Der Himmel über Nordfriesland

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»Ja. Aber …« Flottmann suchte nach den richtigen Worten für eine Ausrede. Schließlich entschied er sich für die Wahrheit. »Ich hatte so meine Schwierigkeiten mit den Krabben. Und dann hat Bogomil auch noch alle ausgepulten aufgefressen.«
Aus dem Hörer drang schallendes Gelächter. Flottmann merkte, wie ihm das Blut vor Ärger in den Kopf schoss.
»Entschuldige«, beendete Lena ihren Lachanfall. »Tut mir leid.«
»Kannst du die Dinger pulen?«, fragte er nach einer Pause. »Ich hab noch eine ganze Menge mit Schale.«
»Fein. Ja, als Kind hab ich das oft gemacht. So etwas verlernt man nicht. Ich fahre sofort los. Es wird bestimmt ein toller Abend werden.«
Flottmann hörte sie erneut auflachen, bevor er auflegte.
Es wurde ein schöner Abend. Geduldig unterrichtete Lena Flottmann im Krabbenpulen, und nach einer guten Stunde hatten sie genug Material für das Wattenbrot, das sie gemeinsam zubereiteten. Anschließend genossen sie ihre Kreation bei einer Flasche Weißwein. Auch der Rest des Abends verlief nach Flottmanns Vorstellungen. Sein Groll auf Bogomil war verflogen.
8
Leon Gerber hatte versprochen, am Sonntagnachmittag seine Gitarre mitzubringen. Wie jedes Wochenende war er bei Laura zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Die Treffen verliefen immer harmonisch. Er musste sich nicht verstellen. Sowohl Laura als auch Sophia nahmen ihn so, wie er war.
An Sophias achtem Geburtstag hatte er versucht, mit der feiernden Kinderhorde zu spielen und zu singen, hatte aber schon nach einem Lied abbrechen müssen, weil er den Lärm nicht hatte ertragen können. Weder Laura noch Sophia hatten ihm das übel genommen. Beide hatten mit der Zeit gelernt, mit seiner Hochsensibilität, die sich als extreme Geräuschempfindlichkeit äußerte, umzugehen. Den Kampf gegen seine Sensibilität hatte Gerber aufgegeben. Laura hatte ihn überzeugt, sie als Gabe und nicht als Behinderung zu verstehen. Das war ihm zunächst schwergefallen, gelang ihm aber immer besser, seit er der Polizei mit seinen Fähigkeiten hatte helfen können.
Doch die Konfrontation mit Tod und Verbrechen belastete ihn zunehmend. Seit er von einem Verrückten entführt und in Todesangst versetzt worden war, verfolgten ihn Alpträume. Sogar die aus seiner Kindheit brachen sich wieder Bahn. Manchmal glaubte er, Stimmen zu hören, nachts und auch tagsüber.
Gerber sprach mit niemandem darüber. Auch nicht mit Laura. Natürlich war ihr klar, dass er nie der starke Mann an ihrer Seite sein würde. Aber als psychisch labil oder gar krank wollte er nicht vor ihr dastehen.
Sophia empfing Gerber mit einer stürmischen Umarmung, noch bevor Laura ihm den Begrüßungskuss aufdrücken konnte. Er trug den Gitarrenkoffer ins Esszimmer, wo bereits der Kaffeetisch gedeckt war.
»Spielst du nachher wieder das Lied von den Dinosauriern und das von den Planeten?«, fragte Sophia.
»Ich spiele, was du willst. Du bestimmst.«
»Für mich musst du den Song über die Polarlichter bringen«, sagte Laura. »Erinnerst du dich an die bunten Lichter, die wir in Lüttmoorsiel gesehen haben, Sophia?«
»Klar. Die kommen vom Sonnenwind.«
»Richtig«, bestätigte Gerber.
