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»Hier geht es um Tradition!«
»Ich dachte, hier geht’s um Glühbirnen.«
Welf schnaubte. »Du hast keine Ahnung.«
»Und keinen Cent in der Tasche, um aus der Schrat wieder die Schreckensfahrt zu machen, Welf. Vor allem dann nicht, wenn wir die Birnen dafür einzeln im Antiquitätenladen ersteigern müssen! Dieser Kasten hier ist alt, staubig, klapprig, und natürlich könnt ihr die Leute besser erschrecken als jede andere Geisterbahn auf der Welt! Aber dafür müssen die Leute erst mal hier reingehen und vorher Eintritt löhnen. Und das wird schwierig, wenn das Ding von außen aussieht wie ein Schrottplatz und man sich fragt, was einen wohl erwartet in der Schrat. Wir brauchen Monitore, die zeigen, was drin abgeht! Wir brauchen computergesteuerte Figuren auf der Balustrade, coole Sounds, coole Mucke und Lichteffekte hier draußen! Sonst kacken wir einfach nur ab, und dann sind wir noch mehr pleite, als wir eh schon sind!«
Der Werwolf wollte etwas erwidern, doch dann schwieg er. Tom wartete ab. Er wusste, dass er die besseren Argumente hatte, aber vielleicht hätte er sie doch weniger patzig vorbringen können.
»Du hast ja recht, Junge«, murmelte Welf plötzlich. »Modernisierung ist nicht gerade unsere Stärke. Mimi ist die Einzige von uns, die sich mit Smartphones, Computern und Internet auskennt, und das, obwohl sie nicht einmal selbst klicken kann. Wir anderen hätten gerne alles am liebsten so, wie es immer war.«
Für Welfs Verhältnisse war das eine ziemlich lange Rede gewesen und sehr persönlich noch dazu. Tom brauchte einen Moment, bis er die richtige Antwort gefunden hatte. Doch dann legte er seinem Bonus-Onkel die Hand auf die kräftige Schulter und sagte: »Lass uns aufbauen.«
Ein Lächeln umspielte Welfs schmale Lippen. Dann nickte er.
»Und wie fangen wir jetzt an?«, fragte Tom.
»Sobald es hier richtig stockfinster ist, legen wir los. Und wenn es hell wird, werden wir fertig sein«, sagte Welf.
In dem Moment gingen links und rechts von ihrem Standplatz flackernd zwei Straßenlaternen an und tauchten Zirkuswagen und Truck in helles Neonlicht. Fragend blickte Tom zu Welf. Der zog nur kurz die Augenbrauen hoch und stapfte los in Richtung der ersten Laterne. Dort angekommen, sah er sich kurz verstohlen um. Kaum war er sicher, dass niemand außer Tom zu ihm hersah, hatte er mit einem einzigen Ruck die Serviceabdeckung im Sockel abgerissen.
Krass, wie kann der eine verschraubte Metallplatte einfach so abrupfen?, fragte sich Tom.
Noch erstaunter war er, als Welf einfach in das Kabelgewirr fasste. Es blitzte und britzelte kurz, dann ging die Laterne aus. Nur Sekunden später erlosch auch das Licht der anderen Laternen links und rechts von ihrem Standplatz.
Tom zuckte zusammen, als der Werwolf urplötzlich wieder neben ihm stand. »Wie kannst du so verdammt schnell sein?«, staunte er. »Und was hast du verdammt noch mal für Fingernägel?«
Welf hob seine Hand, und Tom sah, wie sich die dicken, spitzen Nägel wieder in die Finger zurückzogen. Er schluckte. »Wie macht man denn da Maniküre? Mit einer Flex?«
Der Werwolf lachte heiser. »Nein, tatsächlich kann ich sie nur mit den eigenen Zähnen stutzen. Die sind noch härter.«
Tom grinste. »Cool, eine Ausrede zum Nägelkauen. Und jetzt?«
»Jetzt ist es dunkel genug, dass wir beide nicht alles alleine aufbauen müssen.«
Welf stieß einen lauten Pfiff aus, und kaum war der Ton verklungen, bemerkte Tom, dass sich in den Schatten rund um ihren Truck etwas bewegte. Die Ladeklappe öffnete sich, und für wenige Sekunden glaubte er, die Schemen des Vampirs zu erkennen, der ein paar seltsame Bewegungen mit den Händen vollführte.
