Der Himmel über Nordfriesland

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Doch sie wollte nicht sterben. Sie versuchte, ihren Körper hin und her zu wälzen, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Aber der nasse Schlamm war wie eine zähe Klebemasse, die an ihr zerrte. Nach einiger Zeit gab sie auf. Wenn ihre Hände frei gewesen wären, hätte sie die Arme herausziehen können. Vielleicht wäre es ihr dann möglich gewesen, sich selbst auszugraben. Aber sie fühlte die eisernen Ringe um ihre Gelenke. Sie hatte keine Chance, sich zu befreien. Ihr blieb nichts anderes übrig, als um Hilfe zu rufen. Doch selbst wenn ihre Rufe bis zu einem Ufer drangen, war die Aussicht gering, dass sie zu so später Stunde erhört wurden. Und falls doch? Würde man sie finden? Auch das war unwahrscheinlich. Das Wattenmeer war riesig und die Nacht bei Neumond dunkel.
Diana Keller hob den Kopf ein weiteres Mal an. Das Sternenlicht spiegelte sich im herannahenden Meer. Sie hatte sich nicht verrechnet. Das Wasser im Priel stieg an und flutete das Watt. Noch erzeugte der Wind nur leichte Kräuselungen, aber bald würden die Wellen über sie hinwegschwappen. Wieder schrie sie aus vollem Hals, bis ihre Stimme versagte und in ein klägliches Wimmern überging. Es war Zeit loszulassen.
Diana Keller spürte, wie das kalte Nass an ihren Haaren bis zur Kopfhaut emporkroch. Bald musste sie Wasser schlucken. Sie nahm sich vor, sich nicht gegen ihr Schicksal aufzubäumen. Welch Ironie, dass sie auf diese Weise enden würde. Mit Blick auf die Sterne, die sie stets durch ihr Leben geführt hatten. Zunächst hatte sie die Astrologie lediglich als Hobby betrieben. Doch dann hatte sie sich intensiv damit beschäftigt und sie zum Beruf gemacht. Und jetzt geleiteten die Sterne sie in den Tod. Hatte der Attentäter das etwa beabsichtigt? Der Gedanke war ihr bisher nicht gekommen. Sie wischte ihn beiseite. Auch diese Überlegungen halfen ihr nicht weiter.
Ein Satellit zog seine Bahn gleichmäßig über den Himmel. Ein Meteor kreuzte das Sternbild Jungfrau. Vielleicht schaffte es der Meteorit, der das Leuchten erzeugte, bis auf den Erdboden und wurde von jemandem gefunden. Diana hatte eine kleine Sammlung solcher Fundstücke in ihrem Bücherregal liegen.
Bei einer Sternschnuppe durfte man sich etwas wünschen. Natürlich hatte sie nur den einen Wunsch, nämlich heil aus der Situation herauszukommen. Sie wollte ihre Tochter Lilian in den Arm nehmen. Das war alles. Doch sie schmeckte bereits das Salzwasser auf den Lippen, und das Meeresrauschen, das sie immer so geliebt hatte, kündigte ihren Tod an. An ihrem achtundvierzigsten Geburtstag!
4
»Sei still, Rocky«, murmelte Julia Niedermeyer und drehte sich auf die andere Seite. »Und du auch«, ergänzte sie und meinte ihren Mann Sebastian, der auf dem Rücken lag und schnarchte.
Rockys Quieken ging in Bellen über.
»Aus«, zischte Julia.
»Was ist?«, fragte Sebastian. Ohne auf eine Antwort zu warten, schnarchte er weiter.
»Nichts ist.«
Der Beagle gab keine Ruhe. Er winselte und rannte aufgeregt im Schlafzimmer umher. Schließlich legte er die Vorderpfoten auf die Bettkante und stupste Frauchen mit der kalten Schnauze im Gesicht an.
»Rocky, verdammt!«
Sebastian Niedermeyer richtete sich auf. »Was ist das für ein Zirkus hier?«
»Rocky hat irgendwas.« Julia schaltete die Nachttischlampe ein. Der Hund hatte sich immer noch nicht beruhigt. Er kratzte an der Tür und jaulte erbärmlich.