Laura hatte eine Schwarzwälder Kirschtorte gebacken. Gerber hatte sein zweites Stück gerade aufgegessen, als Sophia drängelte, mit der Musik zu beginnen. Er, dem in anderen Situationen jeder falsche Ton physische Schmerzen bereitete, genoss die unbefangene Art, mit der Sophia und Laura zur Gitarre sangen. Es war wie eine Therapiestunde, in der er seinen zwanghaften Perfektionsdrang weitgehend ablegen konnte. Der Planetensong, den er für Sophia geschrieben und auf YouTube gestellt hatte, durfte auch an diesem Nachmittag nicht fehlen. Er erzählte von den acht Planeten des Sonnensystems.
Wir machen eine Radtour zum Planeten Merkur,
wir machen eine Radtour zum winzig kleinen Merkur.
Wir fahren mit dem Bus zum Planeten Venus,
wir fahren mit dem Bus zur strahlend hellen Venus.
Wir reisen durch das All,
viel schneller als der Schall.
Wir reisen durch das All,
viel schneller als der Schall.
Wir satteln unsre Pferde und reiten um die Erde,
wir satteln unsre Pferde, erkunden Mutter Erde.
Wir haben riesig Spaß auf dem Weg zum Mars,
wir haben riesig Spaß auf dem roten Mars.
Wir reisen durch das All,
viel schneller als der Schall.
Wir reisen durch das All,
viel schneller als der Schall.
Wir tanken tausend Liter für den Start zum Jupiter,
wir tanken tausend Liter für den Riesen Jupiter.
Auch bleibt nicht ungeschorn von uns Planet Saturn,
auch bleibt nicht ungeschorn der Ringplanet Saturn.
Wir reisen durch das All,
viel schneller als der Schall.
Wir reisen durch das All,
viel schneller als der Schall.
Die drei sangen und lachten. In solchen Momenten vergaß Gerber alle Sorgen. Zum Abschluss trug er das Stück über die Nordlichter vor. Es hatte eine besondere Bedeutung, da er es ganz spontan in der Nacht erschaffen hatte, als Laura und er sich zum ersten Mal nähergekommen waren.
»Das ist wunderschön«, sagte Laura nach der letzten Strophe. »Wann wirst du endlich eine CD mit diesem und anderen Liedern herausbringen?«
»Ich weiß nicht. Im Moment hab ich nicht die notwendige Ruhe dafür.«
Laura lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Sie kannte seinen Hang zur Perfektion und wusste, dass er niemals mit seiner Musik zufrieden war. Dass er noch andere Gründe für seine Blockade hatte, konnte sie nur ahnen.
Am nächsten Tag fuhr Gerber mit seiner Martin nach Husum. Die Bünde mussten ausgetauscht werden. Seine Lieblingsgitarre musste perfekt sein. An das wertvolle Stück ließ er nur einen Fachmann heran. Das einzige Musikgeschäft der Stadt hatte vor einiger Zeit aufgegeben. Zu groß war die Konkurrenz durch den Onlinehandel. Aber Gerber kannte einen der ehemaligen Mitarbeiter, der solche Arbeiten erledigte. Er hatte sich telefonisch bei ihm angemeldet.
Gerber stellte sein Auto auf dem Parkplatz »Schiffbrücke« ab und ging mit seinem Gitarrenkoffer Richtung Innenstadt. Das Wetter meinte es gut mit den Betreibern der Cafés und Restaurants. Es war warm, und die Außenplätze unter den Schirmen waren gut belegt. Erst wenn die Sonne in einer Stunde hinter den Häusern der Hohlen Gasse versank, würde es kühl werden.
Gerbers Weg führte durch die Krämerstraße, vorbei an den Häusern verschiedener Stilepochen, in denen kleine Fachgeschäfte und ein weit über Husum hinaus bekanntes Modehaus zum Einkaufen einluden. Gerber blieb mit seinem Gitarrenkoffer in der Hand vor einem Straßenmusiker stehen. Der Mann war circa dreißig Jahre alt, trug Jeans, ein kariertes Hemd und darüber eine bunte Wollweste. Der Hut zu seinen Füßen enthielt einige wenige Münzen, was allerdings keine Rückschlüsse auf seine Tageseinnahmen zuließ. Er spielte auf einer Mundharmonika zu Playback-Klängen aus einer Lautsprecherbox. Als er Gerber sah, unterbrach er sein Spiel und stellte den Verstärker ab.
»Ich bin Fred. Machst du mit?«, fragte er und deutete auf den Gitarrenkoffer.
Die spontane Frage überraschte Gerber. Er hatte noch nie auf der Straße gespielt. Zwischen all den hektischen und lärmenden Menschen würde er es nicht lange aushalten. Aber er hegte große Sympathie für Straßenmusiker, die mit Leidenschaft musizierten und das Stadtbild mit ihrer Kunst bereicherten. Manche verdienten gutes Geld dabei, einige wenige schafften sogar den Sprung zu kommerziellem Erfolg. Die meisten blieben aber unbekannt und waren dankbar für jeden Cent, den ihnen Zuhörer in den Hut warfen.
Gerber überlegte nicht lange. »Ich heiße Leon – okay, versuchen wir es.« Er stellte den Koffer ab und nahm seine Gitarre zur Hand. Da er keinen Gurt dabeihatte, war es für ihn etwas unkomfortabel, im Stehen zu spielen. Er setzte seinen rechten Fuß auf einer Kiste ab, in der Fred persönliche Dinge und selbst gebrannte CDs aufbewahrte. Sie begannen mit dem »Fishing Blues«, zu dem Fred mit rauer Stimme sang. Bei »Cocaine« übernahm Gerber den Gesangspart.
Es bildete sich eine Menschentraube um die beiden Musiker, und der Hut füllte sich mit Münzen. Auch im Gitarrenkoffer landete Kleingeld. Nach dem fünften Song war es für Gerber Zeit zu gehen. Er sammelte die Münzen aus dem Koffer ein und warf sie in den Hut. Dann verstaute er sein Instrument.
»Die Hälfte gehört dir«, sagte Fred.
Gerber winkte ab. »Mach’s gut. Es war mir eine Ehre.« Er war stolz darauf, dass er seinen Part trotz der widrigen Umgebung gut über die Bühne gebracht hatte.
Der gelernte Zupfinstrumentenmacher und Gitarrenbauer Stefan Steffens wohnte im Schlossgang. Seine Werkstatt befand sich im Schuppen eines Hinterhofs. Von außen sah das Gebäude wenig vertrauenerweckend aus. Aber innen war der Raum professionell eingerichtet. Es roch nach frischem Holz und Leim. An den Wänden hingen Plakate sowie Saiteninstrumente unterschiedlicher Hersteller.
Steffens hatte gerade eine »Larrivee« auf seiner Werkbank. Als er den Kunden sah, unterbrach er sofort seine Arbeit.
»Dann zeig mir mal das gute Stück.«
Gerber stellte den Koffer auf einem Tisch ab und öffnete ihn.
»Also neue Bundstäbchen?«, fragte Steffens und nahm die Gitarre in die Hand.
Gerber nickte.
»Kein Problem. Wann brauchst du sie wieder?«
»Möglichst schnell.«
»Ich ruf dich an, sobald sie fertig ist. Ein paar Tage wird es schon dauern.«
»Okay, danke.«
Als Gerber die Werkstatt verließ, suchten ihn widersprüchliche Gefühle heim. Seine Martin einem Fremden zu geben fiel ihm nicht leicht, auch wenn er sie in guten Händen wähnte.
9
Markus Reinke kippte den Köm hinunter. Der schmeckte scheußlich, aber betäubte leidlich und bewirkte, dass die Erinnerungen an Helena in einem freundlichen Licht erschienen. Auch nach Annas Tod hatte es gute Tage gegeben. Sie waren rar geworden, aber es hatte sie gegeben. Der Urlaub in Griechenland hatte dazugehört. Wie von Zauberhand waren die Probleme verschwunden gewesen. Heute wusste er nicht mehr, ob sich beide lediglich um eine gute Stimmung bemüht hatten oder ob die andere Umgebung das Unmögliche bewirkt hatte. Leider hatte sich das Phänomen später nicht wiederholen lassen.
Aber jetzt dachte er an den Strand, an ihr Lachen und an die Abendstunden in der Taverne, ganz in der Nähe des Hotels. Vollständig unbeschwert waren sie gewesen. Jedenfalls in der Erinnerung.