Doch da schien die Luft zu flimmern, und alles war wieder wie vorher. Auch der Truck war plötzlich wieder verschlossen, und nichts rührte sich mehr. Tom wollte sich gerade an Welf wenden, doch der sah ihn geheimnisvoll an und grinste. »Bleib einfach hier stehen und zähl bis hundertvierundzwanzig. Wenn jemand kommt, ruf mich, okay?«
Tom nickte. »Okay. Aber …« Er stockte, als der Werwolf nach wenigen Schritten einfach verschwunden war. Wie konnte das sein? Welf war zwar schnell, aber nicht SO schnell. Verwundert starrte Tom in die Dunkelheit hinein. Aber dort war nichts zu sehen, was nicht die ganze Zeit zu sehen gewesen war. Der Zirkuswagen, der Truck und jede Menge Dunkelheit.
Mussten die jetzt nicht mal irgendwas ausladen? Und das Ausgeladene dann zusammenbauen und festschrauben und …
Na ja, er würde das bestimmt alles gleich erfahren. Tom zuckte mit den Schultern und begann, leise zu zählen.
Ein bisschen doof kam er sich schon vor, hier zählend in der Dunkelheit zu stehen und dabei auf einen Lastwagen zu starren, um den sich nichts – aber auch wirklich gar nichts – bewegte.
»Hundertachtzehn, was soll’s, hundertneunzehn, gleich weiß ich ja, hundertzwanzig, was sie sich dabei ged– AH!«
Der Werwolf war wie aus dem Nichts direkt vor ihm erschienen! »Oh Mann, Welf, musst du mich so erschrecken, ey!«
»Komm«, sagte Welf nur und winkte Tom zu sich heran.
Sein Onkel gab sich alle Mühe, es zu verbergen. Trotzdem bemerkte Tom, dass er es kaum erwarten konnte, ihm zu zeigen, was auch immer er ihm zeigen wollte.
Neugierig und auch ziemlich aufgeregt ging Tom ein paar Schritte auf seinen Onkel zu, doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und staunte sich das Hirn aus dem Kopf.
Direkt vor ihm stand von einem Wimpernschlag zum nächsten die Geisterbahn – fertig aufgebaut und betriebsbereit!
»W… wie … aber … das …«, stotterte Tom und blinzelte in das Licht der unzähligen Glühbirnen an der Fassade.
Mimi war im Licht der vielen Lampen kaum zu erkennen, aber ihre Stimme erklang direkt neben ihm. »Hihi, cool, oder?«
»Obersupermegacool!«, brachte Tom hervor.
»Wenn du wissen willst, wie das geht, tritt mal ’nen halben Meter zurück«, forderte Mimi ihn auf.
Tom nickte und machte einen Schritt rückwärts. Urplötzlich stand er wieder im Dunkeln, und von der Geisterbahn war nichts mehr zu sehen. Einer Ahnung folgend ging er wieder ein Stück vorwärts, und da stand sie wieder, als wäre sie nie weg gewesen! Wie war das möglich?
Inzwischen hatten sich auch die anderen bei ihm eingefunden, und vor allem Vlarad war anzusehen, wie er den Moment genoss. »Na, was sagst du, Tom?«, fragte er neugierig und grinste so breit, dass seine spitzen Eckzähne im Schein der tausend Glühbirnen blitzten.
»Moment noch«, antwortete Tom. »Ich komm drauf.« Nun war sein Ehrgeiz geweckt, und er wollte unbedingt selbst herausfinden, wie seine untoten Freunde das angestellt hatten.
Tom probierte den verrückten Effekt noch ein paarmal aus und verringerte dabei jedes Mal die Größe seines Schritts. Schnell hatte er genau die Stelle gefunden, an der er nur den Kopf vor- und zurückbewegen musste, um die Schreckensfahrt erscheinen oder verschwinden zu lassen.
