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Punnajis größter Einfluss auf mich und auf die Entstehung des zwischenmenschlichen Dhamma war sein Umgang mit den Lehren des Buddha. Auf der Grundlage tiefer Einsichten, die er in der Meditationspraxis erlebt hatte, wurde ihm klar, dass die Art, wie der Dhamma gelehrt wurde, zentrale Wahrheiten verdeckte. Er hatte sich in frühe buddhistische Lehren vertieft und festgestellt, dass er Schlüsselwörter neu übersetzen und beträchtliche Teile des Dhamma rekonstruieren musste. In das Gerüst dieser Lehren baute Punnaji westliche Psychologie und Philosophie ein, seinen eigenen Hintergrund als praktischer Arzt auf Sri Lanka und die Früchte aus seinem Leben und seiner Praxis. Von ihm lernte ich tiefen Respekt für die ganz frühen Quellen und gleichzeitig unerschütterliche Integrität in Bezug auf das Leben und die Meditation, wie ich sie erlebte. Ich lernte auch, dass Integrität manchmal bedeutet, neue Formen der Praxis zu finden, und dass das akzeptabel und angemessen ist.
Eine zweite Phase in der Entwicklung des Einsichts-Dialogs begann während meiner Promotion. Im Lauf des ersten Jahres beschlossen meine Kollegin Terri O’Fallon und ich, einen dialogischen Ansatz zu studieren, den David Bohm, ein Physiker, der eng mit Krishnamurti zusammengearbeitet hatte, vorgeschlagen hatte.5 In der Form einer Online-Übung präsentierten wir diese Art des Dialoges in einem Unterrichtsprojekt. Anfänglich lebte unsere Arbeit von einem Interesse an gemeinsamen Sinn-Inhalten und an der Art und Weise, wie Menschen kollektiv zu denken und zu handeln lernen. Bald wurde klar, dass noch etwas anderes entstand – etwas, was uns inspirierte, den Stil und die Ziele des Bohmschen Dialogs hinter uns zu lassen.
Terri hatte begonnen, bei mir Vipassanâ-(Einsichts-)Meditation zu studieren, und wir beide stellten fest, dass sich etwas veränderte, wenn wir unsere Meditationspraxis in die Dialogsitzungen einbrachten. Die Kraft der Achtsamkeit kam ins Spiel, und eine neue Klarheit entstand; der Dialog selbst wurde meditativ. Als sie und einige meiner Meditations-Schüler sich mir zu einem Retreat anschlossen, komprimierte ich das Dutzend Leitlinien, das Terri und ich für die Kombination aus Meditation und Dialog aufgestellt hatten, auf sechs und gab dieser Praxis, da sie von der Einsichts-Meditation inspiriert war, den Namen „ Einsicht-Dialog“. Bei diesem ersten Retreat waren unsere nachmittäglichen Dialoge unbeholfene Zwischenspiele während langer Tage stiller Vipassanâ-Meditation; aus Respekt für die traditionelle Praxis der Teilnehmer beendete ich nach ein paar Tagen die Dialogpraxis. Dass wir aber die Meditation in die Sphäre zwischenmenschlicher Interaktion eingebracht hatten, war für Terri und mich der Startschuss für den Einsichts-Dialog; das sollte mich auf Jahre hinaus inspirieren.
Nach diesem Retreat waren wir eine Vierergruppe, die ein Jahr lang auf privater Basis in einen regelmäßigen Online-Dialog traten und sich zweimal trafen, um den Dialog persönlich auszuprobieren. Die Zahl der Leitlinien wuchs auf neun, aber die Grundidee blieb gleich: Wenn Menschen gemeinsam praktizieren, kann daraus Achtsamkeit erwachsen. Die Online-Meditation wuchs zu einer kraftvollen eigenständigen Meditationsform heran. Terri und ich entwickelten eine Methodik zur Untersuchung der Meditation, „Insight Dialogic Inquiry“ („Einsicht durch dialogisches Erforschen“) und nutzten sie für eine gemeinsame Doktorarbeit über das Thema der Online-Meditationspraxis. Nachdem wir die Doktorarbeit abgeschlossen hatten, begann Terri im weiterführenden Bildungsbereich zu unterrichten und vermittelte ihren Studenten und ihrer spirituellen Gemeinschaft eine Variante der von uns entwickelten Praxis.
Eine weitere Phase begann, als ich anfing, wöchentlichen Meditationsgruppen in Portland, Oregon, den Einsichts-Dialog anzubieten. Eine fortlaufende engagierte Gruppe ermöglichte es mir, die Leitlinien weiterzuentwickeln und zu verfeinern und sie zur Grundlage der wöchentlichen Vorträge und Praxis zu machen.
1998 bot ich am „Barre Center for Buddhist Studies“ in Massachusetts ein Retreat an, das praktisch reine Einsichts-Dialog-Praxis war. Es war eine ziemlich unbeholfene Angelegenheit. Sechsunddreißig Menschen saßen in einem großen Kreis und hatten kein anderes Thema als Achtsamkeit, und ich als Lehrer redete zu viel, weil ich Gehör finden wollte. Mir fiel nichts Besseres ein! Trotz meiner Unbeholfenheit gab es in diesem Retreat schöne Momente und für viele auch hilfreiche Erfahrungen – dank der Kraft der Achtsamkeit, der sich herausbildenden Praxis selbst und unserer von Grund auf integren Absichten.
Im Lauf der nächsten sechs, sieben Jahre entwickelte sich die Praxis beträchtlich weiter. Es zeigte sich, dass diese zwischenmenschliche Meditation ein Eigenleben hatte. Meine Hauptübung war es, dem zu vertrauen, was jeweils ans Licht wollte, und sehr genau darauf zu achten, wo die Wahrheit vibrierte und wo andererseits Verwirrung, Selbststilisierung, kulturelle Prägungen und Spannungen dominierten. Die Praxis und mein Verständnis des Dhamma reiften heran. Ein Durchbruch, ein stiller Entwicklungsschritt nach dem anderen formten die Praxis.
Der erste echte Durchbruch zu ihrer Form begann mit einer kreativen Explosion, als ich im indischen Auroville ein Retreat leitete, in der spirituellen Gemeinschaft, die sich im Umkreis der Lehren des Hindu-Weisen Sri Aurobindo und der „Mutter“, seiner spirituellen Mitarbeiterin, gebildet hatte. Zuhause in Portland war mein spiritueller Weg auf die Probe gestellt worden, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte; dadurch schien der Boden für mehr Forschergeist und Risikofreude bereitet. Bei der Arbeit mit dieser Gemeinschaft von Menschen, die sich mit tiefem Ernst ihrem spirituellen Weg widmeten, erprobte ich viele Elemente zum ersten Mal: Aufteilung der Gruppen in Teilgruppen, Veränderung der Gruppengröße im Lauf des Retreats, explizite Vorgabe von Themen für die Dialog-Gruppen und das Vorstellen der Meditationstechnik in einer Sprache, die einer anderen spirituellen Tradition als der des Buddhismus entstammte.
Aus dem Gefängnis meiner Vorstellungen befreit, wie diese Praxis aussehen sollte, traf ich weitere Veränderungen, als ich die Praxis zurück nach Amerika brachte. Auf meine Intuition und die Erfordernisse des Moments achtend, begann ich andere Techniken einzubauen: Yoga, um körperliches Wohlbefinden zu fördern; Meditation in der Natur, um zu einer sanften Erweiterung des Bewusstseins zu ermutigen; gelegentlich eine Kombination aus Geh-Meditation und Dialog.