»Lass ihn raus. Vielleicht will er in den Garten.«
»Riechst du auch was?«, fragte Julia.
Sebastian Niedermeyer sog die Luft hörbar durch die Nase ein. »Das kommt von unten.«
»Also riechst du das auch? Das ist Qualm.«
»Die Keller hat wahrscheinlich wieder Räucherkerzen angezündet.«
»Um diese Zeit? Es ist drei Uhr in der Nacht.«
»Die tickt doch nicht ganz richtig. Wahrscheinlich hat sie wieder eine ihrer Nuancen. Tische rücken und so.«
»Séancen heißt das. Außerdem macht sie so etwas gar nicht, sondern ihre Tochter Lilian.«
»Von mir aus. Schlaf weiter.«
»Ich sehe mal nach.« Julia Niedermeyer wälzte sich aus dem Bett. Die Mittfünfzigerin öffnete die Schlafzimmertür. »Na geh schon«, forderte sie Rocky auf. Doch der bewegte sich nicht vom Fleck und bellte erneut.
Julia knipste die Flurbeleuchtung an. »Feuer!«, schrie sie aus voller Kehle, als sie sah, wie Rauchschwaden unter der Wohnungstür hindurchkrochen. Dann eilte sie an Rocky vorbei, der wie angewurzelt im Türrahmen stand. »Basti! Es brennt! Es brennt! Wir müssen raus hier!«
Endlich kapierte Sebastian Niedermeyer, was los war. Er sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Jeans und schnappte sich den Schlüsselbund. Der Qualm im Flur war unerträglich. Niedermeyer zog ein Taschentuch hervor und presste es an seinen Mund, während er die Eingangstür öffnete. Eine beißende Rauchwolke kam ihm entgegen. Sofort schlug er die Tür wieder zu.
»Da kommen wir nicht raus«, schrie er. »Wir müssen die Feuerwehr rufen!«
Julia Niedermeyer eilte ins Wohnzimmer. Hastig wählte sie die 112 und gab die notwendigen Informationen durch. Zurück im Schlafzimmer, schleifte ihr Mann den völlig verstörten Hund am Halsband hin zum Fenster.
»Mach die Tür zu! Wir müssen auf das Garagendach klettern.«
Niedermeyer zog den Vorhang beiseite und öffnete das Fenster. »Zuerst Rocky!« Er packte das Tier unterm Bauch und hob es über die Brüstung. Der Hund wehrte sich nicht. Gute zwei Meter waren es bis zum Garagendach. Rocky jaulte auf, als er auf die Kiesschüttung fiel, aber er schien den Fall unbeschadet überstanden zu haben.
»Jetzt du!« Niedermeyer streckte die Hand nach seiner Frau aus. Sie zögerte, ließ sich dann aber bewegen, auf die Fensterbank zu klettern. Mit den Füßen voraus hielt sie sich noch eine Zeit lang am Rahmen fest, bevor sie losließ. Sie landete unsanft, fiel hin, konnte sich jedoch wieder aufrappeln.
Niedermeyer drehte sich noch einmal um. Der Rauch erfüllte inzwischen den Raum. Aber noch schien die Erstickungsgefahr gering zu sein. Wichtige Papiere lagen im Kleiderschrank unter der Bettwäsche. Er riss die Schranktür auf und suchte danach. Viel zu lange benötigte er, bis er den Umschlag in Händen hielt. Der beißende Qualm war dichter geworden und brannte in den Augen. Niedermeyer beugte sich vor und hustete. Er schleppte sich zum Fenster und warf den Umschlag bis auf das Nachbargrundstück. Dann wagte auch er den Sprung auf das Garagendach und überstand den Aufprall mit Abschürfungen an Händen und Armen. Noch etwas benommen, richtete er sich auf, atmete tief durch und hangelte sich an der Dachkante hinunter, bis er mit den Füßen den Palisadenzaun des Nachbarn und schließlich festen Boden erreichte. Seine morgendlichen Fitnessübungen zahlten sich aus. Er öffnete das Garagentor, holte eine Leiter heraus und stellte sie so an das Gebäude, dass seine Frau mit Rocky hinunterklettern konnte.