»Okay, ich glaub, ich hab’s«, sagte er schließlich. »Ihr habt einfach ein Foto vor die Kamera gepackt, stimmt’s?«
Der Vampir sah ihn fragend an, und Tom lachte. »Na ja, so erklär ich mir das zumindest. Ich hatte so was mal in einem Schleichspiel auf dem PC. Da musste man unerkannt in eine geheime Anlage, wo Ufos versteckt waren. Und damit die Überwachungskameras einen nicht entdecken, musste man Fotos machen von dem, was die Kameras sehen, und diese Fotos dann direkt vor der Linse befestigen. Und so ist das hier auch, oder? Als ich dich vorhin gesehen habe, hast du mit den Händen rumgefuchtelt und irgendwas rumgezaubert. Und plötzlich war die Ladeklappe von unserem Truck wieder zu. In Wirklichkeit hast du kurz vorher eine Art magisches Foto gemacht, das irgendwie drumrum … gedingst, und ihr habt hinter diesem Bild in Superspeed die Geisterbahn aufgebaut.«
Tom bewegte sich noch einmal zum Test vor und zurück. Wieder verschwand und erschien die Geisterbahn, als hätte jemand ein Fernsehprogramm umgeschaltet. »Ach ja …«, setzte er dann noch nach, »ist wohl eher ein Film als ein Foto, denn es bewegen sich die Blätter an den Bäumen und man hört die Autos vorne an der Straße vorbeifahren. Krass. Aber ich bin mir sicher, so muss es sein.«
Der Vampir nickte zufrieden. »Sehr schön erklärt, mein Junge. Wir mussten uns irgendetwas einfallen lassen, um auf- und abzubauen, ohne dass man uns dabei zusieht. Nicht nur, weil wir schneller sind als jeder Mensch, sondern auch, weil es für einiges Erstaunen sorgen könnte, wenn ein Zombie mit der einen Hand die Fassade einer Geisterbahn durch die Gegend trägt und mit der anderen einen rosa Stoffhasen. Irgendwann in der Nacht kundschaftet Mimi dann die gesamte Umgebung aus. Sobald wir sicher sind, dass niemand zusieht, entferne ich das magische Abbild, das uns umgibt – und dahinter erscheint die Schreckensfahrt.«
Tom lachte begeistert. »Um uns rum ist also echt ein schalldichtes 360-Grad-Video. Wahnsinn! Ihr seid einfach der Hammer, Leute! Echt, ey. Ey, echt!«
»Verbindlichsten Dank, Junge«, sprach Vlarad und verneigte sich leicht.
Da kam Mimi wieder angeschwebt, und Tom spürte ihre Präsenz eher, als dass er sie im Licht der vielen Lampen wirklich erkennen konnte. »Es ist aber noch zu früh, Vlarad. Vorne an der Hauptstraße fahren immer mal wieder Leute vorbei, und von den anderen Standbetreibern sind auch noch ein paar bei der Arbeit. Lass uns bis nach Mitternacht warten.«
»Eilt ja nicht«, brummte Welf und sah zu Vlarad.
Der nickte. »Du bestimmst den Zeitpunkt, Mimi. Vorsicht ist unsere wichtigste Tugend. Wombie, bitte setze doch so lange schon einmal die Wagen in die Schienen. Hop-Tep, bitte bemächtige dich der schnelltrocknenden Farbe und des Pinsels und bessere die Stellen in der Deko aus, wo man das Styropor durchscheinen sieht.«
Ohne eine weitere Regung zu zeigen, stapfte der Zombie davon. Hop-Tep brummelte immerhin etwas, das man wie eine Zustimmung deuten konnte, und machte sich ebenfalls an die Arbeit.
»Ihr seid so unfassbar krass«, sagte Tom noch einmal, und Mimi lachte ihr glockenhelles Lachen. »Schön, dass es dich so beeindruckt hat. Vlarad ist auch ganz schön stolz drauf.«
»Zu Recht, Mimi«, bekräftigte Tom. »Aber sag mal, kannst du mir nicht wenigstens ein bisschen mehr über diese Gefahr erzählen, in der wir angeblich alle schw…«
Tom hätte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht mit dem, was nun geschah. Zunächst spürte er, dass die Erde wieder bebte. Doch dabei blieb es nicht.

Kapitel 5: Die erste Attacke
Ein lauter Krach und ein unterdrückter Schrei ließen Tom und Mimi erschrocken aufblicken: Direkt vor ihnen schlug etwas in den Boden ein und explodierte wie eine Feuerwerksrakete in unzähligen Farben. Gleichzeitig spürte Tom, wie ihn etwas Feuchtes im Gesicht traf. Er schrie auf, wischte sich das Zeug von den Augen, und als er daraufhin seine blutverschmierten Hände sah, schrie er gleich noch viel lauter.
Tom stolperte panisch zur Seite, hörte dabei etwas scheppern, spürte plötzlich, dass sein linkes Bein von irgendwem festgehalten wurde, und schlug der Länge nach hin. Abermals krachte es blechern, und als Tom sich aufrappeln wollte, rutschte er auf dem nassen Boden aus und fiel sofort wieder mit dem Gesicht in die ekelerregende Suppe.
»Hilfe …«, hustete er und krabbelte blind vorwärts, um dem glibberigen Zeug irgendwie zu entkommen. Dabei stieß er gegen irgendetwas Weiches, das sich zu seinem Horror auch noch bewegte.
»Ah! AAHHH!«, schrie Tom und schlug mit Händen und Füßen panisch um sich. Irgendwer oder irgendwas gab ein dumpfes Stöhnen von sich, und Tom bemühte sich sofort, noch mehr und noch fester um sich zu prügeln, um das Ding möglichst weit von sich fernzuhalten.
Doch von einem Moment zum nächsten konnte er sich nicht mehr bewegen, seine Arme und Beine waren wie festgenagelt. Dazu hörte er die raue Stimme seines Onkels Welf direkt neben seinem rechten Ohr. »Tom. Beruhig dich. Alles okay.«
»Alles okay?!«, schrie Tom. »Ich bin voller Blut, und hier ist irgendwer, und ich kann ihn nicht sehen! Tu doch was! AAAAAAHHH!«
»Tom. Es ist alles gut. Wirklich«, hörte er da Mimi an seinem linken Ohr flüstern, und ihre Stimme half ihm tatsächlich, sich zu beruhigen. Tom atmete ein paarmal so entspannt durch, wie es ihm möglich war.
»Ich lass jetzt deine Arme los, Tom«, vernahm er Welfs Stimme ruhig neben sich. »Wisch dir erst mal das Zeug aus den Augen und sieh dich um.«
Tom spürte, dass sich der eiserne Griff um seine Handgelenke lockerte, und verstand, dass es Welf war, der ihn festgehalten hatte. Er tat, wie ihm geheißen, und strich sich mit den Fingern über die Augen, bis er sie öffnen konnte. Dann sah er sich um.
Um Tom herum sah es aus, als hätte man eine Kindergartengruppe mit tausend Litern Fingerfarben auf ihn gehetzt. Das Kopfsteinpflaster schillerte in allen Regenbogenfarben, und Tom selbst ganz genauso. Ja, seine Hände waren rot, aber der Rest von ihm war blau, gelb, grün, lila, schwarz, weiß, rosa, aubergine, beige und mehrere Mischformen all dessen.
Neben ihm hob Hop-Tep den Kopf. Er war nicht nur über und über mit allen Farben bekleckert, es klebten auch diverse Pinsel an ihm, und obendrauf thronte ein Farbeimer, als hätte er sich zum Schutz einen sehr albernen Helm aufgesetzt.
Tom sah an sich hinunter und erkannte nun auch, dass ihn in Wirklichkeit niemand am Fuß festgehalten hatte. Er war einfach nur in einen Farbeimer getreten, und sein Schuh hatte sich mit der Gummisohle ganz wunderbar darin festgeklemmt.