Ein weiterer großer Durchbruch ergab sich aus einer stillen Verzweiflung meinerseits, während ich ein Retreat bei der „Bhâvanâ Society“ leitete, einem Kloster in West Virginia. Meinem Prinzip folgend, auf das Entstehen zu vertrauen – das heißt, den Ritt auf dem Moment nicht durch irgendwelche Pläne stören zu lassen –, hatte ich einem Raum voller Menschen gerade die Meditationsanweisung „Innehalten“ vorgestellt, aber ich hatte kein Kontemplationsthema für den Dialog. Während die Gruppe von Mönchen, Nonnen und Laien-Praktizierenden paarweise dasaß, wurde es still im Raum, als ich mitten im Satz abbrach und nicht weiterwusste. Wie ich so vor der riesigen Buddhastatue stand und auf Inspiration hoffte, kam mir die Geschichte in den Sinn, wie Buddhas spirituelle Suche begonnen hatte. Bei Retreats mit Bhante Punnaji hatte ich diesem Thema nachgespürt, und das trug nun Früchte. Gautama, der Sohn eines Stammesfürsten, wollte etwas vom Leben außerhalb seines beschützten und privilegierten Daseins sehen und bat seinen Kutscher, ihn durch die Stadt zu fahren. Auf dem Weg sah er einen Alten, einen Kranken und eine Leiche. Jedesmal fragte er, ob dies allen zustoße; jedesmal bekam er zur Antwort: Ja, alle Menschen werden alt, krank und sterben. Der wohlbehütete Neunundzwanzigjährige war von diesen drei Boten schockiert, der Schock machte ihn aber auch geradlinig und aufrichtig. Er gab sein weltliches Leben auf und begab sich auf den Weg, der ihn zu tiefgründigem Erwachen führen sollte. In dem Moment, in dem ich mir diese Geschichte ins Gedächtnis rief, drehte ich mich um und schlug der Gruppe die erste von drei Kontemplationen vor: „Für Euren Dialog lade ich Euch ein zu einer Kontemplation über das Altern.“
Diese Kontemplationen schlugen eine Brücke zwischen der Lehre Buddhas und der zwischenmenschlichen Praxis und markierten den Beginn einer neuen Phase in deren Entwicklung. Obwohl mir das in seiner ganzen Tragweite noch nicht klar war, öffnete sich eine Tür zwischen dem Inhalt aller Weisheits-Traditionen und der Dialog-Praxis. Die grundlegenden meditativen Qualitäten dieser Praxis ließen sich bei der Kontemplation jedweder zentralen Aussage entwickeln. Die Aussagekraft dieser Inhalte – der Kontemplationen – klärte für mich die Beziehung zwischen Kontemplation und Meditation und zeigte mir den Weg zur Verdichtung der Meditationsanweisung auf drei simple Elemente: Innehalten – Entspannen – Öffnen; dem Entstehen vertrauen; tief zuhören – die Wahrheit sagen. Achtsamkeit und stille Besinnung waren das Fundament des meditativen Prozesses, während die Kontemplationen es möglich machten, dass die Praxis tief in unsere mentalen und emotionalen Konstrukte hinabreichte und sie mit einer Kraft transformierte, die ich mir niemals hätte träumen lassen. Auf diesem Fundament ruht heute der Einsichts-Dialog.
Seine gegenwärtige Entwicklungsphase begann damit, dass ich andere darin ausbildete, die Praxis weiterzugeben. Durch ihren Beitrag wurden die Retreats offener und boten mehr Zeit für die stille Meditation. Am wichtigsten ist, dass die neuen Lehrer ihr persönliches Verständnis des Dhamma und ihren individuell einzigartigen Lehrstil in die Dialogpraxis eingebracht haben. Weil diese Beiträge sich in den Kern der Praxis integrieren, ist dies nun auch eine Zeit des Blühens und Gedeihens.
Aus meiner Suche, wie sich die Lehren des Buddha so ehrlich wie möglich auf die Meditation wie auch auf menschliche Beziehungen anwenden lassen, ist ein neues Verständnis des Dhamma erwachsen. Diese Vision umfasst persönliche und gegenseitige Meditation und wird geleitet von einer Einsicht in die menschliche Verletzbarkeit und einer Vision des menschlichen Potentials zur Freiheit. Ein Weg, wie Menschen aufwachen und sich miteinander wohlfühlen können, hat sich aufgetan. Dieser Weg beinhaltet Gruppenpraxis im Retreat und in anderen organisatorischen Formen wie auch die Anwendung der Dialog-Leitlinien im Alltag, um ihn zu einem Prozess des Aufwachens und der Befreiung zu machen. Mein Weg dorthin schuldet vieles der Weisheit, dem Scharfblick und dem Rat anderer. Vor allem aber ist die Entwicklung des Einsichts-Dialogs der Spur des Dhamma gefolgt; ich versuche einfach, dem Geist dieser bemerkenswerten Entwicklung treu zu bleiben.
5 David Bohm, On Dialogue (London: Routledge, 1996). Deutsch: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen, hg. von Lee Nichol, Klett-Cotta, Stuttgart 1998


Ein waches menschliches Wesen
In den Lehren des Buddha geht es um das menschliche Leben. Um seine Lehren haben sich viele Rituale und Philosophien angesammelt – in jedem Land in anderer Form –, doch der Kern der Lehren hat damit nichts zu tun. Er hat damit zu tun, wie wir mit unserem allzu menschlichen Leben aus Leid und Freude klarkommen. Wir können Mut fassen angesichts der Tatsache, dass der Buddha ein Mensch war, kein Gott. Der Buddha lehrte, was er durch seine eigene menschliche Erfahrung gelernt hatte. Er bot seine Lehre anderen menschlichen Wesen an, die daraus Nutzen ziehen konnten, weil sie Menschen waren. Diese Menschlichkeit leugnet nicht die subtilen Aspekte unseres Wesens, diese Eigenheiten, die nur ein stiller, hellwacher Geist erkennt. Mit dem sensiblen Körper und Herz-Geist eines Menschen geboren zu werden, ist Geschenk und Herausforderung zugleich. Die Einsichten des Buddha sind von großer Tiefe und aktueller Relevanz, weil sie auf seiner direkten, im Körper verankerten Erfahrung beruhten. Er meisterte die Herausforderungen seines Lebens als Mensch und lehrte andere, es ihm gleichzutun. Es ist kein großer Unterschied, dass die Erde meine bloßen Füße jetzt ein paar tausend Jahre später berührt oder die Gedanken, die sich in meinem Kopf tummeln, vom Internet beeinflusst sind oder meine Emotionen ein modernes westliches Flair haben. Die Fakten unserer gemeinsamen Physiologie und der zartfühlenden Reaktionen des Herz-Geistes garantieren, dass diese menschlichen Lehren nach wie vor relevant sind.
Der Buddha erkannte, dass wir die meiste Zeit unseres Lebens in Stress und Verwirrung zubringen. Unser Schmerz wird genährt durch Hunger und Habenwollen und eine oft nahezu komplette Unkenntnis der Mechanismen von Ursache und Wirkung. Er sah, dass wir eine Fähigkeit zu Klarheit und Mitgefühl haben, die weitgehend ungenutzt bleibt, und dass wir fähig sind, frei zu sein von Ignoranz und irreführenden egoistischen Wünschen. Um diese Fähigkeiten zu realisieren, verordnete der Buddha einen tugendhaften Lebensstil und dazu eine Palette von, wie ich es nenne, außergewöhnlichen persönlichen Übungen. Das sind die Meditationspraktiken, die die meisten von uns kennen. Diese Praktiken verlangen von uns individuelle, persönliche Anstrengung (ob alleine oder in der Gruppe); sie unterscheiden sich von unseren gewöhnlichen Aktivitäten, und man übt sich in ihnen zu Zeiten und an Orten, die gezielt der Förderung von Qualitäten wie Achtsamkeit, stille Besinnung, Konzentration und Offenheit dienen. Diese Lehren entfalten sich in unserem alltäglichen Leben wie auch während der für die Praxis reservierten Zeiten. Wie die Lehren anderer Weisheitstraditionen sind sie verankert in Jahrtausenden von empirischer Forschung darüber, was moralisch vertretbares Verhalten ist und zu persönlicher Zufriedenheit führt. Wenn wir uns auf den Weg einlassen, machen uns diese klaren Resultate zuversichtlich und bilden auch die Basis für die weitere Entwicklung auf dem Weg.
Menschen aus unglaublich verschiedenartigen Kulturen haben die Lehren des Buddha ausprobiert und entdeckt, dass sie helfen. Während sie diese Lehren auf ihr Leben anwendeten und sich zu eigen machten, nahmen die Lehren den Geschmack und die Eigenarten verschiedener kultureller Formen und örtlicher Weisheitstraditionen an. Praktiken, Philosophien, Götter, Rituale, Entdeckungen blühten auf. Chinesische Einsiedler im 6. Jahrhundert gab es, Zen-Krieger im 12. Jahrhundert, und auf der tibetischen Hochebene praktizierte die Urbevölkerung eine Mischung aus Zauberei und Meditation. Von der Leerheit des Zen bis zur „Human-Potential“-Bewegung haben diese Versuche sich hauptsächlich auf individuelles und persönliches Wachstum konzentriert und ein breites Spektrum individueller und persönlicher Meditationsmethoden eingesetzt, um dieses Wachstum zu fördern – obwohl Meditation normalerweise im unterstützenden Umfeld einer Gruppe oder eines Klosters gelehrt wurde. In manchen Traditionen war das Leben in der Gemeinschaft eine zentrale transformative Praxis, aber sogar in diesen Traditionen war die Meditation selbst eine rein innerliche und persönliche Sache. Diese Konzentration auf das Individuelle zeigt sich auch heute, in der Erforschung der neurophysiologischen Basis von Emotionen und meditativen Zuständen. Während all dieser Entwicklungen sind zwischenmenschliche Ausprägungen individueller Praxis und zwischenmenschliche Formen der Praxis weitgehend außer Acht geblieben.
Viel von dem Stress in unserem Leben entsteht im Zusammenhang mit anderen Menschen; viel von unserer Abhängigkeit, Angst und Sehnsucht hat mit Beziehungen zu tun. Unsere Beziehungen sind oft ein Morast, in dem Ignoranz gefördert wird und gedeiht. Jemand verletzt zum Beispiel meine Ehre, und der Zorn kocht hoch. Ich verbeiße mich in meine scheinbare Verletzung und werde blind dafür, wie die Dinge sich wirklich verhalten. Aus solch einem zwischenmenschlichen Kontakt entstehen Gedanken und Emotionen, die wuchern und zu Auseinandersetzungen, Streit und Krieg führen. Wenn wir mit anderen in Kontakt treten und uns dabei hinter oberflächlich guter Laune oder einer Mauer des Hasses verstecken, denken wir nicht klar. Schnell sitzen wir in der Falle immer gleicher Gewohnheits-Kreisläufe. Da unser Potential zu mehr Unbefangenheit, Freude und Mitgefühl uns nicht bewusst ist, lassen wir die Früchte zwischenmenschlicher Freiheit links liegen – wir wissen nicht einmal, dass sie existieren. Wie das Leben wohl wäre ohne die zwischenmenschlichen Ängste und Sehnsüchte? Wie würden wir andere Menschen behandeln, wenn wir ihre Verwandtschaft mit uns erkennen und sehen würden, dass unser Herz genauso traurig und verletzt ist? Können wir unsere sozial konstruierten Selbstbilder wirklich aufgeben? Und wenn ja, wie könnte unser Leben aussehen? Wie könnte die Welt aussehen, wenn wir einander ohne die Verdrehungen von Stress, krampfhafter Fixierung und Habenwollen begegnen könnten? Was wäre, wenn wir – gemeinsam – die Liebe kosten könnten, die in einer empfänglichen Stille liegt?