Die Vermieterin!, schoss es ihm durch den Kopf. War die Astrologin noch im Haus? Er sprintete zum Hauseingang, zog seinen Schlüsselbund hervor und fingerte am Schloss. Noch bevor er die Tür öffnen konnte, hörte er das Martinshorn der Feuerwehr. Wenig später sprangen die Männer in ihren Schutzanzügen aus den Fahrzeugen. Sebastian Niedermeyer war froh, dass er ihnen das Feld überlassen konnte. Mit zitternden Knien ging er zur Straße, wo Sanitäter seine Frau behandelten. Rocky stürmte auf ihn zu und ließ sich kraulen. Der brave Hund hatte Julia und ihm das Leben gerettet.
***
Helenas Tagebuch, 20. Juli
Markus ist wieder zum Tennisspielen, und ich kann in Ruhe etwas aufschreiben. Gestern hat er mich geschlagen. Nein, das stimmt so nicht. Er hat mich geschüttelt, bis mir schwindelig wurde und ich Kopfschmerzen bekam. Nur weil ich ihm erzählt habe, dass ich für Anna neue Schuhe und einen bunten Pyjama mit Mond und Sternen gekauft habe. Dabei waren die Sachen gar nicht teuer. Sie waren im Angebot. Er hat sich die Sachen nicht einmal angesehen.
Ich war den ganzen Tag über traurig. Aber jetzt geht es mir besser. Morgen treffe ich mich mit BB. Markus sage ich, dass ich bei Petra bin. Ich werde den Bus nehmen. Wegen der Tabletten darf ich nicht mit dem Auto fahren, auch wenn ich sie nicht mehr jeden Tag nehme. Sie machen mich müde. Ich hab mir von Mila ein Horoskop aus der Ferne erstellen lassen. Merkur ist in den Krebs gewechselt, und die Venus nimmt Opposition zu Pluto ein. Die Sonne steht ab 23. Juli im Löwen. Die Woche verspricht gut zu werden. Mila hat mir das versprochen. Ich freue mich auf den Abend mit BB.
5
Diana Keller hatte davon gehört, dass das gesamte Leben im Angesicht des Todes im Zeitraffer vor dem inneren Auge ablief. Bei einem plötzlichen Unfall mochten die Erinnerungen zu Sekunden komprimiert sein. Doch bei ihr lief der Film über Minuten ab, denn ihr Tod nahte langsam, aber unerbittlich. Glückliche Tage ihrer Kindheit tauchten auf, Ereignisse, die belanglos waren, aber doch bedeutend genug, dass sie einen Weg in ihr Gedächtnis geschafft hatten. Die Rettung ihrer Katze Susie, die durch die Feuerwehr von einem Baum geholt werden musste, der Lenkdrachen, der sie beim Absturz am Kopf verletzt hatte, und die Torte, die ungenießbar gewesen war, weil sie ihrer Mutter Salz statt Zucker gereicht hatte. Auch ihr verstorbener Mann Günther erschien. Der Tag, als sie sich im Multimar Wattforum kennengelernt hatten, ihre Fahrt mit dem Wohnmobil durch Norwegen, auf der Lilian gezeugt worden war, und die schweren Monate seiner Krankheit. Lilians erster Schultag, ihr Krankenhausaufenthalt nach dem Hundebiss und Lilians Umzug in die eigene Wohnung. All das und weitere Erlebnisse kamen an die Oberfläche, ungeordnet, als gäbe es keine Zeit.
Aus dem Augenwinkel sah Diana ein Licht. Sie drehte den Kopf. Salzwasser floss in ihren Mund. Sie hustete und würgte es wieder heraus. Noch einmal hob sie ihren Oberkörper so weit wie möglich an. Der Lichtpunkt bewegte sich! Und er wurde größer. Ein Boot! Sie war sich ganz sicher. Noch war es zu früh, um laut zu rufen. Sie musste ihre Kräfte schonen. Das Licht wurde mal heller, mal dunkler, so wie beim Schwenk eines Scheinwerfers. Bildete sie sich das ein, weil sie es sich sehnlichst wünschte, oder war man auf der Suche nach ihr?