Er hob den Blick, und aus dem ersten Stock der Geisterbahn gähnte ihn das große Loch an, durch das Hop-Tep offensichtlich gebrochen war.
»W… was war denn los, um Gottes willen?«, fragte Tom und rappelte sich auf.
Hop-Tep brabbelte aufgeregt unter seinen Bandagen hervor und zeigte wiederholt nach oben zu dem Loch.
Mimi schwebte vor ihm hin und her. »Er sagt, er hätte gerade mit den Malerarbeiten begonnen, als sich etwas direkt vor ihm aus dem Boden erhob. Bevor er sehen konnte, was es war, hat es ihn gepackt und einfach durch die Wand geworfen. Und schalte endlich deine Telepathie ein, ich will nicht dauernd übersetzen.«
Tom nickte abwesend und sah zu den anderen, die sich natürlich längst an dem überbunten Tatort eingefunden hatten. Welf war da und Vlarad ebenso.
»Wo ist Wombie?«, fragte er, und gleichzeitig rollte er seinen Ärmel hoch.
Tom war dank einer magischen Verbindung nicht nur in der Lage, mit den anderen telepathisch zu kommunizieren – also in Gedanken zu sprechen. Mit einer Art Geister-Navi auf seinem Arm konnte er jederzeit sehen, wo sich wer befand. Wenn er es nicht mal wieder vergaß …
Ein rötlich schimmernder Punkt unter der Haut am Unterarm zeigte ihm, dass sich Wombie wohl nach wie vor im Inneren der Schreckensfahrt befinden musste. Der Punkt bewegte sich nicht. Das war für Wombie normalerweise nichts Ungewöhnliches. Der Zombie konnte tagelang an der gleichen Stelle stehen und so lange auf eine Bodenfliese starren, bis diese grau anlief. Aber vorhin hatte er ja eine Aufgabe bekommen, und eigentlich konnte ihn nichts daran hindern, diese auszuführen.
»Mimi, kannst du bitte mal nachsehen, ob mit Wombie alles okay ist?«, bat Tom das Gespenstermädchen.
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, war sie weggesaust, und nur einen Augenblick später war sie auch schon wieder da.
»Schnell, kommt mit! Ihr müsst helfen! Los!«, rief sie aufgeregt und flatterte voraus. Welf und Vlarad rannten sofort die Stufen zum Eingang der Geisterbahn hinauf und verschwanden im Inneren. Auch Hop-Tep und Tom wollten ihnen folgen, aber das war nicht ganz so einfach …
»Oh Mann, wir kleben fest!«, rief Tom zu der Mumie hinüber. »Die verdammte Farbe ist getrocknet, ich fass es nicht. Was machen wir denn jetzt?«
Tom schaffte es immerhin, den Fuß vom Boden zu lösen, der nicht in dem Eimer klemmte. Aber sein Hosenboden pappte bombenfest auf dem Kopfsteinpflaster. Er sah zu Hop-Tep, den es noch viel schlimmer erwischt hatte: Seine Bandagen hatten sich voll Farbe gesogen, klebten nun überall auf dem Boden, auf ihm und vor allem aneinander.
Es war erstaunlich, was man einer Mumie mit ein paar Eimern schnelltrocknender Farbe alles antun konnte. Der arme Kerl konnte sich trotz seiner übermenschlichen Kräfte kaum mehr bewegen.
Eine Idee musste her. Na ja, Tom hatte zwar bereits eine, war sich aber nicht so sicher, wie wahnsinnig genial diese war. Erst einmal musste er irgendwie aufstehen, denn ein wichtiger Teil seiner Idee befand sich im Zirkuswagen. Und der war verdammt schwer zu erreichen, wenn man mit der Hose auf dem Boden klebte.
»Och nö …«, stöhnte Tom laut, als ihm klar wurde, was die einzige Lösung war. Trotzdem tat er sofort, was getan werden musste, schlüpfte aus den Schuhen, öffnete dann seine Hose und rutschte rückwärts ruckelnd aus der Jeans. »Ich bin gleich wieder da, Hop-Tep!« Tom lief hosenlos zum Zirkuswagen. Währenddessen rief er telepathisch nach Mimi, damit sie ihm endlich mitteilte, ob mit Wombie alles okay war.
