Der Himmel über Nordfriesland

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»Zur Not bei meiner Tochter. Aber sie hat nur eine kleine Mietwohnung. Auch mein Bruder und seine Familie würden mich bestimmt eine Zeit lang aufnehmen.«
»Hat der Entführer Ihnen die Haustürschlüssel abgenommen?«, fragte Hilgersen.
»Ja, sehr wahrscheinlich. Ich hatte sie in meiner Hosentasche. Und sie sind verschwunden.«
»Der Einbrecher, der das Feuer in Ihrem Haus gelegt hat, hatte es offenbar gezielt auf Ihre Kundendaten abgesehen. Ich nehme an, dass Sie die in Ihrem Regal aufbewahrt hatten.«
»Ja. Auch ein Rechnungsordner war darin. Allerdings mit nur wenig Schriftverkehr, da die meisten Kunden bar bezahlen.«
»Hatten Sie einen Computer in Ihrem Arbeitszimmer?«, fragte Flottmann.
»Einen Laptop.«
»Der wurde gestohlen. Vermutlich auch, um jeden Hinweis auf eine geschäftliche Beziehung mit dem Täter zu tilgen. Auch deswegen vermuten wir, dass das Motiv mit Ihrem Beruf zusammenhängt. Hat es irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle in dem Zusammenhang gegeben?«
»Nein. Es war alles normal.«
»Wir möchten Sie bitten, eine Liste mit Ihren Kunden zu erstellen, soweit es Ihnen möglich ist.«
»Viele Namen hab ich nicht im Kopf. Von manchen kenne ich nur die Vornamen. Aber ich werde es versuchen. Die meisten meiner Kunden sind Frauen.«
»Okay. Schicken Sie die Liste an meine E-Mail-Adresse. Und falls Ihnen noch etwas zum Täter einfällt, rufen Sie uns bitte an.« Flottmann zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Rollwagen neben dem Bett. »Informieren Sie uns bitte, wo Sie unterkommen. Vielen Dank und alles Gute, Frau Keller.«
Flottmann und Hilgersen verabschiedeten sich.
6
Diana Keller wurde nach nur zwei Tagen auf eigenen Wunsch aus dem Krankenhaus entlassen. Da ihre äußeren Wunden gut verheilten, hatte sie keinen Grund mehr gesehen, dort zu verweilen. Lilian holte sie mit dem Auto ab. Sie hatte ihr zum Empfang sogar einen Kuchen gebacken. In der kleinen Wohnung, die sich im Erdgeschoss eines Häuserblocks in Bahnhofsnähe befand, würde es etwas eng werden. Aber beide hatten sich vorgenommen, keine Probleme aufkommen zu lassen.
Mutter und Tochter saßen zusammen und tranken Kaffee. Lilian hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Für ihre Mutter war sie immer noch das Kind mit Pferdeschwanz und Sommersprossen, obwohl diese inzwischen verschwunden waren.
»Ich bin so froh, dass du hier bei mir bist«, sagte Lilian. »Als du im Krankenhaus warst, ist mir erst so richtig klar geworden, dass wir beinahe nie mehr hätten miteinander reden können.«
»Sehr viel haben wir in den vergangenen Jahren sowieso nicht gesprochen.«
»Ich weiß. Immer glaubte ich, es wäre noch genügend Zeit dafür. Aber so zu denken ist ein Fehler. Eigentlich hätte ich auch Papa noch vieles sagen wollen. Doch dann kam seine Krebserkrankung, und irgendwie habe ich den richtigen Zeitpunkt verpasst.«
»Mir ist es nicht viel anders gegangen, Lili. Und als ich hilflos im Watt lag, hab ich an dich gedacht. Das hat mir Mut gegeben. Ich hoffte inständig, dich wiederzusehen. Wie durch ein Wunder ist es so gekommen. Und nun sitzen wir hier beisammen.« Diana tätschelte Lilians Hand. Sie konnte die Tränen nur mühsam zurückhalten.
