auf, sondern zog seine Aura ähnlich einem Netz über das Erdreich einschließlich allem, was darauf wuchs. Fünf Schritt im Quadrat konnte er so umspannen und das geraubte Land schaffte er dann direkt auf seine Insel. Den Baum verlor er in den Wegen, doch den Rest brachte er unbeschadet hindurch. Sein Beutegut lag nun knapp unterhalb der Wasseroberfläche in der Nähe des Sandstrandes und Eryn arbeitete hart, um Erde und Pflanzen schnell auf festen Grund zu befördern. Als er endlich damit fertig war, schwebte er hinauf in seine Gemächer.
Morgen schaue ich mir genauer an, was ich da erbeutet habe, sagte er sich, dann fiel er todmüde in sein Bett.

Fünf Wagen standen im Hof des Händlers und auf ihren Planen prangte das Wappen der Meretts und darunter stand „Merett Handelskompanie“, während sich auf dem Hof Kisten, Säcke und Stoffballen stapelten. Zwei ältere Männer hatten sich mächtig in der Wolle, während die Knechte und Fuhrleute jeweils hinter ihren Anführern standen und dem Streit zuhörten.
„Drei Säcke Korn fehlen, so viel steht fest. Hundert sollten es sein und wir haben nur 97 entladen“, meinte der lokale Händler, während sich der Vertreter der Meretts rechtfertigte:
„Aber ich habe die Säcke selbst gezählt und nach dem Verladen noch einmal nachgeprüft. Sie waren eindeutig auf den Wagen.“
„So, waren sie“, meinte der Händler spitz und polterte dann los: „Dass die Meretts Halsabschneider sind, weiß ich schon lange, aber dass sie es jetzt schon nötig haben zu betrügen, das ist ungeheuerlich.“
„Vorsicht, was du da sagst. Vielleicht haben die Kornsäcke ja beim Entladen Füße bekommen.“
Der Händler lief bei dieser infamen Anschuldigung rot an.
„Was soll das heißen? Etwa dass meine Männer stehlen? Bitte, sieh dich um. Würde mich verdammt noch mal wundern, wenn du die Säcke hier findest. Aber ich sag dir eines: Ich werde die Ware jetzt aufs Genaueste prüfen und dann werden wir sehen, ob ihr vielleicht noch mehr Tricks auf Lager habt.“
Der Mann der Meretts versuchte nun den Händler zu beruhigen:
„Das ist doch lächerlich. Wir machen schon so lange miteinander Geschäfte und es war nie was.“
„Es gibt immer ein erstes Mal und vielleicht habe ich es bisher auch nur nicht gemerkt. Aber jetzt werde ich der Sache auf den Grund gehen.“ Dann drehte er sich zu seinen Leuten um:








