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»Ein Mensch?«, fragte Heimdall und sah Odin erstaunt an. »Du willst einen Menschen zu Loki schicken?«
»Allvater, bei Thrymrs gespaltenem Haupt!«, schaltete sich auch Thor polternd ein. »Was soll ein Menschlein ausrichten gegen einen Gott, sei er gefesselt oder nicht?«
»Oh, keinen gewöhnlichen Menschen, mein Sohn«, entgegnete Odin. »Es gilt, einen zu finden, in dem die alte Gabe noch lebt.« Mit diesen Worten griff der oberste nordische Gott in den Trümmerhaufen und hob ein Stück seines geborstenen Thrones heraus. Er umschloss das ehemals so aufwändig vergoldete Stück Edelholz, und sein verbliebenes Auge wendete sich für einen Moment so weit nach innen, dass Mara nur das Weiße seines Augapfels sah. Trotzdem konnte sie den Blick nicht abwenden, denn sie war sehr aufgeregt. Das ist es, jetzt komm ich! Gleich geht’s um mich!, schoss es ihr immer und immer wieder durch den Kopf. Auch der Professor blinzelte zu ihr herüber und war ganz Ohr.
»Ein Menschenkind mit den Fähigkeiten zu sehen und zu hören«, hob Odin feierlich an zu sprechen. »Gefäß für unsere Kräfte, so wir sie freiwillig geben und geben können … für die Magie der Asen ein Fass.«
Da haben wir’s jetzt, dachte Mara, und sofort stieg ihr der Frust bis hoch in den Hals. Es stimmt also doch! Ich bin echt nur ein Gefäß. Ein Fass auch noch, na toll. Nix als ein Dings, wo man Götterkräfte reintut, und dann schubst man mich in die richtige Richtung. Und ich Vollrind denk dabei doch immer wieder, Wunder, wie toll ich das hinkriege, und huihui, was ich alles kann, und dabei bin ich nur der Erfüllungshirni? Vielen Dank, das hab ich jetzt wirklich gebraucht!
Dem Professor war anzusehen, dass er genau wusste, was Mara nun dachte, und er wollte gerade etwas sagen, als Odin weitersprach:
»Möge dieser Mensch die Last der Götter in ein Geschenk für die Welt verwandeln, auf dass die Erde gerettet wird.«
Mara musste sich sehr zusammenreißen, um nicht loszuschreien. Die Last in ein Geschenk verwandeln? Wie soll das denn gehen? Hallo Erde, ich hab da ein Geschenk für dich! Ich hab all meine Probleme hier in dieses Päckchen gepackt, mit Schleifchen drumrum in Rosa! Hach, du wirst erstaunt sein, Welt, denn meine Probleme sind nämlich witzigerweise eigentlich die deinen. Bitte mach es aber erst auf, wenn ich ganz, ganz weit weg bin. Ich bin nämlich der Geschenkeschlumpf, und ich will nicht dabei sein, wenn es Bumm macht und die Götterdämmerung aus der Torte hüpft, bis dann!
»Und der Name dieses Menschen ist …«
Kapitel 5

Was?, dachte Mara Lorbeer, als sie sich völlig unvermittelt auf der Straße wiederfand. Sie sah sich um und starrte in das Gesicht von Professor Weissinger.
Der Professor verzog das Gesicht.
»Zahnputzzeug ist in deinem Koffer, stimmt’s?«
Mara war nicht in der Stimmung für Witze, aber vermutlich war das gerade eben nicht mal witzig gemeint. Verstohlen hauchte sie sich kurz in die hohle Hand und sog die Luft durch die Nase ein. Oh. Kein Witz. Um Gottes willen. Um davon abzulenken, versuchte Mara trotz massivem Frustaufkommen irgendwie ein Gespräch in Gang zu bringen. »Wieso war das jetzt plötzlich vorbei? Da geht das so ewig, und dann fehlt der Schluss.«
Der Professor schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, das musst du die beiden da fragen.« Doch die beiden Raben machten nicht den Eindruck, als hätten sie dem Ganzen noch etwas hinzuzufügen.
Sofort platzte es aus Mara heraus: »Schon klar, dass ihr jetzt wieder nix sagt! Hauptsache, ich weiß, dass ich ein Fass bin, toll!«
Professor Weissinger sah sie mit leuchtenden Augen an. »Aber Mara, abgesehen davon … es war doch einfach unglaublich! Odin, Thor, Freya, Heimdall … Ich habe sie alle gesehen! Mara, ich habe die alten Götter gesehen!«
Mara seufzte. »Ja doch, ich doch auch. Aber was bringt uns das? Was machen wir jetzt damit?«
Aber der Professor war noch viel zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken zu fassen. »Und ich hatte recht, hahaha! Odin sieht aus wie Gandalf! Oder sieht Gandalf aus wie Odin, hihi? Ich glaub das einfach nicht! Da saßen sie alle! Da gingen die Götter zu den Richterstühlen, hohe Götter hielten Rat! Alle, direkt vor mir, ich hätte Thor in die Backen kneifen können.«
»Bin echt froh, dass Sie das nicht gemacht haben. Aber noch mal meine Frage …«
Der Professor klappte beide Zeigefinger aus und hielt sie vor Maras Nase. »So nah war ich! SO NAH!«
Mara sah ihn schweigend an. Sie blinzelte nicht einmal. Der Professor verstand, verharrte aber in der gebückten Position und sprach in einem besonders ruhigen und abgeklärten Ton: »Einen Moment bitte noch, Mara, ich brauche nur ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Ich hab’s gleich.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Gut. Viel Spaß.«
»Danke«, sagte der Professor ganz ruhig, ließ sich dann aber recht plötzlich auf die Knie fallen und drückte sich mit beiden Händen die Backen zusammen.
»Ifff habe Obiimm geffehmmm!!!!«, presste er zwischen zusammengepressten Lippen heraus und verfiel dann in ein unterdrücktes Kichern.
Mara sah seinem Treiben eine Zeit lang zu und wendete sich dann ab.
Die beiden Raben saßen immer noch auf dem Ast und blickten auf sie herunter. Mara war die Reaktion des Professors ziemlich unangenehm, und sie verspürte irgendwie den Drang, es den Raben erklären zu müssen.
»Wisst ihr, er … er freut sich eben«, sagte Mara. »Professor Weissinger beschäftigt sich schon viele, viele Jahre mit den Göttern und dem allem. Hat sogar ein Lexikon drüber geschrieben. Und das gerade eben war für ihn eben etwas sehr Besonderes …«
Hugin – oder war es Munin – musterte Mara eindringlich. »Wir verstehen sein Gebaren, Litilvölva. Er hat die Götter gesehen. Weniger kräftige Männer im Geiste sahen wir schon daran zugrunde gehen, schwache Priester dem Wahnsinn verfallen.«
»Was wir jedoch nicht verstehen«, sprach der andere Rabe, »ist deine Ruhe.«
Mara sah die Raben erstaunt an. »Meine Ruhe? Also bitte, was soll das denn jetzt? Soll ich mich auch auf dem Boden rollen und Odinodinodin rufen? Tut mir echt leid, dass mich ein paar Leute mit Hammer, Bart und Augenklappe vielleicht nicht mehr sooo schockieren wie der Drache auf der Ludwigsbrücke oder ein hochhausiger römischer Zenturio aus Millionen kleiner Flammen!«
Mara bemerkte gar nicht, wie der Professor innehielt und ihr mit nachdenklichem Gesicht zuhörte, während sie auf die Raben einredete. »Oder meint ihr, ich soll erst mal einen gepflegten Heulkrampf kriegen? Ist es das? Ey, da hätte ich grad sogar jede Menge Lust drauf! Ich weiß nicht, ob ihr das auch gehört habt, aber ich hab grad aus erster Hand erfahren, dass ich selbst gar nix kann, außer ein Fass sein! Ein verdammtes Fass! Vielen Dank, echt jetzt! Das ist nicht nur kein Kompliment, sondern auch noch deswegen echt kacke, weil ich eben doch nix kann!«
Der Professor legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Also Mara, das stimmt doch so überhaupt nicht.«
»Doch, das stimmt eben schon!«, rief Mara aufgebracht. »Ich bin also eine Spákona, und? Wow, toll! Wenn die Götter nicht grad ein bisschen Kraft für mich überhaben, dann kann ich genau das, was ich vorher schon konnte und gar nicht wollte: Sachen sehen, die ich gar nicht sehen will! Und nur weil ich Sachen sehe, die ich gar nicht sehen will, muss ich Sachen machen, die ich gar nicht machen will! Und gar nicht kann! Ich will nicht die Welt retten, und ich kann’s auch gar nicht, verdammt. Warum machen das nicht die, die dafür ausgebildet sind?«
»Ach du liebe Zeit, wer sollte das denn sein?«
»Na, der Siegfried von mir aus! Der soll einfach sein Schwert nehmen und auf den Dr. Thurisaz draufhauen! Wie das die Leute eben so machen, wenn sie ein Schwert haben!«
Der Professor seufzte. »Ich verstehe ja, was du meinst. Aber was sollte das denn bitte bringen?«
»Na, das bringt schon mal, dass irgendwer auf den Thurisaz draufgehauen hat, und … und … das ist schon mal eine ganze Menge!«
Professor Weissinger fasste Mara an beiden Schultern und hielt sie fest, als wolle er dafür sorgen, dass sie nirgendwo anders hinsehen konnte als direkt in seine Augen. Dann erst sprach er ganz ruhig und trotzdem eindringlich: »Mara. Bitte entschuldige, dass ich vorhin so einen Unsinn gesagt habe. Ich sehe, dass ich damit eine Menge Schaden angerichtet habe, und es tut mir wirklich leid. Alles das, was wir gerade eben gesehen haben, mag auf dich jetzt so wirken, als wäre es die Bestätigung dessen.«
Mara nickte. Genau so hatte sie es empfunden. Aber sie sagte nichts. Dafür sprach der Professor weiter: »Aber das ist einfach falsch! Du bist trotz allem die Einzige, die die Kräfte der Götter überhaupt nutzen kann, verstehst du das denn nicht?«
Überraschend wand sich Mara plötzlich aus dem Griff des Professors und drehte sich weg. Dann ging sie einfach los, weiter die Straße hinunter. Sie musste nachdenken. Alleine.