»Dass ich mit achtzehn ausgezogen bin, habt ihr mir sehr übel genommen, nicht wahr?«
»Wir haben uns Sorgen gemacht.«
»Wegen Florian?«
Diana nickte. »Aber du warst verliebt. Es hat etwas gedauert, bis wir verstanden, dass wir dich nicht mehr erreichen konnten. Trotz seiner Drogensucht hast du zu ihm gehalten. Das war in Ordnung.«
»Er war ein Mistkerl und hat mir später nur noch auf der Tasche gelegen, bis ich ihn rausgeschmissen habe.«
»Das musstest du selbst feststellen.«
»Sehr lange hab ich nicht dafür gebraucht.« Lilian schenkte Kaffee nach. »Den nächsten Schock hab ich euch versetzt, als ich mein Betriebswirtschaftsstudium hingeschmissen habe.«
»Auch das war deine Entscheidung, die wir akzeptieren mussten. Du hast auch so deinen Weg gemacht. Du bist doch zufrieden in deinem Job, oder?«
»Ja, bin ich.«
Beide schwiegen eine Weile.
»Dein Kuchen schmeckt übrigens großartig«, sagte Diana. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut backen kannst. Von mir hast du das nicht gelernt.«
»Dann muss das wohl in den Genen liegen.« Lilian lachte. »Genauso wie mein Faible für Übersinnliches.«
»Bist du immer noch mit den Geisterjägern unterwegs?«
»Wir untersuchen paranormale Vorkommnisse. So nennen wir unsere Unternehmungen.«
»Du glaubst doch nicht wirklich an Geister?«
»Du glaubst ja auch, dass die Sterne und Planeten unser Schicksal bestimmen.«
»Das ist etwas anderes.«
»So?«
»Ich mach mir halt wieder einmal Sorgen um dich.«
»Du um mich? Irgendein Verrückter hat dich entführt und hätte dich beinahe umgebracht. So wie es aussieht, hat der Anschlag auf dein Leben mit deinem Job zu tun. Meine ›Geister‹ sind dagegen völlig harmlos. Außerdem bist du nicht ganz unschuldig an meinem Hobby.« Bei den letzten Worten grinste Lilian. »Du hast mich damals mit auf die Esoterikmesse genommen. Dort habe ich Christoph kennengelernt. Seitdem bin ich dabei. Wir sind eine nette Gemeinschaft von vier Leuten. Am Wochenende sind wir wieder unterwegs. In einem alten Bunker in der Nähe von Heide. Da sind wir schon einmal gewesen. Bernd hat an dem Ort fremde Energien gespürt. Das hat er jedenfalls behauptet. Mal sehen, was das gibt. Spannend ist es in jedem Fall. Vielleicht werden wir auch irgendwann die Erlaubnis erhalten, das Schloss zu erforschen.«
»Das Schloss vor Husum?«
»Ja. Das wäre eine coole Sache. Ich schreibe übrigens alle unsere Erlebnisse in einem Blog nieder. Den musst du dir mal ansehen.«
»Das werde ich machen.« Diana Keller trank einen Schluck Kaffee und nahm sich ein weiteres Stück Pflaumenkuchen.
»Willst du die Astrologie eigentlich weiterbetreiben?«, fragte Lilian. »Jetzt, nachdem das passiert ist?«
»Zunächst muss ich mich natürlich um die Versicherung und das Haus kümmern. Ich weiß auch gar nicht, was mit den Niedermeyers wird. Sie wohnen zurzeit in einem Hotel. Aber dort können sie ja nicht ewig bleiben. Ich möchte sie keinesfalls als Mieter verlieren. Sie sind nett, und ihr Hund Rocky ist mir ans Herz gewachsen.«
»Ich kann dir bei allem helfen, Mama. Wir kriegen das schon geregelt.«
»Danke. Wenn alles erledigt ist, würde ich gerne wieder ins Geschäft einsteigen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Anschlag auf mich mit meinem Job zu tun hat.«
»Jemand hat deine Unterlagen und beinahe das ganze Haus abgefackelt. In derselben Nacht, in der du entführt wurdest. Und er ist mit deinem Schlüssel eingebrochen. Einen eindeutigeren Zusammenhang gibt es ja wohl nicht. Solange der Täter nicht gefasst ist, bist du immer noch in Gefahr.«
»Die Polizei hat versprochen, hier verstärkt Streife zu fahren.«
»Man wird dich nicht Tag und Nacht bewachen können.«
»Ich werde abends nicht mehr rausgehen. Also mach dir keine Sorgen um mich. Pass lieber auf dich selbst auf, Lili.«
Plötzlich lief Diana Keller ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Völlig unvermittelt tauchten Bilder vor ihren Augen auf. Wellen mit Schaumkronen, die Milchstraße, Scheinwerferlicht. Ähnlich wie bei einem Stroboskop blitzten die Bilder auf und verschwanden wieder.