Es scheint nicht klug, die zwischenmenschliche Dimension unserer spirituellen Entfaltung zu vernachlässigen. Zwischenmenschliche Praktiken können uns helfen, zufriedenere, fürsorglichere Menschen zu werden. Sie können auch den Weg zu außergewöhnlicher zwischenmenschlicher Entwicklung frei machen, einer Entwicklung, die der persönlichen Erkenntnis-Verwirklichung vergleichbar wäre, die von den Weisen früherer Zeiten beschrieben wurde und heute von der westlichen Psychologie neu entdeckt wird. Diese Entwicklung schließt die seltenen Zustände, bemerkenswerten Einsichten und Ansätze in Richtung Freiheit ein, die in tiefer Praxis entstehen können. Sie schließt auch die Verwirklichung unserer Fähigkeit ein, echte Fürsorge für andere zu haben und gütig und großzügig mit ihnen zusammenzuleben. Auf dem Weg zum Erwachen gibt es keine Trennung zwischen emotionaler und spiritueller Gefangenschaft. Frei zu sein und Mensch zu sein – ein anständiges menschliches Wesen –: Beides liegt auf demselben Weg außergewöhnlicher zwischenmenschlicher Entwicklung, einem Weg zu mehr Zufriedenheit, Weisheit und Mitgefühl.
Diese zutiefst menschliche Bedeutung des Weges ist zentral für die Lehre des Buddha, aber, wie Stephen Batchelor und andere dargelegt haben6, das konkrete Gefühl für die Person Gautama und dafür, wie seine Lehren die alltäglichen Probleme unserer Existenz behandeln, hat sich immer wieder vom Menschlichen weg in etwas Mythologisches verwandelt. Im frühen Buddhismus stellte man sich den Buddha irgendwann als jemanden vor, der ausschließlich in stiller Versenkung ruhte. Seine Rückenschmerzen, sein beängstigend gescheites Spiel mit der Sprache und sein ironischer Humor wurden ignoriert; für die meisten wurde er so zu einem übermenschlichen Ideal statt einem hoch entwickelten menschlichen Wesen. Es ging der Mensch verloren, der in seinem letzten Lebensjahr sagte: „Ananda, ich bin jetzt alt, in der Neige meiner Jahre, ein Greis, meine (Lebens-)Reise geht zu Ende, ich habe die Grenze erreicht: 80 Jahre werde ich alt. Wie ein abgenutzter Karren nur noch mit Hilfe von Riemen funktionsfähig gehalten wird, so ist auch mein Körper nur noch mit Bandagen funktionsfähig.“7
Als Reaktion auf diese Entmenschlichung wurde der Buddha im Mahayana-Buddhismus als Bodhisattva rehumanisiert – als jemand, dem ganz viel an den Menschen lag. Das konkrete Beispiel seines Lebens galt darin als viel beeindruckender als seine formalen Lehren. Im chinesischen Ch’an- und im japanischen Zen-Buddhismus wurde betont, dass er einer von vielen Buddhas gewesen sei – und da diese Traditionen sich auf eine Vielzahl von Überlieferungslinien großer Lehrer konzentrierten, traten sowohl die Menschlichkeit Gautamas als auch der Kern seiner frühen Lehren in den Hintergrund. Der Buddha und seine Lehre wurde in Tibet wieder revitalisiert und konkret gemacht, verkörpert im üppigen Reichtum der Praktiken des Vajrayana-Buddhismus. Im Lauf der Zeit gewannen Rituale und Formalitäten an Gewicht und verdrängten den Menschen und was er gelehrt hatte. In jedem dieser Fälle, vom frühen Buddhismus und der Theravada-Tradition bis zu Mahayana, Zen und Vajrayana, in einer Gesellschaft nach der anderen, schwand der Sinn für diesen voll entwickelten Menschen Buddha. Und jedesmal, wenn der Sinn für Buddhas Menschlichkeit verloren ging, ging auch eine unbezahlbare Erkenntnis verloren: dass aus diesem fleischlichen, fruchtbaren menschlichen Erleben Befreiung erblühen könnte.