Reinke hatte ein Bild von ihr vor sich auf dem Tisch liegen. Ein altes aus glücklichen Tagen. Äußerlich hatte sie sich bis zum Schluss kaum verändert. Die zierliche, sportliche Figur, das schulterlange rotblonde Haar, die strahlenden Augen und die feinen Grübchen um die Mundwinkel waren geblieben. Auf dem Bild waren diese nicht zu erkennen, aber seine Erinnerung ergänzte sie und weitere Details beim Betrachten.
Das Foto war vor Annas Tod entstanden. Er brauchte es, um sich für seine Aktionen zu motivieren. Das, was er tat, war er Helena schuldig. Eine kleine Wiedergutmachung für die Versäumnisse in der Zeit, als sie seine Hilfe gebraucht hätte. Anstatt ihr in der schweren Zeit beizustehen, hatte er ihr Vorwürfe gemacht. Nicht direkt, aber unterschwellig. Sie hatte ihre Aufsichtspflicht verletzt, wie die Juristen es nannten. Anna war im Gartenteich des Nachbarn ertrunken. Helena hatte sie nur für wenige Minuten aus den Augen gelassen. Ihm hätte das Gleiche passieren können, auch wenn er es damals nicht hatte wahrhaben wollen. Alle Wiederbelebungsversuche der herbeigerufenen Rettungskräfte waren gescheitert. Als ihn die Nachricht auf der Arbeitsstelle erreichte, war die Welt über ihm zusammengebrochen. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass alles noch schrecklicher werden würde. Helena hatte ihn an ihrem Geburtstag verlassen. Vielleicht hatte sie ihn auf die Art bestrafen wollen. Die Strafe hatte er verdient.
Mit seinem Vorhaben wollte er etwas wiedergutmachen, obwohl das nicht möglich war. Alles musste gut vorbereitet sein, damit nichts schiefging. Irgendwann würde man auf ihn kommen. Aber bis dahin wollte er seine »Projekte« zu Ende bringen. Danach war ihm egal, was mit ihm geschah. Schlimmer als das, was er durchgemacht hatte, konnte es nicht werden. Vielleicht entkam er sogar einer Bestrafung. Die Menschen würden ihn verstehen, und ihre Sympathie würde ihm gelten.
Das Unberechenbarste für das anstehende Vorhaben war das Wetter. Das konnte an der Küste launisch sein und sich in wenigen Stunden verändern. Die Prognosen erwiesen sich nicht immer als zuverlässig. Reinke nahm sein Notizbuch zur Hand. Dort wollte er alles aufschreiben, seine Gefühle, die Beweggründe sowie die Details seiner Planung, für sich und für alle anderen. Die Leute mussten aufgerüttelt werden. Und das ging nur mit spektakulären Aktionen. Die Welt wurde dermaßen mit Nachrichten überschüttet, dass er auf andere Art kein Gehör fand. Was Helena widerfahren war, durfte sich nicht wiederholen. Vielleicht konnte er ihrem Tod am Ende noch einen gewissen Sinn geben. Wenn ihm das gelang, war seine Mission erfüllt, und er würde endlich Ruhe finden.
***
Laut Horoskop sollte es eine ausgeglichene Woche ohne besondere Ereignisse werden. Allerdings traute Petra Hinrichsen den Prognosen aus der Fernsehzeitschrift nicht. Trotzdem las sie die vermutlich mit einem Computerprogramm generierten Texte stets mit einem gewissen Vergnügen. Schließlich konnte sie sich schon allein aus Kostengründen nicht ständig ein individuelles Horoskop erstellen lassen. Das leistete sich die Vierzigjährige maximal einmal im Monat. Den Aussagen der Astrologin konnte sie vertrauen, auch wenn nicht immer alles genau zutraf. Die Frau verstand ihr Handwerk, und darauf kam es an.
Petra Hinrichsen lief über den Friedhof zum Grab ihrer Eltern. Der Himmel war bedeckt, und es wehte ein kräftiger Wind, wie so oft an der Küste. Sie wollte ein paar Schnittblumen in die Vase stellen und gegebenenfalls etwas Unkraut rupfen. Gießen musste sie nicht. Es hatte am Vortag ergiebig geregnet, und die Bepflanzung überstand auch trockene Perioden.
Sie schwenkte in den Weg, an dessen Ende die Ruhestätte lag. Ihre Mutter war nicht einmal siebzig Jahre alt geworden. Ihr Vater war wenige Monate danach mit zweiundsiebzig gestorben. Fast so, als hätten sie sich für das Jenseits verabredet.
Petra hatte das Grab erreicht, als sie Schritte hinter sich vernahm. Sie ignorierte die ersten Anzeichen einer nahenden Gefahr. Doch ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr Unterbewusstsein signalisierte, dass irgendetwas an der Situation nicht stimmte. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie, wie sich ein Arm um ihren Hals legte und sie nach hinten zog. Sie ließ die Blumen fallen und versuchte, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Aber gegen den muskulösen Angreifer hatte sie keine Chance. Noch während sie nach Luft rang, presste der ihr ein stinkendes Tuch auf Mund und Nase. Ihre Sinne schwanden. Sie spürte Übelkeit aufkommen. Mit letzter Kraft trat sie rückwärts gegen das Bein des Fremden. Sie hörte einen unterdrückten Schmerzensschrei. Für einen kurzen Moment ließ der Druck an ihrem Hals nach. Das Tuch fiel zu Boden, aber bevor sie schreien konnte, hielt der Mann ihr den Mund mit der Hand zu. Einer seiner Finger presste sich zwischen ihre Lippen. Petra biss zu, so fest sie konnte. Gleichzeitig verpasste sie ihm einen weiteren Tritt mit den Hacken. Vielleicht hatte sie empfindliche Weichteile getroffen. Sie konnte sich aus der Umklammerung befreien und rannte los, den Weg entlang, quer über die Gräber. Erst als sie sich sicher war, dass ihr niemand folgte, stoppte sie und blickte sich um. Nur eine alte Frau mit Gehwagen war zu sehen. Der Angreifer war verschwunden.
Petra Hinrichsen setzte sich auf den Brunnenrand an einer Wasserstelle. Sie atmete schwer und war immer noch benommen. Mit der Rechten griff sie in das trübe Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Langsam kehrten die Lebensgeister zurück. Sie hatte instinktiv und ohne Überlegung gehandelt, aber genau das Richtige getan.
Nach einer Weile zückte sie ihr Handy und wählte die Notrufnummer. Bis Hilfe eintraf, würde sie sich nicht vom Fleck rühren.
Es verging endlose Zeit, bis zwei Uniformierte eintrafen. Sie musste den Hergang schildern. Eine brauchbare Beschreibung des Täters konnte sie nicht abgeben. Er hatte dunkle Kleidung getragen und war kräftig gewesen. Das war alles, woran sie sich erinnerte. Die Polizisten forderten einen weiteren Einsatzwagen an, um die Umgebung des Friedhofs abzusuchen. Petra führte sie zu dem Ort des Überfalls. Dort lagen noch die Schnittblumen, aber das Tuch mit der übel riechenden Flüssigkeit war verschwunden.
Auf dem Revier musste sie ihre Oberbekleidung abgeben. Für eine Untersuchung auf Fremd-DNA, erklärte man ihr. In einer viel zu weiten und abgenutzten Jacke und einer ausgedienten Uniformhose saß sie vor einem Beamten, der ihre Schilderungen in die Tastatur eines Computers eintippte. Aus seinen Fragen und Bemerkungen schloss sie, dass die Polizei von einer versuchten Vergewaltigung ausging. Nach der Befragung brachte sie ein Streifenwagen nach Hause.
Sie schloss die Wohnungstür ab, schaltete die Stereoanlage ein, legte sich auf die Couch und stülpte sich die Kopfhörer über. Das tat sie immer, wenn sie für ein paar Stunden der Realität entfliehen wollte. Nach Helenas Tod hatte sie Tage mit Neil Young und Mark Knopfler verbracht. Andere ertränkten ihren Kummer in Alkohol, sie hatte ihre eigene Methode. Laut musste die Musik sein, damit sie alle negativen Gefühle überdeckte. Das funktionierte auch an diesem Abend. Sie war einer Vergewaltigung entkommen. Sie konnte stolz auf sich sein, dass sie den Angreifer in die Flucht geschlagen hatte. Die Gefahr war vorbei, doch alleine würde sie ganz sicher nicht mehr auf den Friedhof gehen. Ihr Ex-Lebensgefährte Robert würde sie begleiten. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen und ihm alles erzählen sollte. Nein, besser morgen. Sie betätigte die Fernbedienung und drehte die Lautstärke noch ein Stück weiter auf.
***
Helenas Tagebuch, 31. August
Obwohl Markus nicht zu Hause ist, kann ich heute nicht viel schreiben, weil ich tieftraurig bin. Ich hab mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. Anna ist tot und kommt nie mehr zurück. Und ich bin schuld daran. Wir haben ihr Zimmer abgeschlossen. Niemand soll es betreten. Niemand soll ihre Spielsachen berühren. Auch Markus gibt mir die Schuld an Annas Tod, doch er spricht es nicht aus. Es tut mir so unendlich leid, Anna. Vielleicht kann ich es wiedergutmachen. Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Bitte, verzeih mir.
10
Bauer Lothar Erichsen schüttelte den Kopf. Nun war es also auch auf seinem Feld passiert. Bisher hatte er Ähnliches nur auf Fotos aus England und Dänemark gesehen. Eines auch aus Bayern. Und jetzt gab es einen Kornkreis auf seinem Acker. Der Flurschaden schien nicht unerheblich, aber doch einigermaßen begrenzt zu sein. Das Gebilde konnte man als Kunstwerk durchgehen lassen. Nicht nur einfach Kreise, sondern eine komplexe Struktur war zu erkennen, auch wenn man vom Boden aus nur einen Teil davon überblicken konnte.
Erichsen bückte sich und strich mit der Hand über die Pflanzen. Erstaunlicherweise waren sie nicht geknickt, sondern gebogen. Jedenfalls galt das für die meisten Pflanzen innerhalb der Struktur. Er richtete sich wieder auf und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Natürlich waren die Übeltäter über alle Berge. Wahrscheinlich waren sie in der Nacht gekommen. Es blieb die Frage, wie sie es angestellt hatten. Wenn sie schweres Gerät dabeigehabt hatten, mussten dessen Spuren an einer Stelle bis zum Kornkreis führen. Eigentlich hatte Erichsen Besseres zu tun, als sich um den Schabernack zu kümmern. Aber sein Interesse war geweckt. Vielleicht war ja doch etwas dran an den Berichten über geheimnisvolle Kräfte und Außerirdische. Er entschloss sich, der Sache auf den Grund zu gehen.
Langsam schritt er den äußeren Kreis ab, die Augen auf den Boden gerichtet. Das Objekt war so groß, dass er mehr als eine halbe Stunde benötigte, um es zu umrunden. Nirgendwo konnte er Spuren von Maschinen erkennen, kein Traktor oder Geländewagen, der ins Feld gefahren war. Die Übeltäter mussten zu Fuß gekommen und die Halme bearbeitet haben. Jedenfalls, wenn es Menschen gewesen waren, wovon Bauer Erichsen immer noch ausging.
Mit dem Ärmel des Overalls wischte er sich den Schweiß von der Stirn und zückte das Handy. Sein Sohn Siegfried war sofort am Telefon.
»Wir haben einen Kornkreis«, sagte Erichsen senior.
»Was?«
»Du hast richtig gehört, einen Kornkreis. Ein ziemlich großes Ding sogar.«
»Großartig!«
Erichsen wusste nicht, ob der Begeisterungsausruf ernst gemeint war.