Minuten vergingen. Endlich hörte sie Motorengeräusche. »Hier bin ich!«, rief sie. Dann übermannte sie die Erschöpfung, und ihr Kopf fiel zurück ins Wasser. Nur noch einen Augenblick ausruhen. Nur noch einen winzigen Augenblick, dann würde sie sich aufbäumen und auf sich aufmerksam machen. Sie würde so laut schreien, dass niemand sie überhören konnte.
Eine Welle tauchte ihr Gesicht vollständig unter. Die Bugwelle eines Bootes, hoffte sie. Als sie die Augen wieder öffnete, traf sie das grelle Scheinwerferlicht. Anstatt laut zu rufen, flüsterte sie nur »Danke«, ohne zu wissen, wem sie danken sollte, dem Himmel, den Rettern oder dem Schicksal. Sie vernahm, wie der Motor gedrosselt wurde. Eine zweite Welle schwappte über sie hinweg, die sie aber nicht in Angst versetzte, sondern für Erleichterung sorgte. Männerstimmen ertönten, jemand erteilte Kommandos. Menschliche Silhouetten tauchten vor ihren Augen auf. Eine Frau redete auf sie ein. Diana Keller verstand sie nicht. Aber sie wusste, dass alles gut werden würde. Sie hörte noch: »Grabt schneller!« Dann verblasste das Licht, und alle Geräusche verstummten.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem Krankenwagen, versorgt mit Atemmaske und Tropf. Trotz der Wärmedecke war ihr entsetzlich kalt. Der Geschmack des Salzwassers hatte sich in ihre Zunge eingebrannt, ebenso wie sich das schreckliche Erlebnis in ihre Seele gefressen hatte. Sie würde die Stunden des Horrors nie vergessen. Die Erinnerung daran würde sie ein Leben lang begleiten. Das war ihr bereits in diesem Moment klar. Aber sie lebte!
***
Am Morgen landete der Bericht der Wasserschutzpolizei auf Flottmanns Schreibtisch. Noch konnte er nicht ahnen, dass der Fall ihn an seine psychischen Grenzen bringen würde. In den Jahren als Leiter des Dezernats Tötungsdelikte in Bonn hatte er wiederholt in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt. Nach und nach war ihm die Belastung zu groß geworden. Nach seiner Scheidung hatte er sich nach Husum versetzen lassen. Die Bezahlung auf dem neuen Posten war mies, aber dafür würde er in Nordfriesland eine ruhige Kugel schieben – hatte er gedacht. Während er in dem Bericht blätterte, schüttelte er unablässig den Kopf.
»Was ist los?« Hilgersen ließ seinen Schreibtischstuhl rotieren. »Die Sache im Watt?«
»Ja. Woher weißt du davon?«
»Jeder hier, der frühzeitig zum Dienst kommt, weiß davon.«
Flottmann überhörte Hilgersens Spitze. »Wer tut so etwas?«
»Wenn wir das wüssten, wäre der Fall gelöst. Die Hilferufe der Frau wurden von einem Touristen auf Nordstrand gehört. Er konnte in der Nacht nicht schlafen, weil er Zahnschmerzen hatte. Deshalb ist er aufgestanden und um drei Uhr zum Strand spaziert. Seine Zahnschmerzen haben der Frau das Leben gerettet. Manchmal geht das Schicksal merkwürdige Wege.«
»Schicksal?«
»Ja. Oder wie würdest du das nennen?«
»Zufall. Ein glücklicher Zufall. Glücklich, wenn man mal von den unangenehmen Zahnschmerzen absieht. Wie haben die Kollegen sie gefunden?«
»Sie wurde in der Nähe des Heverstroms im Schlick vergraben. Die Kollegen sind das Fahrwasser mit Suchscheinwerfern abgefahren. Wäre sie abseits des Wattstroms verbuddelt worden, hätte man sie sicher nicht entdeckt.«
»Der Täter oder die Täterin hat sie mit einem Boot dorthin gebracht, nehme ich an.«
»Klar. Davon können wir ausgehen. Und er muss ganz schön mit Schlick besudelt gewesen sein, als er fertig war. Wenn er seine Kleidung nicht inzwischen gewechselt hat, müsste er leicht zu identifizieren sein.«
»Ich bewundere immer wieder deinen Scharfsinn, Gustl.«
»Nur keinen Neid, bitte. Diana Keller ist übrigens Astrologin.«
»Ist das ein Beruf?«
»Damit kann man viel Geld verdienen.«
»Humbug ist das. Im Bericht steht, dass sie in die Klinik gebracht wurde. Wir sollten sie so bald wie möglich befragen. Ich werde mit Lena telefonieren und mich bei ihr erkundigen, wie es der Patientin geht.« Flottmann griff zum Hörer. Seine Lebensgefährtin war sofort am Apparat.