Menschen sind eine soziale Spezies. Der spirituelle Weg wird in diesem Buch als etwas präsentiert, was unsere angeborene, unausweichlich soziale Natur mit einschließt. Der Dhamma wird in sehr direkten, menschlichen Begriffen dargeboten und muss daher unser Leben in Beziehungen umfassen. Die spezielle Praxis, die ich hier als Teil dieses Weges anbiete, der Einsichts-Dialog, ist sowohl eine Praxis für die Lebensführung als auch für das intensive Retreat. Sie deckt jenen Teil des Weges ab, der am meisten vernachlässigt worden ist – den zwischenmenschlichen –, und ermöglicht tiefe Abgeklärtheit und Einsicht, begleitet von engagiertem Mitgefühl. Die Weisheit, die aus den Problemen von Buddhas Erfahrung als Mensch entstanden ist, bezieht sich auf die Probleme, denen wir jeden Tag gegenüberstehen. Schließlich sind das Erhabene und das Alltägliche in dieser gemeinsamen menschlichen Erfahrung miteinander verflochten.
6 Stephen Batchelor, Buddhism Without Beliefs (New York: Riverhead Books, 1997), S. 4 f. Deutsch erschienen unter: Buddhismus für Ungläubige. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1998.
7 Dîghanikâya (=DN) 16.25, zitiert nach: Hans Wolfgang Schumann, Handbuch des Buddhismus, Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 2000, S. 123. (Wo nicht, wie hier, eine deutsche Quelle angegeben ist, stammen die deutschen Versionen aller Zitate vom Übersetzer.)
Teil zwei

Vier zwischenmenschliche Wahrheiten


Die Erste Edle Wahrheit:
Zwischenmenschliches Leiden
Der Buddha war ein praktischer Lehrer. Die Regeln für das Klosterleben, seine Analyse des Geistes und eine breite Vielfalt von Meditationspraktiken erwuchsen alle aus der Erforschung des
menschlichen Erlebens. Bei jeder Gelegenheit lehrte er die Mitmenschen, sich nicht auf sein Wort zu verlassen, sondern selbst nachzuprüfen, wie das Leben ist. Die grundlegendste Lehre des Buddha, die Vier Edlen Wahrheiten, waren auch das, was er nach seiner Erleuchtung als Erstes lehrte. Diese Lehraussagen werden hier in zwischenmenschlichen Begriffen präsentiert.
Im Geiste dieses „Prüfen Sie es selbst nach“ wird der Leser in diesem Teil des Buches ein paar Gedanken oder kleine Beobachtungs-Übungen zu den vorgestellten Wahrheiten finden. Sie verstehen sich als Beispiele dafür, wie diese Weisheit sich erfahrungsmäßig verifizieren und direkt in unser Leben übernehmen lässt. Sie liefern Anhaltspunkte für diejenigen, die diese Lehren verinnerlichen und von ihnen profitieren möchten.
Die Tatsache des Leidens
Wenn wir unsere menschliche Grundsituation8 ehrlich anschauen, sehen wir Stress.
Von vereinzelten Momenten der Freude unterbrochen, sehen wir Stress in kleinen Unannehmlichkeiten – der schrillen Stimme eines Nachbarn, Harndrang – wie auch in dem riesigen Leid bedingt durch Krankheiten, Scheidungen und Naturkatastrophen. Ganze Industriezweige haben sich entwickelt, die uns helfen, uns von unserem Elend abzulenken, unsere Frustrationen und Beschwerden abzutöten: elegante Kleidung, luxuriöse Häuser, fesselnde Filme, Musik und Alkohol und die Kneipen, die ihn anbieten. Das Leiden des Menschen ist nichts Neues.
Wir können diesen Spannungen direkt ins Auge blicken; sie sind immer da, wenn wir es wirklich wissen wollen. Oft wollen wir dem Leiden nicht ins Auge sehen. Meist fühlt man sich sicherer, es zu leugnen oder zu ignorieren. Vielleicht haben wir Angst, das Leiden würde intensiver werden, sogar überwältigend, wenn wir es, ohne auszuweichen, anschauen. Diese Befürchtungen sind allerdings unbegründet. Der Tatsache des Leidens ganz klar ins Auge zu blicken gehört zu den wenigen Dingen, die wir tatsächlich tun können und die insgesamt wirklich Erleichterung bringen. Dies wurde zu Buddhas Zeiten empirisch entdeckt und kann auch jetzt experimentell wieder nachgewiesen werden.