»Was ist mit dir?« Lilian musste das Entsetzen in Dianas Augen gesehen haben.
»Nichts, mein Liebes. Es ist nichts. Ich werde eine Schlaftablette nehmen und früh ins Bett gehen.«
»Ich hab mein Arbeitszimmer für dich hergerichtet. Das brauche ich zurzeit nicht.«
»Danke dir.«
Erneut schossen Diana Szenen ihres Martyriums durch den Kopf. Sie stand auf und ging zum Fenster, um ihre Gefühlsregungen vor ihrer Tochter zu verbergen. Draußen auf der Straße sah sie einen Streifenwagen. Die Beamten waren zu ihrem Schutz abgestellt worden. Sie konnte also beruhigt sein.
Diana schlief schlecht in dieser Nacht. Stundenlang lag sie wach. Immer wieder spulte sie das schreckliche Erlebnis innerlich ab und grübelte über die Frage nach, weshalb der Täter sie für sein sadistisches Spiel ausgewählt hatte. Die Brandstiftung legte tatsächlich nahe, dass ihn die Unterlagen hätten verraten können. Auch wenn sie nur wenige Kunden mit vollem Namen kannte, so waren ihr doch einige Gesichter in Erinnerung geblieben. Da war der Geschäftsmann, der mit einem Jaguar vorfuhr und den günstigsten Zeitpunkt für die Eröffnung einer Filiale wissen wollte. Eine ältere Frau kam mehrmals, um zu erfahren, ob ihr Stiefsohn des Erbes würdig sei, obwohl er wegen Drogendelikten verurteilt worden war. Und eine junge Frau, Mandy hieß sie, wollte wissen, ob ihr Verlobter der richtige Mann für sie war. Es gab viele weitere merkwürdige Besuche. Vielleicht hatte sie den einen oder anderen Kunden enttäuscht. Aber Gründe für einen Mord hatte sie niemandem geliefert.
Nachdem sie endlich eingeschlafen war, quälten sie absurde Alpträume. Gegen sechs Uhr wachte sie auf und wälzte sich aus dem Bett. Der Streifenwagen der Polizei stand immer noch auf der Straße. Auf die Beamten war Verlass. Niemand würde ihr etwas antun können. Sie legte sich aufs Bett und schloss die Augen, um noch ein wenig zu dösen.
***
Helenas Tagebuch, 17. August
Heute geht es mir gut. Der Abend mit BB am letzten Wochenende war wunderschön. Ich zehre noch davon. Nie macht er mir irgendwelche Vorwürfe. In seinen Armen fühle ich mich geborgen. Löwe und Schütze passen eigentlich nicht gut zusammen. Aber davon bemerke ich bisher nichts. Wir reden viel und streiten selten. Unsere Zeit ist zu kostbar für einen Streit. Manchmal diskutieren wir über das Leben. Manchmal auch über das Sterben und den Tod. BB glaubt nicht, dass unser Schicksal vorherbestimmt ist. Aber ich tue das. Und ich glaube an die Synchronizität zwischen den Himmelsereignissen und den irdischen Geschehnissen, so wie Mila Hus mir das erklärt hat. BB will auch davon nichts wissen. Doch das ist nicht schlimm. Die Liebe verbindet uns, das ist das Wichtigste, und sie wird von Tag zu Tag stärker. BB ist die beste Therapie für mich. Er ist so viel älter und weiser als ich, auch wenn er bestimmte Dinge nicht sehen will. Wenn wir diskutieren, wird er oft ungehalten. Ich muss dann immer lachen, weil seine Stimme in solchen Momenten tiefer klingt als sonst. BB kann ein echter Brummbär sein. Aber ich liebe ihn so, wie er ist. Und er liebt mich. Unsere Liebe wird über den Tod hinaus bestehen bleiben. So wie die zu Anna nie enden wird.
7
Wie fast jeden Tag kam Flottmann später ins Büro als Hilgersen.
»Mahlzeit«, empfing dieser ihn.
»Hast du schon Hunger?« Flottmann ließ seine Tasche auf den Boden fallen, setzte sich und schaltete den Computer ein.
»Ich war heute Morgen schon am Tatort.«
»Draußen im Watt?«
»Nee, am Teich.«
»An welchem Teich?«
»Na, da, wo das Wasser verschwunden ist.«
»Ach so. Und? Hast du neue Erkenntnisse?«
»Nein.«
»Dann hättest du ja auch nicht so früh aufstehen müssen.«
»Klookschieter!« Hilgersen wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.
Flottmann rief seine E-Mails ab. Diana Keller hatte die Liste mit ihren Kunden geschickt, soweit sie die aus dem Gedächtnis rekonstruieren konnte. Für etwa die Hälfte auf der Liste hatte sie nur die Vornamen angegeben. Nur zwei davon enthielten eine vollständige Adresse.
»Der Bürgermeister macht Druck«, unterbrach ihn Hilgersen.
»Wer?«
»Schröder.«
»Wer ist Schröder?«
»Na, der Bürgermeister von der Gemeinde mit dem Löschteich.«
»Wer braucht denn heutzutage noch einen Löschteich?«
»Darum geht es doch gar nicht. So ein unerklärliches Ereignis auf dem Dorf verunsichert die Bürger. Und wir sind für deren Sorgen verantwortlich.«
Flottmann schüttelte den Kopf. »Sag mal, hast du eigentlich keine anderen Probleme? Wir haben den Mordversuch an der Astrologin aufzuklären.«
»Das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich bin es gewohnt, mehrere Fälle gleichzeitig zu bearbeiten. Multitasking nennt man das. Ich hab mich ein wenig mit Astrologie beschäftigt. Wusstest du, dass es früher gar keine Trennung zwischen Astronomie und Astrologie gab?«
»Ja, das wusste ich.«
»Die Babylonier haben die Astrologie erfunden. Sie kannten damals nur die fünf mit bloßem Auge sichtbaren Planeten.« Hilgersen schaute auf seinen Zettel. »Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Sonne und Mond kannten sie natürlich auch. In den Bewegungen der Himmelskörper sahen sie göttliche Zeichen und richteten ihre politischen Entscheidungen danach aus.«
»Manchmal kommt es mir so vor, als täten unsere Politiker das immer noch.«
»So um 500 vor Christus entstand dann die heutige Astrologie. Die Griechen haben die Methode verfeinert. Sie glaubten, dass die Götter unser Leben lenken und dass man jedes Einzelschicksal an den Sternen ablesen kann.« Hilgersen blickte erneut auf seinen Spickzettel. »Erst mit Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei und Johannes Kepler trat die Sterndeutung in den Hintergrund. Aber sie ist natürlich inzwischen wieder aktuell.«
»Mit dem Aufkommen der Esoterik und dem ganzen Schwachsinn.«
»Du solltest deine Vorurteile beiseitelegen. Die sind nicht gut für die Ermittlungen in unserem Fall.«
»Pah! Wieso ist die Keller überhaupt in die Falle getappt? Hat sie die Gefahr nicht anhand der Planetenkonstellation vorhersehen können?«
»Das ist genau das, was ich meine. Du bist befangen. Das ist ganz, ganz schlecht. Übrigens haben sich viele berühmte Leute nach den Sternen gerichtet. Der US-Präsident Ronald Reagan hat zum Beispiel keine wichtige Entscheidung getroffen, ohne vorher seine astrologische Beraterin zu fragen. Sie hat nach eigenen Angaben zur Beendigung des Kalten Kriegs beigetragen. Und der französische Präsident François Mitterrand ließ sich von der bekannten Astrologin Elizabeth Teissier beraten.«
»Okay. Das ist jetzt ein echtes Argument für die Sterndeuterei.«
Hilgersen murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Natürlich hatte er die Ironie in Flottmanns Worten verstanden.