»Wenn du um diese Zeit anrufst, kann ich mir schon denken, warum.«
»Äh – ich wollte nur wissen, wie es dir geht.«
Lena Abendroth lachte. »Gut.«
»Und der Patientin aus dem Watt? Diana Keller?«
»Bis auf ein paar Abschürfungen äußerlich ohne weiteren Befund. Aber was sie erlebt hat, wird ganz sicher Spuren hinterlassen. Was genau passiert ist, weiß ich nicht. Aber es muss schlimm gewesen sein. Ihre Tochter ist gerade bei ihr.«
»Wann können wir sie befragen?«
»Ich sag dem behandelnden Arzt Bescheid, dass er dich anruft. Dr. Klemens ist das.«
»Danke, Lena. Bleibt es bei unserem Treffen am Freitag?«
»Ja, natürlich, Herr Hauptkommissar.«
Flottmann hasste es, wenn sie ihn so nannte. Je mehr er das zu erkennen gab, umso mehr neckte sie ihn damit.
»Bis dann.«
»Bis dann, Waldemar.«
Eine Stunde später rief der Arzt an. Die Patientin sei so weit stabil, einer Befragung stünde nichts im Weg.
»Heute Nachmittag können wir zu ihr«, sagte Flottmann zu Hilgersen.
»Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest. Ein Brand im Stadtweg. Ist gerade reingekommen.«
»Muss warten.«
»Das Haus gehört Diana Keller.«
»Nee!«
»Doch!«
»Das kann ja wohl kein Zufall sein.«
»Nee.«
»Die Kollegen vom K1?«
»Übernehmen den Fall. Aber wir dürfen mitmischen, bis wir zurückgepfiffen werden.« Hilgersen grinste. Er wusste, dass Flottmann sich mit dem Leiter des Kommissariats 1 in Flensburg, Dirk Hofmann, nicht gerade gut verstand. Flottmann konnte insbesondere dessen Arroganz und Überheblichkeit nicht ausstehen. Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit, aber beide waren Profis genug, um daraus keine Behinderung der Zusammenarbeit entstehen zu lassen.
Flottmann schaute auf seine Armbanduhr. »Wir sollten uns die abgebrannte Wohnung ansehen. Kommst du mit?«
»Das wollte ich auch gerade vorschlagen.«
Eine Viertelstunde später trafen Flottmann und Hilgersen vor dem Zweifamilienhaus ein. Das Grundstück war mit Flatterbändern abgesperrt. Auf der Straße standen ein Einsatzwagen der Feuerwehr und ein Streifenwagen. Polizeiobermeister Thomas Jensen empfing die beiden.
»Moin. Sieht nach Brandstiftung im Erdgeschoss aus«, sagte er. »Der Sachverständige kommt heute Nachmittag. Der wird das vermutlich bestätigen. Die Feuerwehr konnte verhindern, dass das Feuer in das Obergeschoss übergriff. Aber auch dort ist der Schaden durch Ruß und Löschwasser natürlich beträchtlich. Die Mieter sind in ein Hotel umgezogen.«
»Gibt es Einbruchspuren?«, fragte Flottmann.
Jensen schüttelte den Kopf.
