Ardeen – Band 10 | Teil 1

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„Männer, prüft die Ware. Jeder Sack wird gewogen, jeder Ballen auf seine Stofflänge geprüft und alles gezählt, und dann werden wir ja sehen.“
„Bitte, das ist dein gutes Recht“, meinte der Vertreter der Meretts und ließ durchklingen, wie beleidigt er ob dieses Vorgehens war.
Die Untersuchung ergab letztendlich, dass auf jedem der Stoffballen nur 45 Meter aufgewickelt waren anstatt 50, und dass etliche Kisten und Säcke zu wenig Gewicht hatten.
Damit war für den Händler der Fall klar und er rief nach der Obrigkeit, während der Merett-Lieferant sich das absolut nicht erklären konnte.
„Ich habe alles gewogen und gezählt. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein.“

Während unter den Unmagischen Unfrieden herrschte, räumte Eryn den letzten Sack Diebesgut in seine Vorratskammer. Seit seiner ersten Reise auf den Kontinent war er noch mehrfach zurückgekehrt und bei seinen Beutezügen immer dreister geworden.
Nun erstreckte sich auf Eryns Insel gleich im Anschluss an den Sandstrand ein Grünstreifen, der sich noch ein ganzes Stück weit den Hang hinaufzog. Erst als das Gelände zu steil wurde und die Erde keinen rechten Halt mehr finden wollte, hatte Eryn mit seiner Umgestaltung aufgehört. Hühner, Gänse und Hasen hatte er ebenfalls auf die Insel gebracht, da diese recht problemlos in der Haltung waren. Unabsichtlich waren dabei noch ein paar Singvögel und anderes kleineres Getier auf die Insel gereist. Sie hatten in dem herangeschafften Erdreich und Gebüsch ihr Zuhause gehabt.
Auf der zweitgrößten Erhebung der Insel hatte Eryn noch einen Süßwassersee angelegt. Er diente zum Baden und generell als Wasserspeicher. Den Schutzwall um die Insel herum hatte er weiter vergrößert und auch sein Heim war inzwischen ganz gut eingerichtet und war durchaus wohnlich. Da gab es Tische, Kommoden und Schränke, allesamt von solider Bauweise und manche davon waren sogar verziert. Am Anfang hatte sich Eryn als Schreiner versucht, war aber mit dem Ergebnis nicht sonderlich zufrieden gewesen und so besorgte er sich die Güter aus der alten Welt. Er mied große Siedlungen und nahm sich nur Gegenstände, die verstaubt und vergessen auf Dachböden und in Scheunen herumstanden. Nichts, was jemand vermissen würde. In einem abgelegenen Landhaus machte er die reichste Beute. Auf dem Haus selbst lag ein Schutzzauber, weswegen er es unberührt ließ. Doch in dem Nebengebäude gab es eine ganze Kammer voller alter Möbel. Die Staubschicht lag so dick über allem, dass hier schon lange niemand mehr gewesen sein konnte.
Auf den Wagenzug der Meretts stieß er eher zufällig, als er nach weiterer Beute Ausschau gehalten hatte. Sein erster Gedanke war, sich gleich wieder zu entfernen, um nicht von den Menschen entdeckt zu werden. Doch dann hielt er inne und änderte seine Meinung.
Warum nicht. Die Meretts sind die reichsten und die schlimmsten aller Händler. Sie zu bestehlen, ist kein Verbrechen. Das ist ausgleichende Gerechtigkeit.
Die Wagen standen über Nacht in einem Kreis um das Lager herum und waren bewacht – doch nicht gut genug, um einen begabten Magier vom Sammeln abzuhalten. Und einmal angefangen, wollte Eryn gar nicht mehr aufhören, denn er konnte wirklich vieles aus dem dargebotenen Sortiment gebrauchen.
Nun saß er auf seinem bequemen, neu bezogenen Sofa und lachte in sich hinein.
Es ist nur recht und billig, wenn man einem armen Magier unter die Arme greift. Die Fenster hatten hübsche Vorhänge und auf dem Steinboden lagen Teppiche und Felle. Sein Bett hatte eine Matratze, und alle Decken und Kissen waren mit Daunenfedern gestopft. Im Kamin in der Wohnstube brannte ein richtiges Feuer und das Knistern der Holzscheite sorgte für eine wohlige Behaglichkeit.
„So lässt es sich leben“, meinte Eryn zufrieden. Allerdings, stehlen werde ich nun nichts mehr. Das ist einfach nicht recht ... Auch wenn es mit den Meretts keine Armen trifft. Außerdem wird jeder Dieb irgendwann einmal erwischt. Sie finden meine Spur, die Magier bekommen davon Wind und schon stehen ungebetene Gäste vor meiner Tür. Das wäre das Letzte, was ich gebrauchen könnte.
Somit war es an der Zeit, wieder redlich zu werden. Doch es lag nicht in seinem Naturell, träge vor dem Kamin zu sitzen und die Tage sinnlos verstreichen zu lassen. Aber es fehlte ihm an entsprechender Gesellschaft. Andere Menschen, mit denen er sich unterhalten konnte. Darum erfüllte ihn bald eine Unrast und er spielte mit dem Gedanken, seinen Sohn Gannok zu sich zu holen.
Er ist mein Sohn und ich habe ihn aus selbstsüchtigen Gründen zurückgelassen, um nach Elverin zu gehen. Das war nicht richtig. Das weiß ich jetzt, und ich habe bitterlich dafür gebüßt. Dafür hat schon mein eigener Vater gesorgt. Der Schöpfer – wie kann jemand nur so selbstherrlich sein. Heißt es nicht, mit dem Alter käme die Weisheit? Daran hege ich inzwischen große Zweifel. Doch die Fehler der Vorfahren müssen sich nicht wiederholen. Ich kann es weitaus besser machen als mein eigener Vater und Gannok mit Güte und Liebe erziehen.
Doch die Sache hatte einen Haken. Gannok befand sich in Naganor und der Schwarze Turm war gegen Magie gut gesichert – nicht so wie die Häuser der Unmagischen.
Eryn dachte lange über dieses Problem nach. Seine Angst vor Ador hatte sich inzwischen ein wenig gelegt, denn die magische Wolke der Wege war unendlich groß und er würde sich sicherlich nicht in die Nähe von Elverin begeben. Meister Raiden selbst war in der Tormagie nicht sonderlich bewandert, alleine schon deswegen, weil ihm die Ader Gold fehlte. So schlussfolgerte Eryn, dass der Herr von Naganor nur eine Gefahr für ihn werden könnte, wenn er aus den Wegen heraustrat. Das musste Eryn aber gar nicht. Wenn er nahe genug an die magische Barriere herantrieb, konnte er wie durch eine Scheibe hindurchsehen.
Also machte er sich auf nach Naganor und suchte in dem Nebengebäude nach den Kindern. Aber das Zimmer, in dem sie zu viert schliefen, war leer.
Vielleicht haben sie Unterricht oder spielen irgendwo draußen. Eryn glitt an der Barriere entlang, fast so, als würde er durch das Gebäude laufen. Er konnte sich inzwischen eine ganze Weile in den Wegen aufhalten, war aber ungefähr eine halbe Stunde verstrichen, wurde er nach draußen gezogen. Ähnlich einem Taucher, der zurück an die Wasseroberfläche schwimmen musste, um Luft zu holen. Diese Zeitspanne war schon deutlich länger als am Anfang und sicherlich würde er mit etwas Übung noch besser darin werden. Schließlich hatte Ador ganze fünfzig Jahre in den Wegen verbracht – wenn auch nicht freiwillig. Eryn verdrängte die unliebsamen Erinnerungen an Ador und schob die Grenze zur realen Welt vor sich her. Die Gesetzmäßigkeiten in den Wegen waren andere als draußen. Man konnte problemlos durch Wände und alle anderen Feststoffe wandern. Nur auftauchen sollte man nicht in solchen Materialien.
Gerade erreichte Eryn den Unterrichtsraum, der ebenfalls leer war. Doch im Hof wurde er dann fündig. Alle vier Kinder saßen in Eintracht nebeneinander. Danian warf seinem Raben Brotkrumen zu, welche dieser gezielt aufpickte, während Carmina ihre Katze streichelte, die wohlig brummend auf ihrem Schoß lag. Gannok spielte mit seinem Hund Flocke Stöckchen holen und war gerade dabei erneut zu werfen. Nur Asrans Bergkatze Fauchi war nirgends zu sehen. Das Bild war verschwommen und Eryn wagte sich noch ein klein wenig näher an die Grenze heran. Die Kinder redeten irgendetwas, dann schienen sie zu lachen. Aber Eryn konnte nichts hören.
Ob ich sie verstehen kann, wenn ich noch näher heranschwebe? Man konnte auch Zauber nach draußen schicken, aber die erregten mit Sicherheit Aufmerksamkeit. Und der Grenze noch näher zu kommen, barg das Risiko plötzlich hinausgezogen zu werden.
Naganor ist nicht der Ort, um dahingehend Experimente zu machen.
Also gab er sich im Augenblick damit zufrieden, den Kindern einfach nur zuzusehen.
Wenn ich Gannok zu mir hole, dann soll nicht gleich jeder wissen, dass ich es war. Meister Raiden hat sicherlich ein großes Interesse, dass ich als sein williger Untergebener zurückkehre. Ich würde ihm sogar zutrauen, dass er Ador ins Vertrauen zieht, damit der ihm bei der Mission ‚Eryn einfangen‘ auch noch behilflich ist. Aber Ador hilft nur sich selbst. Irgendwie erstaunlich, dass Meister Raiden das noch nicht selbst aufgefallen ist. Hat er doch sonst einen sehr gesunden Scharfblick für die Geschehnisse um ihn herum.
Carmina sagte etwas und Asran streckte ihr die Zunge heraus. Woraufhin sie aufstand und mit einem hochnäsigen Gesicht davonstolzierte. Gannok und Asran schienen sich darüber köstlich zu amüsieren, während Danian immer noch mit seinem Raben beschäftigt war.
Aber dann sagte Asran etwas zu Gannok und die beiden Buben fielen übereinander her und balgten sich.
Dieser Asran ist der Teufel, urteilte Eryn und war gleichzeitig auch ein wenig um Gannok besorgt. Aber die beiden schenkten sich nichts und dann war der Streit so schnell vorüber, wie er gekommen war und die Jungs kugelten sich vor Lachen.
Kinder und ihre Spiele, wer kann die verstehen?, wunderte sich Eryn, dann trat er die Rückreise an.
In den Wegen
Auch wenn Eryn in den nächsten Tagen noch vieles in seinem neuen Heim zu tun hatte, ging ihm der Gedanke an die Wege nicht mehr aus dem Kopf. Es reizte ihn herauszufinden, wie nahe er an die Barriere zwischen den zwei Welten tatsächlich herankommen konnte. Aber nicht nur die Arbeit hielt ihn davon ab, sondern auch eine gewisse Angst davor, dass Ador ihn eventuell aufspüren könnte.
Bisher bin ich nur für kurze Zeit auf Reisen gegangen, aber wenn ich experimentiere, dann würde ich mich über längere Zeit dort aufhalten müssen und vielleicht kann Ador meine Spuren finden. Verdammt, ich wüsste zu gerne, wozu er wirklich in der Lage ist. Gibt es überhaupt Spuren in den Wegen? Und wenn dem so wäre, wie schwierig ist es, diesen zu folgen? Es gibt Muster, so viel ist klar, aber bisher konnte ich keine magischen Fußabdrücke anderer Wesen entdecken. Wenn man durch denselben Tunnel treibt, dann kann man andere Personen wahrnehmen. Das weiß ich schon seit Aspentor. Aber Ador kann gar nicht denselben Weg wie ich nehmen, denn dazu müsste er erst einmal wissen, wo ich mich aufhalte. Außerdem laufe ich nicht durch vorgegebene Tore, sondern erschaffe meine eigenen.
Und je länger Eryn darüber nachdachte, desto überzeugter wurde er, dass derartige Experimente gar nicht so gefährlich waren, wie er zunächst geglaubt hatte. Nach einer Weile stand sein Entschluss fest: Er würde es wagen.
Doch die Vorsicht darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Ich werde mir einen verlassenen Strand suchen. Dort, wo die Flut über den Sand spült und alle Spuren verwischt.
Sein Weg führte ihn nach Süden an eine felsige Küste, wo sich weit und breit kein menschliches Wesen aufhielt. Nur ein paar Möwen hatten in den zerklüfteten Felswänden ihre Nester gebaut und flogen auf der Suche nach Beute in Richtung Meer hinaus. Sie kreisten am Himmel und stießen ihre hässlichen Schreie aus. Eryn stand auf felsigem Untergrund und keine drei Schritte von ihm entfernt klatschten die Wellen gegen den Stein. Wenn eine größere Welle heranrollte, kam das Wasser bereits bis zur Hälfte des Plateaus, bevor es sich wieder zurückzog. Durch eine dunklere Färbung grenzte sich die überspülte Fläche deutlich von dem noch trockenen Bereich ab. Eryn ging nach vorne, bis er auf feuchtem Grund stand, dann öffnete er ein Tor.
Die folgenden Stunden verbrachte er mit unzähligen Versuchen und gewann erste Erkenntnisse.
Zurück auf seiner Insel machte er Aufzeichnungen und entwickelte Theorien. So vergingen die nächsten Tage und die anfänglichen Erfolge verschafften ihm ein Hochgefühl. Vor allem in jenem Moment, als es ihm gelang, die Haut der Wege so dünn über sich zu ziehen, dass er das Schreien der Möwen von draußen hören konnte. Zwar nur sehr gedämpft, doch es waren eindeutig Laute aus der realen Welt. Auch seine Sicht nach draußen war nun so scharf, als würde er durch eine klare Glasscheibe blicken. Sein Ehrgeiz beflügelte ihn dazu, eine weitere Theorie zu testen. Er versuchte, anstelle der dünnen Haut, die Magie in eine netzartige Struktur umzuwandeln. Doch dieses Netz war so empfindlich, dass es schon bei der leichtesten Bewegung auseinanderriss. Schließlich gab er diese Versuche mit einem Schulterzucken auf.
Die dünne Haut ist gut genug und ich bin in ihrer Handhabung so sicher, dass einem weiteren Besuch in Naganor nichts mehr im Wege steht.
Mittlerweile war es später Nachmittag und Eryn hoffte, Gannok draußen beim Spielen mit den anderen Kindern anzutreffen. So war seine erste Anlaufstelle der Hof. Aber weil es in Naganor regnete, befand sich niemand draußen. Darum trieb er weiter, bis er den Flur vor dem Zimmer der Kinder erreicht hatte, und dort fand er sie. Gannok stand mit ausgebreiteten Armen im Gang und versuchte die anderen Kinder am Vorbeikommen zu hindern. Es gelang ihm, Danian zu packen, während Asran und Carmina laut schreiend vorbeirannten. Da Danian gefangen worden war, war er als Nächster an der Reihe, nun die anderen aufzuhalten. Eryn zog sich ganz an das Ende des Flures zurück. Hier konnte er den Kindern bei ihrem Spiel ein wenig zusehen und natürlich wollte er sie auch hören. Mit der nötigen Vorsicht näherte er sich immer weiter der Barriere und dehnte sie dann vorsichtig aus. Dann kam der Moment, da er die spielenden Kinder hören konnte. Das war gar nicht so schwierig, denn sie schrien noch um einiges lauter als die kreischende Möwenschar.
„Bäh, kriegst mich nicht!“, spottete Asran und Danian forderte ihn heraus:
„Blödmann, Blödmann! Komm doch!“
„Ich renn jetzt los!“, zog Gannok die Aufmerksamkeit auf sich und machte dann einen Rückzieher: „Haha, oder doch nicht.“ Während Carmina die Gelegenheit nutzte und ihrerseits losspurtete.
Keine besonders intellektuelle Unterhaltung, urteilte Eryn nüchtern. Aber was konnte man von Kindern schon anderes erwarten. Allerdings freute er sich, dass alle zusammen so viel Spaß hatten.
Nun rannten auch Asran und Gannok los, und weil sie beide im letzten Moment an derselben Seite vorbeihuschen wollten, stießen sie zusammen und fielen hin. Danian nutzte seine Chance und warf sich noch oben drauf. „Hab euch! Alle beide! Ich bin der Sieger!“
Doch die zwei größeren Jungs schenkten ihm keine Beachtung, sondern beschimpften sich gegenseitig, während sie sich wieder aufrappelten. Danian jedoch gab nicht nach und schrie nun aus vollem Halse:
„Ich bin der Sieger und jetzt darf ich sagen, was gespielt wird! Wer zuerst unten bei der Tür ist, hat gewonnen!“ Dann rannte er auch schon los und die anderen setzten ihm nach.
Eryn wollte ihnen folgen, da passierte es. Die Haut zerriss und er stand plötzlich leibhaftig im Flur. Scheiße! Dabei waren die Kinder noch sein geringstes Problem, denn die rannten gerade um die Ecke herum, ohne dass sie einen Blick zurückwarfen.
Aber nach seinem ersten Fehler, machte Eryn gleich einen zweiten. Instinktiv riss er nämlich seine Schilde hoch. Ich Idiot, wenn der Alarm vorhin noch nicht ausgelöst worden ist, dann ist er jetzt mit Sicherheit losgegangen. Irgendwie erwartete er, gleich Prinz Raidens Stimme zu vernehmen. Doch bis der Herr von Naganor persönlich hier herüberkam, würde es ein paar Minuten dauern, und darum beschloss Eryn, erst einmal zu scannen, bevor er sich anschließend durch ein Tor in Sicherheit bringen würde. Der Sicherheitszauber offenbarte sich seinem magischen Auge. In stetig ungestörtem Fluss strömte er dahin und das war verwunderlich.
Nanu, der Alarm scheint gar nicht ausgelöst worden zu sein. Dann entdeckte er den kleinen Teil des Musters, welches seine Aura in den Sicherheitszauber mit einbezog und musste erleichtert lachen.
Bei den Göttern, er hat den Schutzzauber gar nicht modifiziert und somit habe ich zumindest hier immer noch uneingeschränkten Zugang, ohne dass der Alarm gleich losgeht. Heute sind Seiner Hoheit Vergesslichkeit und seine überaus große Schlampigkeit einmal meine Verbündeten.
„Wer als Erster oben ist!“, hörte man die Kinder von unten schreien und damit war es für Eryn höchste Zeit sich zurückzuziehen. Das tat er zunächst ganz unmagisch und verschwand durch die nächste Tür hinein in eine kleine Abstellkammer. Die war mit allerlei Putzsachen vollgeräumt und ein muffiger Geruch nach feuchten Lappen schlug ihm entgegen. Als er die Tür hinter sich zuzog, ließ nur noch ein dünner Spalt unter der Tür einen schmalen Streifen Tageslicht herein. Eryn blieb stehen, nur um nicht versehentlich über etwas zu stolpern.
Der Ort ist ideal. Im Gang draußen könnte doch mal jemand ein magisches Auge öffnen und nach verdächtigen Spuren suchen. Aber hier drinnen sucht sicherlich keiner nach den Überresten eines Tores, zumindest nicht Prinz Raiden. Was würde der auch mit Putzutensilien anfangen wollen, hähä. Dieser Platz gehört mit Sicherheit zu den Orten, die er üblicherweise meidet.
Dann kehrte Eryn auf seine Insel zurück.
Dass meine magische Aura noch mit dem Sicherheitszauber verwoben ist, macht alles erheblich einfacher. Denn nun weiß ich ziemlich genau, welche Zauber ich weben kann, ohne dass es von irgendjemandem bemerkt wird.
Fortan machte er täglich einen Abstecher nach Naganor, um Gannok heimlich zu beobachten. Doch von der Idee, den Jungen zu sich auf die Insel zu holen, nahm er Abstand.