Wir haben ihn gefunden, er lag in den Gleisen neben Vlarads Sarg, erklang sofort die Stimme des Geistermädchens in seinem Kopf. Irgendwer oder irgendwas hat ihn doch glatt mit unseren Geisterbahn-Gondeln ausgeknockt, Tom! Und das, obwohl der Einzige, der stark genug ist, um diese Wagen zu werfen, Wombie selbst ist! Er war begraben unter allen zwölf Gondeln!
Das ist nicht gut, gar nicht gut, dachte Tom. Wie geht’s ihm denn?, fragte er stattdessen, als er die große Ladeklappe öffnete, die sich unterhalb des Bodens zwischen den Rädern des Wagens befand.
Ach, Wombie geht’s wie immer. Falls er tatsächlich einen Knacks im Schädel davongetragen hat, kann Welf ihm den sicher wieder zutackern.
Na, hurra, sendete Tom zu Mimi hinüber. Gut, dann bis gleich. Ich muss mich um Hop-Tep kümmern.
Endlich hatte er auch gefunden, was er suchte, und rannte umgehend zurück zur Mumie.
»Das hier ist ein Kanister voll Spiritus, Hop-Tep!«, erklärte Tom schnaufend. »Es löst auf jeden Fall die Farbe auf, aber es stinkt ganz furchtbar, ist leicht entflammbar, schmeckt scheiße, und die Dämpfe sind giftig. Also kommt es so ein bisschen drauf an, wie unsterblich du bist …«
Der ägyptische Prinz war nur noch in der Lage, eine Hand zu bewegen. Diese zeigte aber deutlich so etwas wie »Los-nun-mach-schon!«.
Tom nickte. »Also gut, aber bitte trotzdem Luft anhalten, wenn es geht.« Dann schob er sich den Kragen seines Hemdes als improvisierten Atemschutz über die Nase, öffnete den Kanister und besprenkelte Hop-Tep so gleichmäßig wie möglich mit dem stechend riechenden Alkohol.
Schnell entfaltete die Chemikalie ihre Wirkung: Hop-Tep musste ein paarmal so heftig niesen, dass sich die Bandagen um seinen Kopf aufblähten. Aber tatsächlich wurden die Farbschichten durch den Verdünner wieder flüssig, und schon nach einer halben Minute konnte die Mumie sich endlich aufrichten.
Hop-Tep streckte die knochigen Glieder und schüttelte sich. Ich danke dir, mein Junge, hörte Tom die Mumie in seinem Kopf salbungsvoll sprechen, und der ägyptische Prinz deutete eine Verbeugung an.
»Aber immer gerne«, entgegnete Tom. »Bis gleich. Und offene Flammen meiden.«
Die Mumie nickte noch einmal höflich und schlurfte dann umgehend davon, um sich einer zeitraubenden Neu-Bandagierung zu widmen.
Da kam Mimi mit Welf und Vlarad aus der Geisterbahn, dicht gefolgt von Wombie. Aber erst als der Zombie seinem Stoffhasen Odor das verbliebene seiner ehemals zwei Knopfaugen zuhielt, bemerkte Tom, dass irgendetwas nicht stimmte. Welf sah irgendwie amüsiert aus, und Mimi schaute angestrengt hinauf zum Mond, der hinter den Wolken gar nicht zu sehen war. Der Vampir hatte sich hinter seiner aristokratischen Miene versteckt, und nichts war aus seinem Gesicht zu lesen.
Ach so, die Hose, erinnerte sich Tom in dem Moment und winkte lachend ab. »Also bitte, ich denke, auch ihr werdet in eurem früheren Leben schon mal ein Schwimmbad besucht haben.«
»Trägt man heute in den Schwimmbädern etwa keine Badehosen mehr?«, wollte Welf wissen, und Tom fühlte sich von einer Sekunde auf die andere recht luftig um die Hüften.