»Die Kriminaltechniker haben sich schon angekündigt«, sagte Hilgersen. »Die werden das genau untersuchen.«
»Okay, dann gehen wir mal rein.«
Hilgersen hob das Flatterband an, und die Kommissare liefen den Gartenweg entlang zum Haus. Die schwere Eingangstür aus Holz stand offen. Im Flur empfing sie ein penetranter Brandgeruch. Sie nahmen kurz das Wohnzimmer in Augenschein, das bis auf den Teppichboden von den Flammen verschont geblieben war. Der eigentliche Brandherd befand sich in einem Raum, der offenbar als Arbeitszimmer gedient hatte. Ein Metallregal mit Resten von Aktenordnern und ein verkohlter Schreibtisch zeugten davon. Auch ohne den Sachverstand eines Experten war zu erkennen, dass Brandbeschleuniger verwendet worden war. Insbesondere die Ordner und deren Inhalt mussten damit getränkt worden sein.
»Jemand wollte gezielt die Unterlagen vernichten«, sagte Hilgersen.
»Das sieht so aus.« Flottmann ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Mit einem Kopfnicken deutete er auf einen Bildschirm. Der Kunststoffrand war in der Hitze geschmolzen, und die Mattscheibe war schwarz von Ruß. Er nahm den ebenfalls zusammengeschmolzenen Stecker des Monitors in die Hand. »Der Computer wurde gestohlen. Vermutlich ein Laptop. Was können wir daraus schließen?«
»Dass es eine Verbindung zwischen einem ihrer Kunden und der Tat geben könnte.«
»Richtig. Und warum gibt es keine Einbruchspuren?«
»Weil der Täter Diana Keller die Schlüssel abgenommen hat.«
»Ich bin stolz auf dich, Gustl.«
»Ach was! So etwas schüttel ich doch aus dem Ärmel. Und das Profil des Täters dazu. Männlich, intelligent, ledig oder geschieden, zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahre alt, besitzt ein Motorboot, kennt sich mit Ebbe und Flut aus und trägt gelbe Gummistiefel.«
»Gelbe Gummistiefel? Hat man Spuren im Watt gefunden? Im Bericht stand nichts darüber.«
»Die wird die Flut wohl bis zur Unkenntlichkeit beseitigt haben. Okay, das mit den gelben Gummistiefeln entstammt lediglich meiner Intuition. Ich hab mir bildhaft vorgestellt, wie der Täter das Opfer mit einem Spaten eingräbt, ohne sich die Schuhe zu versauen und die Zehen abzuhacken. Na ja, und die meisten Stiefel hier im Norden sind doch gelb, oder?«
Flottmann lachte. »Intuition ist eine gute Sache. Ich spreche aus Erfahrung. Aber sich mit Gummistiefeln im Schlick fortzubewegen ist, soweit ich weiß, nicht gerade optimal.«
»Stimmt, aber der Täter könnte trotzdem welche angehabt haben.«
»Einverstanden. Und sein Motiv? Ein Horoskop, das sich nicht erfüllt hat? Oder eine Prophezeiung, die ihm nicht gepasst hat?«
»Ist wohl eher unwahrscheinlich.«
Flottmann nickte. »Gut. Überlassen wir die Wohnung der Spurensicherung. Mit den Mietern, die den Brand entdeckt haben, müssen wir noch sprechen.«
»Ihr Hund hat Alarm geschlagen. Laut Bericht um drei Uhr fünfzehn. So ein Tier ist besser als ein Rauchmelder. Dein Kater hätte wahrscheinlich nur den Schwanz eingezogen.«
»Vergiss nicht, dass auch er mir schon einmal das Leben gerettet hat.«
»Stimmt. Ganz unbeteiligt war ich allerdings nicht dabei.«
»Das hab ich auch nicht vergessen.« Flottmann klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Es ist noch etwas zu früh, aber wir könnten jetzt trotzdem zur Klinik fahren.«
Die beiden inspizierten oberflächlich die anderen Räume des Hauses und brachen anschließend zum Krankenhaus auf. Nur fünf Minuten benötigten sie bis zum Parkplatz am Erichsenweg.
Diana Keller war nicht in ihrem Zimmer. Nach Angaben eines Pflegers wartete sie im »Patientencafé« der Klinik, das im Erdgeschoss lag. Als sie dort ankamen, waren nur drei Tische besetzt. Flottmann ging auf eine Frau zu, die alleine saß und vom Alter her zu passen schien. Sie hatte kurzes braunes Haar, ein schmales Gesicht und eingefallene Wangen. Zu den Jeans trug sie ein weißes T-Shirt.