Hier wäre er ganz alleine. Nun nicht gänzlich alleine, denn ich wäre ja bei ihm. Aber er hätte keine anderen Kinder zum Spielen. Später, wenn er älter ist, kann ich ihn immer noch herholen. Dann wird er das auch besser verstehen. Es ist nicht so, dass ich ihn im Stich lasse – ich raube ihm nur nicht seine glückliche Kindheit.
Gerade in diesem Moment wurde ihm sein ganzes Elend bewusst. Die nächsten Jahre über war er dazu verdammt, sein Leben in Heimlichkeit und Einsamkeit zu verbringen.
Solange ich Ador nicht die Stirn bieten kann, muss ich mich verstecken.
Die Vorstellung war frustrierend, denn nicht einmal Prinz Raiden konnte Ador das Wasser reichen. Aber dann schüttelte Eryn das Gefühl des Selbstmitleids ab und riss sich zusammen.
Ich bin ein Magier und ich werde meine Zeit damit verbringen, ein noch besserer Magier zu werden. Ach was sage ich, ein verdammt guter Magier will ich werden. Es gibt so vieles, was ich erforschen kann. Zunächst werde ich weiter die Wege studieren. Das kann schließlich nicht jeder, denn die Ader Gold ist selten.
Eryn werkelte in seinem Garten, was im Konkreten bedeutete, dass er das Wachstum der Pflanzen beschleunigte. Neben zahlreichen Kräutern und Gemüsesorten, hatte Eryn den Ehrgeiz, eine Obstplantage anzulegen. Er hatte sich bereits ein paar ausgewachsene Bäume durch die Wege herbeigeholt, doch einige Setzlinge hatte er auch direkt aus der reifen Frucht gezogen. Diese bedachte er nun täglich mit einer guten Portion Magie und die Bäume entwickelten sich rasant.
Sie sehen gut aus, urteilte er zufrieden und lächelte dann, als er an jenen kläglichen Versuch während seiner Prüfung zur vierten Stufe zurückdenken musste.
Bisher ist noch keiner meiner Schützlinge eingegangen. Langsam habe ich den Dreh raus. Vielleicht ist an mir doch ein Grüner verloren gegangen. Doch auch Gahaeris steht auf der Liste der Türme, denen ich mich nicht mehr freiwillig nähern werde.
Ein neues Blatt begann sich gelb zu färben und sofort drosselte Eryn die Magie. Das ist genug für heute. Zeit wieder nach oben zu gehen und mich den Studien zu widmen. Er schwebte die Felswand empor und suchte seinen bevorzugten Arbeitsplatz auf. Dort machte er es sich in einem Sessel gemütlich und nahm die Aufzeichnungen vom Vortag zur Hand. Er hatte inzwischen eine beachtliche Zahl an Feldversuchen durchgeführt, doch nun steckte er an einer Stelle fest und kam absolut nicht weiter.
Zu gerne würde ich hierzu in der Literatur nachlesen. Spontan fielen ihm ein paar Standardwerke ein, die Aufschluss geben könnten. Solche Werke befanden sich aber nur in den großen Bibliotheken der Magier – gut geschützt und nur für einen ziemlich eingeschränkten Personenkreis zugänglich.
Ich sollte meine eigene Bibliothek aufbauen, dachte Eryn aus einer Laune heraus. Dabei hatte er noch keinen Plan, wie er diesen hehren Wunsch in die Tat umsetzen sollte.
Vielleicht besorge ich mir Bücher aus Naganor. Doch dort kannten ihn zu viele Leute. Außerdem war es eine Sache, sich im Nebengebäude bei den Kindern aufzuhalten und eine ganz andere, den Hauptturm aufzusuchen, um dort in Meister Raidens ureigenem Arbeitszimmer herumzuschnüffeln.
Das findet er mit Sicherheit raus und die Bibliothek in der Garnison kommt auch nicht infrage. Da wird sogar Buch darüber geführt, wer rein und raus geht und wer was mitnimmt. Die anderen Türme sind sicherlich auch extrem gut abgesichert. Und wenn ich Vedi aufsuche?