»Komm mit deinem fliegenden Dingsda rüber und mach Aufnahmen davon.«
»Mit meinem Quadrocopter?«
»Ja. Ich will das dokumentieren. Vielleicht kriegen wir eine Entschädigung. Ich glaub das zwar nicht. Aber egal, ich will, dass du das von oben filmst.«
»Okay. Ich bin gleich bei dir.«
»Ich warte am Bachweg.«
Nach einer Viertelstunde fuhr Erichsen junior mit seinem alten Jeep vor. Der rotblonde muskulöse Fünfundzwanzigjährige überragte seinen Vater um eine Kopflänge. Er nahm den Aluminiumkoffer von der Ladefläche und packte die Drohne aus. Nach wenigen Minuten war das Fluggerät betriebsbereit und hob ab.
Auf dem Smartphone konnten sie die Bilder der Kamera verfolgen. Aus großer Höhe war das gesamte Gebilde zu erkennen. Es sah aus wie der Buchstabe »M«, mit einem Pfeil am Ende des Schriftzugs.
»Was soll das sein?«, fragte Bauer Erichsen.
»Keine Ahnung. Aber da machen wir was draus«, antwortete sein Sohn. Er ließ den Quadrocopter noch ein paar Runden drehen, um ihn dann auf der asphaltierten Straße aufzusetzen.
»Was meinst du mit ›Da machen wir was draus‹?«
»YouTube, Presse, Rundfunk, vielleicht auch Fernsehen.«
»Und was soll das?«
»Dann kommen Scharen von Schaulustigen herbei.«
»Und zertrampeln das ganze Weizenfeld.«
»Nee. Die dürfen nur entlang der Spuren laufen. Und natürlich nehmen wir Eintritt dafür.«
»Du spinnst ja.«
»Von wegen. Die zahlen gerne einen kleinen Obolus, um so etwas zu sehen. Der Betrag wird zumindest reichen, um den Schaden zu begleichen.«
Bauer Erichsen nahm seine Schirmmütze ab und fuhr sich mit den Fingern durch das graue Haar. Dann setzte er die Mütze wieder auf. »Dat is doch dumm Tüüch.«
»Is dat nich!«
»Mok, wat du wullt.«
Bauer Erichsen machte eine wegwerfende Handbewegung und ging. Er hatte das Interesse an der Sache verloren, und es wartete ein Haufen Arbeit auf ihn.
Der Junior betrachtete noch einmal den aufgenommenen Film. Je nach Perspektive konnte man die Figur unterschiedlich interpretieren. Die Form des Buchstabens »M« mit dem Pfeil kam ihm bekannt vor. Irgendwo hatte er das Symbol bereits einmal gesehen. Wenn er den Film auf YouTube stellte, würde er sicher Hinweise auf die Bedeutung erhalten.
Noch am selben Tag lud er das Video hoch, und ein Foto des Kornkreises schickte er an die örtliche Presse. Nachrichten aus der Region wurden immer gerne in den Lokalteil der Zeitung aufgenommen.
Die Klicks auf YouTube überstiegen seine Erwartungen. Obwohl Kornkreise regelmäßig jedes Jahr auftraten, schienen sie nicht an Faszination verloren zu haben. Bald wurden auch die ersten Vermutungen über die Bedeutung des Symbols gepostet. Die meisten Kommentare behaupteten, dass es sich um das Sternzeichen Skorpion handelte. Erichsen fand die Vermutung nach kurzen Recherchen im Internet bestätigt. Es blieb die Frage, wer den Kornkreis erschaffen hatte und ob derjenige eine bestimmte Botschaft damit vermitteln wollte. Erichsen glaubte nicht an das Werk von Aliens. Aber er wollte sich mit seiner Meinung zurückhalten. Je abstruser die Theorien, desto besser für das Geschäft. Denn er hatte vor, die einmalige Chance zu nutzen.
Die Nachricht in der Presse, die am nächsten Tag erschien, zeigte sofortige Wirkung. Zwar wurde in dem Artikel nicht der genaue Standort angegeben, aber auf den hatte Erichsen in seinem YouTube-Video hingewiesen. Theorien über die Entstehungsursachen ließen nicht lange auf sich warten. Natürlich vermuteten viele das Wirken außerirdischer Mächte. Aber auch über den Einfluss von Magnetfeldern, Bodenbeschaffenheiten und elektrisch geladener Wirbelwinde wurde fleißig spekuliert.