»Frau Keller?«
Sie nickte.
»Kriminalpolizei Husum. Mein Name ist Flottmann, das ist Herr Hilgersen.« Die beiden Männer setzten sich zu ihr.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Flottmann.
»Ich bin so weit okay. Man kümmert sich um mich. Morgen hab ich ein Gespräch mit einer Psychologin. Außerdem besucht mich meine Tochter.«
»Sind Sie in der Lage, uns den genauen Hergang zu schildern?«
»Ja.« Sie griff zu ihrer Kaffeetasse.
Flottmann bemerkte, dass ihre Hand zitterte.
»Es war grauenhaft«, begann sie und setzte die Tasse wieder ab, ohne daraus zu trinken. »Ich kam von einer Kundin. Mein Auto hatte ich auf dem Parkplatz ›Neue Freiheit‹ abgestellt. Mir fiel auf, dass es nicht verschlossen war. Ich hab mir aber nichts weiter dabei gedacht. Als ich am Steuer saß, schnellte plötzlich eine Hand von hinten vor, drückte mir den Mund zu und betäubte mich mit einer Spritze. Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Boot. Jedenfalls fühlte sich das so an. Aber ich war nur kurz bei Besinnung. Aus dem Augenwinkel hab ich eine vermummte Gestalt wahrgenommen, bevor ich erneut betäubt wurde. Mit einem Tuch, das nach Äther roch.«
»Können Sie etwas über das Auto sagen, das der Entführer benutzt hat? Über das Boot? Oder vielleicht über den Entführer?«
»Nein. Gar nichts. Das Auto hab ich nicht gesehen. Im Boot hab ich auf dem Boden gelegen. Klein muss es gewesen sein. Ich glaube, ich hab auch Motorengeräusche gehört. Über den Mann weiß ich gar nichts. Groß war er wohl und trug eine dunkle Maske. Eine Skimaske könnte es gewesen sein. Ich bin dann erst wieder aufgewacht, als ich im Watt lag. Zuerst hab ich gar nicht kapiert, was los war. Aber dann …« Sie stockte. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Lassen Sie sich Zeit, Frau Keller«, sagte Hilgersen. »Ich hole uns inzwischen einen Kaffee. Möchten Sie auch noch etwas?«
Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mit der Hand die Tränen ab.
»Du? Kaffee, Tee?«, fragte er Flottmann, während er aufstand.
»Nein, danke.«
Erst als Hilgersen wieder am Tisch saß, fuhr Diana Keller mit ihren Schilderungen fort. Nachdem sie fertig war, senkte sie den Kopf. Ihr war anzumerken, dass sie versuchte, weitere Tränen zu unterdrücken.
Sie lachte gequält. »Ich hab heute Geburtstag. Meine Rettung ist wohl ein Geschenk des Himmels.«
»Wir müssen Ihnen nun einige Fragen stellen, Frau Keller«, sagte Flottmann.
Sie nickte.
»Sind Sie verheiratet?«
»Verwitwet. Schon seit einigen Jahren.«
»Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihnen das angetan haben könnte?«
»Nein, absolut nicht. Ich habe niemandem etwas getan.«
»Könnte die Tat mit Ihrem Beruf zusammenhängen? Sie sind Astrologin?«
»Ja. Schon seit fast zwanzig Jahren. Es hat nie Probleme gegeben. Wenn jemand mit meiner Arbeit nicht zufrieden war, erhielt er das Geld zurück. Aber das kam nur selten vor. Vielleicht zwei- oder dreimal, soweit ich mich erinnere.«
»Wir haben leider noch eine schlechte Nachricht für Sie.«
»Was kann das schon sein?«
»Es hat einen Brand in Ihrer Wohnung gegeben.«
Sie lehnte sich zurück und seufzte. »Was ist mit meinen Mietern?«
»Sie konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Der Schaden am Haus scheint begrenzt zu sein. Aber Sie können noch nicht dorthin zurück. Haben Sie Verwandte oder Bekannte, bei denen Sie unterkommen können?«