»Erinnerst du dich an unsere Horoskope, die Maltes Lebensgefährtin für uns erstellt hat?«, fragte Flottmann.
»Ungerne.«
Es war nicht das erste Mal, dass Flottmann Hilgersens wunden Punkt ansprach. Malte Schubert, von den Kollegen auch Knoblauch-Malte genannt, hatte beiden durch seine Freundin ein persönliches Horoskop erstellen lassen. Hilgersen war begeistert gewesen. Alles hatte wunderbar gepasst, und seine Zukunftsaussichten waren rosig gewesen. Später hatte Flottmann ihm gebeichtet, dass er die Horoskope vertauscht hatte. In manchen Angelegenheiten konnte Hilgersen nachtragend sein. Die Horoskopsache war so eine.
»Okay, lassen wir das. Aber ich glaube, Malte wäre der richtige Mann, um die Kundenliste abzuarbeiten.«
Flottmann griff zum Telefon und rief den Kollegen an. Tatsächlich zeigte sich Malte begeistert, bei einem so spektakulären Fall mitmischen zu dürfen. Flottmann schickte ihm die Liste und erklärte ihm, worauf es ankam. Er sollte die Personen lediglich telefonisch befragen. Falls erforderlich, würden Hilgersen und Flottmann die Vorladungen und gegebenenfalls die Hausbesuche vornehmen.
Am Nachmittag rief Flottmann die Internetseite »fischvomkutter.de« auf. Um fünfzehn Uhr sollte es wieder frische Nordseekrabben direkt von Bord der »MARION HUS 19« geben.
»Ich bin mal kurz weg.«
»Wohin?«, fragte Hilgersen.
»Zu Marion.«
»Hast du eine neue Freundin? Was sagt Lena dazu?«
»Krabben kaufen. Ich hab Lena versprochen, dass ich Krabben mit Rührei zubereite.«
Flottmann hörte Hilgersens Erwiderung nicht mehr. Er hatte bereits das Büro verlassen und eilte die Treppenstufen hinunter. Den Fahrstuhl hatte er seit zwei Wochen nicht mehr benutzt. Auch den Weg bis zum Außenhafen wollte er zu Fuß absolvieren, für seine Fitness, die immer noch zu wünschen übrig ließ. Die kürzeste Strecke verlief entlang der Umgehungsstraße. Am Bahnübergang musste er lange warten, sodass er eine Viertelstunde benötigte. Ein paar Kunden bildeten eine Schlange vor dem Kutter. Der ältere Mann vor ihm hielt einen ausgedehnten Schnack mit dem Fischer, als er an der Reihe war. Flottmann hatte sich an so etwas gewöhnt. Es gab sogar Situationen, in denen er die Langsamkeit der Stadt zu schätzen wusste. Anfangs war es nicht so gewesen. Er hatte fast zwei Jahre benötigt, um sich der nordfriesischen Geschwindigkeit anzupassen.
Wie viele Krabben sollte er kaufen? »Pro Mund ein Pfund« hatte er mal gehört. Das wäre dann für zwei Personen ein Kilogramm. Das musste reichen. Schließlich gehörten zu dem Rezept, das er im Internet gefunden hatte, weitere sättigende Zutaten wie Vollkornbrot. Als Zubereitungszeit war maximal eine halbe Stunde angegeben, gerade richtig für seine eingeschränkten Kochkünste. Aber war in der Zeit auch das Pulen der Krabben berücksichtigt? Flottmann kratzte sich nachdenklich am Kinn. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als der Fischer ihm die Tüte mit der Ware überreichte.
Für den Rückweg brauchte er nur zehn Minuten.
»Wie viel hast du gekauft?«, fragte Hilgersen, als Flottmann zur Tür hereinkam.