Aber Vedis Palast befand sich in der Nähe von Elverin und Vedi hatte auch Kontakt zu Meister Ador.
Er muss mich noch nicht einmal mit Absicht verraten. Es genügt schon, wenn er sich verplappert oder, nicht auszudenken, wenn Ador ihn zwingt, Informationen über mich preiszugeben.
Verdammt, es muss doch auch noch irgendwo anders Bücher geben.
Diese Orte gab es tatsächlich und sie wurden Buchläden genannt. Dort verkauften zumeist unmagische Händler Bücher über alles Mögliche und es gab sie in jeder größeren Stadt.
Ja, auch die Unmagischen lesen, allerdings seltener Bücher über höhere Magie.
Trotzdem hoffte Eryn so zumindest ein paar Standardwerke der Magie erwerben zu können und das auf ganz legale Art und Weise.
Kurz darauf stand er auf dem Marktplatz einer großen Stadt im Süden des Kontinents. An seinem Gürtel hing ein Beutel mit all seinem Merett-Geld – ungefähr 100 Goldstücke. Wie ein gewöhnlicher Passant schlenderte er über den Markt und blieb dann vor einem der Stände stehen, wo es köstlich nach gebratenem Fleisch duftete. Dort kaufte er sich einen mittelgroßen Fleischspieß und fragte auch noch gleich nach dem nächsten Buchladen. Bereitwillig gab man ihm Auskunft und er fand das Geschäft auf Anhieb.
Drinnen roch es ein wenig muffig und Regale, vollgestopft mit Büchern, reichten bis unter die Decke. Dadurch wirkte der Raum noch ein wenig kleiner, als er ohnehin schon war. Eryn war der einzige Kunde und sofort kam ein kahlköpfiger, schmächtiger Mann auf ihn zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Nun, ich suche Bücher über Magie und fantastische Geschichten. Haben Sie etwas in diese Richtung?“
„Nicht allzu viel.“ Der Mann deutete auf einen Regalabschnitt und meinte:
„Hier steht alles, was ich zurzeit habe. Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
„Nein, eigentlich nicht, ich möchte mich nur etwas umsehen“, meinte Eryn und der Verkäufer zog sich wieder an das kleine Schreibpult im hinteren Teil des Geschäftes zurück, während Eryn sich daran machte, die Buchrücken zu studieren.
‚Der Kreis der Magie‘, also das sollte ich inzwischen wirklich beherrschen. ‚Geschichten über Nurin‘ – auch nicht gerade die Lektüre, die ich suche. Der nächste Einband war nicht beschriftet und so zog Eryn das Buch heraus, um zu sehen, worum es sich dabei handelte.
‚Zucht und Ausbildung edler Pferde‘, das hat definitiv nichts mit Magie zu tun und steht hier offensichtlich falsch. Das Buch wanderte wieder zurück an seinen Platz. Eryn arbeitete sich von einem Titel zum nächsten, doch noch hatte er nichts von Interesse gefunden. Dann fiel sein Blick auf den Text eines Einbandes, der ihn neugierig machte.
‚Die Zerstörung des Nimrods und was wirklich passierte‘, von Mikuss Mahak. Aha, mal sehen, was dieser Mikuss zu berichten weiß.
Schon auf der ersten Seite prahlte der Autor damit, Informationen aus erster Hand zu haben, und Eryn musste schmunzeln. Doch als er die Einleitung las, kam es noch besser:
‚Damit ein derart großes Wunder geschehen konnte, mussten drei unglaublich seltene Wesen aufeinandertreffen. Eine gelbe Riesenkröte, ein rosa Einhorn und die silberne Eule der Erleuchtung.‘ Aha? Also meines Wissens waren an dieser Aktion nur Menschen und Drachen beteiligt. Oder sind diese Bezeichnungen als Decknamen zu verstehen? Dann bin ich sicherlich die silberne Eule und die anderen können sich die Riesenkröte und das Einhorn teilen. Wenn man die Aktion im Ganzen betrachtet, waren da ohnehin mehr als drei Wesen beteiligt. Lieber Mikuss, lass dir gesagt sein, dein Werk ist kompletter Schund.