Er warf einen ahnungsschwangeren Blick zu seiner Hose, die nach wie vor auf dem Boden pappte … und tatsächlich spitzte da ein Teil seiner Unterhose raus.
»Das … ist der peinlichste Moment in meinem gesamten … Leben …«, gluckste es aus Tom heraus. »Ich … Wenn mich jemand … Ich bin in … Oh Gott, ich sterbe.«
Er griff mit beiden Händen an sein Hemd und zog es so weit herunter, bis die Nähte hörbar knacksten. Dann lief er in geduckter Haltung zurück zum Zirkuswagen und schlug lautstark die Tür hinter sich zu.

Kapitel 6: Der auch noch
Tom hatte sich die gesamte restliche Nacht nicht aus seinem Wagen getraut. Und auch am Morgen fand er einfach nicht den Mut, aufzustehen und den anderen in die Augen zu sehen.
Dafür nahm ihm jemand anderes die Entscheidung ab, indem er betont rhythmisch an die Tür klopfte.
Auf dem Weg zur Tür vergewisserte sich Tom drei Mal, ob er auch wirklich, wirklich eine Hose anhatte. Dann erst fasste er an den Türknauf, sah noch mal an sich herunter, ob er auch wirklich eine Hose anhatte, und öffnete.
Vor ihm stand Zoracz und hinter ihm seine geheimnisvolle Begleiterin, wie immer ganz in Rot gekleidet.
Tom hatte mit den beiden bereits vor einigen Wochen Bekanntschaft gemacht, kurz nachdem er die Geisterbahn von Omas Bruder, Großonkel Heinrich, geerbt hatte. Und dieser Zoracz war ein ziemlich übler Zeitgenosse, der Tom die Schreckensfahrt um jeden Preis abluchsen wollte.
»Was machen Sie denn hier?«, stieß Tom überrascht hervor.
»Das Gleiche könnte ich dich fragerrrn«, rollte Zoracz genüsslich in seinem aufgesetzten Akzent.
»Kein R in der zweiten Silbe von fragen«, ließ sich die Frau in Rot vernehmen, aber Zoracz hörte gar nicht hin.
»Ihrr steht auf unserrrem Platz, kleiner Bub«, schnarrte er und machte eine ausladende Geste, die seinen schwarzen Mantel effektvoll aufblähte.
Wie macht der das bloß, dachte Tom, hat der vielleicht immer eine kleine Windmaschine dabei?
»Wir haben diesen Platz am Freitag gemietet und jetzt auch schon aufgebaut«, sagte er stattdessen laut. »Das kann nur ein Missverständnis sein.«
»Gewiss, gewiss, ein Missverstärrrndnis«, entgegnete Zoracz mit breitem Grinsen.
»Zu viele R in Missverständnis«, murmelte die Frau hinter ihm, ohne wirklich damit zu rechnen, dass er auf sie hörte.
Damit hatte sie vermutlich recht, zumindest ließ sich Zoracz nichts anmerken. »Nun, ich muss euch leiderrr bitten, diesen antiquarischen Schrotthaufen zur Seite zu rrrücken, denn just hier beliebe ich, mein Spiegelkabinett aufzubauen, kleiner frecher Mann.«
»Warum denn gerade hier?«, fragte Tom frech. »Der Platz da drüben ist doch anscheinend noch frei.«
»Das ist rrrichtig«, lachte Zoracz. »Aber wenn ich euch achtundvierzig Stunden fürrrchterliche Plackerei bescheren kann, dann will ich das natürrrlich nicht missen. Also muss ich nun den missmutigen Veranstalter holen, oder rrrutscht ihr freiwillig rüber? Oder …«
Zoracz machte eine ganz und gar offensichtliche Pause, die wohl besonders bedeutungsschwanger klingen sollte. Und das tat sie auch. Allerdings war Tom nicht bereit, diesem Fiesling das Gefühl zu geben, dass er ihm Angst einjagen konnte. Den Gefallen wollte er ihm nicht tun.