»Ein Kilo. Ich denke, das reicht für zwei Personen.«
»Bestimmt. Aber vielleicht hättest du besser fertig Ausgepulte kaufen sollen.«
»Nee. Diese hier sind viel frischer.« Flottmann stellte die Plastiktüte mit dem Fang auf dem Schreibtisch ab und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Weißt du, dass jeden Tag mehrere Lkws nach Marokko unterwegs sind, damit die Schalentiere dort von billigen Arbeitskräften gepult werden? Dreitausend Kilometer hin und dreitausend Kilometer zurück. Das ist doch der helle Wahnsinn. Und wenn sie hier ankommen, sind sie über eine Woche alt. Mal ganz abgesehen von der miesen Ökobilanz.«
»Das stimmt schon. Aber weißt du denn, wie man die Porren pult?«
»Klar. Ganz einfach am Kopf festhalten und am Schwanz ziehen – hab ich gelesen.«
Hilgersen stieß einen Pfiff aus. »Na, denn man to.«
»Was?«
»Nichts. Probier es aus. Falls du Probleme hast, kann ich dir helfen.«
»Nicht nötig. Das ist ein Kinderspiel für mich.« Flottmann nahm ein Exemplar in die Hand. Aber sein erster Versuch endete nicht so, wie er gedacht hatte. Das Hinterteil riss ab, und das Fleisch blieb stecken. Mühsam gelang es ihm, den Inhalt mit den Fingernägeln freizulegen.
»Ich hab die Zeit gestoppt.« Hilgersen stand auf und kam an Flottmanns Schreibtisch. Er hielt seinen Taschenrechner in der Hand. »Du hast eine Minute und fünfundzwanzig Sekunden gebraucht. Wobei die Schwanzhälfte noch drinnen steckt. Ein Kilogramm sind so etwa fünfhundert Porren. Das macht nach Adam Riese …« Er tippte auf seinem Rechner herum. »Siebenhundertacht Minuten, also knapp zwölf Stunden. Vielleicht solltest du Lena anrufen, dass es das Krabbenbrot erst zum Frühstück gibt.«
»Deine Kommentare sind wie immer destruktiv, Gustl. Ich brauche lediglich etwas Übung. Das ist alles.« Flottmann zog ein weiteres Exemplar aus der Tüte. Das Ergebnis seiner Bemühung unterschied sich nicht wesentlich von dem aus seinem ersten Versuch.
»Knacken – ziehen – lösen«, erklärte Hilgersen und entnahm ebenfalls eine Krabbe. Er packte den Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, mit der anderen fasste er den Körper und drehte ihn. Dann zog er den hinteren Schalenteil ab, um anschließend das Fleisch vom Kopf zu lösen. Er hielt Flottmann das Ergebnis kurz vor die Nase, bevor er es im eigenen Mund verschwinden ließ. »Jetzt weißt du, wie das geht. Wie gesagt kann ich dir auch helfen, wenn du möchtest.«
»Nee. Mit dem Trick schaffe ich das spielend alleine. ›Knacken, ziehen, lösen‹, hast du gesagt? Kein Problem. Das kann ich behalten. Ich mach dann mal Feierabend.«
»Grüß Lena von mir.«
»Mach ich.« Flottmann verstaute den Einkauf in seiner Aktentasche und verließ das Büro.
Zu Hause angekommen, fütterte er wie stets zuerst Kater Bogomil. Dann nahm er eine Schüssel für die Schalen und einen Teller für das Fleisch aus dem Küchenschrank, setzte sich an den Wohnzimmertisch und begann mit der Arbeit. Es galt keine Zeit zu verlieren, denn Lena hatte sich für neunzehn Uhr angekündigt.
Bogomil kam nach einiger Zeit herein, sprang auf die Couch und schnupperte kurz. Er gab ein »Miau« von sich, rollte sich zusammen und schloss schnurrend die Augen.
