Der Himmel über Nordfriesland

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Und wie erhofft pilgerten schon am nächsten Tag die ersten Menschen zu der Stätte, um Energie zu tanken. Wünschelrutengänger und Pendler bestätigten die außerordentliche Ansammlung positiver Kräfte. Experten reisten von weit her an, um das Phänomen zu untersuchen. Aber das Beste war, dass die Kasse klingelte, die Erichsen am Eingang mit einem diskreten Hinweis auf den Flurschaden positioniert hatte. Die umfunktionierte antike Milchkanne füllte sich mit Münzen und Scheinen.
Eine besondere Geschäftsidee hatte sich Erichsen für den Zeitpunkt aufbewahrt, wenn der Trubel vorbei war. Das aus dem Korn des Kornkreises gewonnene Mehl wollte er in kleinen Portionen verkaufen. Er war sich sicher, dass die Kunden wild darauf waren, daraus energiegeladenes Brot zu backen. »Dumm Tüüch«, hatte sein Vater gesagt. Von wegen! Das zusätzliche Geld konnten sie gut für den neuen Traktor gebrauchen, der schon seit Jahren auf der Anschaffungsliste stand.
Erichsen selbst war überzeugt, dass der Kornkreis von Menschenhand geschaffen worden war. Aber wer hatte den Aufwand betrieben? Irgendwelche Freaks, die sich lediglich einen Spaß daraus gemacht hatten? Wieso hatten sie das Skorpionsymbol gewählt? Hatte das eine besondere Bewandtnis? Auch wenn es für das Geschäft irrelevant war, so hätten ihn die Antworten auf die Fragen doch interessiert.
Gegen Abend leerte er die Milchkanne, ließ sie aber am Eingang stehen. Er rechnete damit, dass noch einige Pilger vorbeikamen, um die besondere Atmosphäre in der Nacht zu erleben. Der eine oder andere würde sicher ein paar Euro spendieren.
11
Seit dem Überfall auf dem Friedhof hatte Petra ein permanentes Unsicherheitsgefühl. Egal, wo sie war, stets glaubte sie, von jemandem beobachtet oder gar verfolgt zu werden. Durch das Ereignis war ihr Leben ein Stück weit aus den Fugen geraten. Überhaupt wusste sie nicht, wie alles weitergehen sollte. Beruflich lief es ganz und gar nicht rund. Sie hoffte auf eine Beförderung zur Teamleiterin, aber ihr Vorgesetzter schien noch nicht so recht von ihren Managerqualitäten überzeugt zu sein. Irgendwie verharrte alles in ihrem Leben in der Schwebe. Immer wieder fragte sie sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, sich von Robert zu trennen. Es wurde Zeit, etwas mehr über die Zukunft zu erfahren. Das war immer gut, um die richtigen Weichen stellen zu können. Deshalb hatte sie einen Termin mit ihrer astrologischen Beraterin Mila Hus vereinbart.
Mila Hus wohnte in Bredstedt, eine knappe halbe Stunde mit dem Auto nördlich von Husum. Auch das Kartenlegen gehörte zu ihrer Beratungstätigkeit, und sie nahm sich viel Zeit für ihre Kunden. Ihr Honorar war nicht gerade niedrig, aber das Wissen um die Zukunft war Petra jeden Cent wert.
Auch ihre Freundin Helena war auf Petras Anraten mehrmals bei Mila Hus gewesen und hatte ganz begeistert von ihr gesprochen. Petra wollte die Astrologin auch dieses Mal nicht auf Helena ansprechen. Vermutlich wusste sie bereits über Helenas Tod Bescheid.
Es war fünfzehn Uhr, als sie bei ihr eintraf. Mila Hus empfing sie wie stets in einem kleinen abgedunkelten Zimmer mit alten Möbeln. Der Schreibtisch mit dem Computerbildschirm passte nicht so recht in das gediegene Ambiente. Neben der Tastatur lag ein Stapel antiquarischer Bücher. An der Wand hing ein Poster mit den Tierkreiszeichen, aber auch eines, das eine Aufnahme des Weltraumteleskops Hubble zeigte, den Pferdekopfnebel. Die Ausstattung wirkte etwas klischeebeladen, aber sorgte für die passende Atmosphäre.
Mila Hus hatte ein buntes Tuch um den Hals geschlungen, trug jedoch ansonsten schwarze Kleidung. Über dem Tuch baumelte eine Kette mit einem riesigen Amulett. Das lange braune Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Sie war Anfang fünfzig, etwas übergewichtig und hatte ein sonnengebräuntes Gesicht mit feinen, gleichmäßig verteilten Falten.
Sie bot Petra einen Platz an einem schwarz eingedeckten Tisch an, auf dem eine Kanne Tee und zwei Tassen bereitstanden. Beide setzten sich und schwiegen. Hus goss den Tee ein. Die Art und Weise, wie sie das tat, wirkte wie eine geheimnisvolle Zeremonie und ließ die Spannung steigen.
»Schön, dass du gekommen bist. Was kann ich für dich tun?«
»Ich möchte heute gerne, dass du mir die Karten legst«, antwortete Petra.
Mila Hus nickte. »Gerne.« Sie öffnete eine Schublade und brachte einen Stapel Tarotkarten zum Vorschein.
Sie mischte die Karten, legte sie auf den Tisch und deckte die erste auf.
»Der Wagen. Er steht für Energie, Bewegung und Erfolg. Du solltest zielstrebig bleiben und deinen Weg gehen. Lass dich nicht davon beeinflussen, was andere Menschen sagen. Es ist dein Leben. Du triffst die Entscheidungen. Halt die Zügel fest in der Hand und folge deinem Herzen, dann wird der Erfolg nicht lange auf sich warten lassen.«
Die Astrologin deckte die nächste Karte auf. »Drei der Schwerter. Im Hintergrund sind dunkle Wolken. Der Himmel ist grau und verregnet. Das rote Herz befindet sich mitten in diesem Unwetter. Drei Schwerter durchbohren das Herz. Das Bild symbolisiert den seelischen Schmerz. Das kann einen Verlust bedeuten, ein Partner, von dem man sich getrennt hat, oder den Tod eines geliebten Menschen.«
Petra nickte. Sie dachte an die Trennung von Robert und an den Verlust ihrer besten Freundin Helena. Die Stimmigkeit der Aussagen beeindruckte sie.
Hus legte die Stirn in Falten und zog die Brauen zusammen. »Die nächste Karte zeigt einen Mann, der aus einem Alptraum erwacht. Er hält die Hände vor seine Augen, um die unangenehmen Bilder zu verdrängen. Neun Schwerter zeigen nach rechts, in eine ungewisse Zukunft. Vielleicht hast du etwas erlebt, das dich beunruhigt. Aber es war nur ein böser Traum, und du solltest das Vertrauen in deine Mitmenschen nicht verlieren. Es wird alles gut werden. Wenn du in Not bist, wird jemand da sein, der dir behilflich ist.«
Während Hus fortfuhr, dachte Petra an ihr Erlebnis auf dem Friedhof. Das war der Alptraum, den die Karten erwähnten. Der Überfall hatte Spuren hinterlassen. Sie mied einsame Gegenden und drehte sich um, wenn ihr ein Geräusch verdächtig vorkam. Und natürlich war sie vorsichtiger und ängstlicher geworden. Aber das würde sich mit der Zeit wieder geben. Davon war sie überzeugt, und die Karten bestätigten das.
Sie erfuhr noch einiges über die Liebe und den Beruf. Alles passte sehr genau, und die Zukunftsaussichten auf beiden Gebieten waren ermutigend. Als Petra das Haus der Astrologin verließ, hatte sie das Gefühl, dass sie ihr Geld gut investiert hatte. Sie nahm eine Portion Lebensmut mit auf den Heimweg.
Auf der Bundesstraße 5 fuhr ein BMW hinter ihr, den sie zunächst nicht bemerkt hatte. Der Fahrer blendete mehrmals auf und setzte schließlich zum Überholen an. Als er auf einer Höhe mit ihr war, wies er mit dem Zeigefinger nach unten. Dann zog er vorbei und betätigte den rechten Blinker. Petra wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. War mit ihrem Auto etwas nicht in Ordnung? Vor ein paar Tagen hatte sie eine Werkstatt aufgesucht. Beide Vorderreifen waren erneuert worden, weil sie nicht mehr die erforderliche Profiltiefe hatten. Auf der Hinfahrt nach Bredstedt hatte sie merkwürdige Geräusche gehört. Hatten die Monteure die Radmuttern nicht richtig angezogen? Der BMW wurde langsamer. Auch sie verringerte die Geschwindigkeit. Immer noch blinkend bog der andere auf einen Parkplatz ab. Jetzt musste sie in Sekunden entscheiden, ob sie ihm folgen sollte. »Wenn du in Not bist, wird jemand da sein, der dir behilflich ist.« Die Worte der Astrologin fielen ihr spontan ein. Und von Vertrauen hatte sie gesprochen. Manchmal reichten Kleinigkeiten aus, um eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung zu lenken.
Petra folgte dem fremden Fahrzeug und stellte den Motor ab. Sie wollte gerade aussteigen, als der BMW zurücksetzte und auf ihren Golf auffuhr. Der Aufprall war nicht besonders heftig, dafür aber der Schock, der sie in diesem Augenblick durchfuhr. Sie verstand nicht, was gerade passiert war, und ehe sie sich gefasst hatte, wurde ihre Tür aufgerissen, und jemand legte den Arm um ihren Hals. Genauso wie damals auf dem Friedhof. Sie rang nach Luft und versuchte, sich zu wehren. Und wieder nahm sie den ekligen Geruch wahr, bevor sie das Bewusstsein verlor.
***
Helenas Tagebuch, 10. September
Petra hatte mir am Telefon erzählt, dass es Möglichkeiten gibt, mit Anna zu reden. Ich konnte das zuerst gar nicht glauben. Aber Mila Hus beherrscht das automatische Schreiben. Wenn die Verbindung funktioniert, führt Anna ihre Hand und kann sich mitteilen. Ich werde Mila bitten, es zu versuchen.
Markus werde ich nichts davon erzählen. Er würde es nicht verstehen. Vorgestern hat er sich betrunken. Bei allem, was er sagte, habe ich seine Vorwürfe herausgehört. Er gibt mir die Schuld an unserem Unglück. Dr. Bremer hat vorgeschlagen, dass wir an einer Selbsthilfegruppe teilnehmen. In Schleswig gibt es eine. Die Treffen sind jeden Mittwoch. Aber Markus will nicht mitgehen. Alleine werde ich nicht daran teilnehmen.
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