»Knacken, ziehen, lösen«, hatte Hilgersen gesagt. Das mit dem Knacken funktionierte nach einigen Versuchen leidlich. Beim Ziehen riss allerdings ständig der Schwanz samt Inhalt ab. Den musste er dann aufwendig herauspulen, indem er die Segmente des Panzers einzeln ablöste. Das kostete viel Zeit. Doch nach und nach verbesserte er seine Technik. Trotzdem war das Ergebnis nach einer halben Stunde überschaubar. Langsam kamen ihm Zweifel, ob er sich nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, als er Lena großspurig versprochen hatte, für sie zu kochen. »Wattenbrot« hatte sie das Gericht genannt, das sie so gerne aß. Im Internet kursierten auch Namen wie »Halligbrot« oder einfach »Krabbenbrot«. Vollkornscheiben, belegt mit reichlich Nordseegarnelen, darüber eine Schicht Rührei, gewürzt mit Pfeffer, Salz und Schnittlauch. Das klang lecker und einfach. Wenn nur das verdammte Pulen der Viecher nicht dazugehört hätte. Kurz überlegte Flottmann, ob er nicht doch noch Hilgersen zu Hilfe ziehen sollte. Aber er gönnte dem Kollegen den Triumph nicht, und er wusste, dass Hilgersen die Geschichte später bei jeder passenden Gelegenheit genüsslich hervorzaubern würde.
Nach einer weiteren halben Stunde wurde Flottmann nervös. Die Zeit lief ihm davon. Immerhin hatte er ungefähr ein Viertel der Arbeit geschafft. Doch auf dem Teller wirkte das Häuflein ohne die Schalen ziemlich verloren. Er brauchte jetzt unbedingt ein Bier, um neue Kräfte zu sammeln. Also ging er in die Küche und holte eine Flasche Flensburger aus dem Kühlschrank. Begleitet von einem lauten »Plopp« öffnete er den Bügelverschluss und trank den halben Inhalt in einem Zug aus.
Irgendetwas irritierte ihn, als er wieder das Wohnzimmer betrat. Wie so oft eilte sein Gefühl dem Verstand voraus. Bogomil war aufgewacht und putzte sich in der Ecke der Couch. Er saß auf den Hinterbeinen, den Rücken seinem Herrchen zugewandt. Die Schwanzspitze bewegte sich rhythmisch hin und her, und die Ohren waren in Habachtstellung ausgerichtet.
Flottmanns Blick wanderte zu den Krabben, das heißt zu dem Teller, auf dem sie hätten sein sollen. Mit einer Mischung aus Unglauben und Wut trat er näher an den Tisch heran. Er stellte seine Bierflasche ab. Nur langsam gelang es ihm, den Diebstahl in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Der Täter hatte keine einzige Garnele übrig gelassen und das Porzellan fein säuberlich abgeleckt. Flottmann schüttelte den Kopf, als könne er immer noch nicht glauben, was er sah.
Ohne Zweifel hatte der Dieb dabei seine DNA hinterlassen. Als hätte es eines weiteren Beweises bedurft, ging Flottmann um den Tisch herum und beugte sich zum Verdächtigen hinunter. »Hauch mich mal an«, zischte er dem Tier entgegen.
Bogomil wich zurück. Flottmanns Stimme wurde lauter. »Du verdammtes Mistvieh!«
Der Kater zuckte ein paarmal mit dem Schwanz und bildete einen angedeuteten Buckel, zog es aber dann doch vor, eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Er sprang vom Sofa und verkroch sich in einem seiner Verstecke.
Flottmann ließ sich in einen Sessel fallen, nahm seine Bierflasche und trank sie aus. Sein Blick fiel auf die Schüssel mit den restlichen ungepulten Krabben. Nein, nicht noch einmal diese Tortur. Lieber würde er beim Türken Döner bestellen oder beim Italiener zwei Pizzen.
Kurz entschlossen griff er zum Telefon und rief Lena an.
»Hallo, Waldemar. Ich bin schon fast auf dem Weg zu dir. Du wolltest doch nicht etwa absagen, oder?«
»Nein. Jedenfalls nicht so direkt. Ich dachte, wir könnten essen gehen. Ich kenne da ein nettes Restaurant am Hafen.«
»Eigentlich hatte ich mich auf einen gemütlichen Abend bei dir eingestellt. Du wolltest doch für mich kochen.«