Raff es, Mara, sprach sie zu sich selbst. Du bist jetzt wieder genau das, was du vor ein paar Wochen noch unbedingt sein wolltest. Einfach nur Mara Lorbeer. Okay, du bist Mara Lorbeer, das Fass. Klingt echt dämlich, und ist es irgendwie auch, aber du wolltest nur Mara Lorbeer sein und warst gerade echt zufrieden damit, bis dann der Zweig kam und alles auf den Kopf gestellt hat. Das heißt doch, dass du jetzt nicht schlechter dran bist als vorher. Und es heißt doch auch, dass der ganze Irrsinn in dem Moment aufhört, wo wir den blöden Dr. Riese und seinen Feuerbringer mitsamt dem verdammten Eichhörnchen endgültig erledigt haben. Das ist zwar eigentlich völlig unmöglich, aber wenigstens ein Ziel. Außerdem hab ich keinen Bock mehr auf …
Sie öffnete die Augen und drehte sich wieder um zu Professor Weissinger. »Ich hab keinen Bock mehr.«
Der war ihr schweigend gefolgt und sah sie nun erschrocken an. »Wie meinst du das? Auf was hast du keinen Bock mehr? Auf diese Diskussion? Auf den Feuerbringer? Auf Weltretten?«
»Nein«, widersprach Mara, und ihre Stimme klang plötzlich eiskalt. »Ich habe keinen Bock mehr auf Weglaufen.«
Ein breites Grinsen teilte den Bart des Professors in zwei Hälften. »Das trifft sich gut, Mara, denn darauf hab ich auch keine Lust mehr.« Er drehte sich schwungvoll um zu den beiden Raben, die sich gerade auf einem der Begrenzungspfosten an der Straße niedergelassen hatten, und deutete mit einem ausgestreckten Zeigefinger auf sie. »Ihr beiden! Ihr kommt ab sofort mit, denn ihr seid unsere Verbindung zu den Göttern. Sobald die wieder aufwachen und einer von ihnen ein bisschen Saft übrig hat, sagt ihr uns Bescheid. Ich will dann wissen, welcher Gott es ist, und wann er Mara seine Kräfte zur Verfügung stellt. Und wenn möglich wüsste ich auch gerne, wann diese Kraft jeweils aufgebraucht ist.«
»Das ist kein Problem«, warf Mara ein. »Das kann ich inzwischen ziemlich genau sagen. Aber es wäre echt gut, wenn ich vorher wüsste, was ich jetzt gleich kann. Für kurz.«
Ehrlich gesagt, gefiel ihr die Idee von Professor Weissinger sogar ganz gut. Es fühlte sich richtig gut an, dieser ganzen Götterkraftgrütze nicht mehr so hilflos ausgeliefert zu sein. Allein der Gedanke, in Zukunft zu wissen, ob sie die Vision einer Spinne im Pausenhof erschaffen, Lindwürmer beamen oder das Wasser kontrollieren konnte, würde eine Hilfe sein und ihr endlich ein bisschen mehr Kontrolle geben. Sie hütete sich aber, das dem Professor zu zeigen. Offiziell war sie noch im BoahBinIchGenervtModus, und den gab man nicht so einfach auf.
Früher, als ich kleiner war, sprang dabei wenigstens ab und zu ein Eis raus, dachte sie und musste fast grinsen.
Der Professor suchte noch bei den Raben nach irgendeiner Art von Zustimmung oder Ablehnung. Aber sie saßen nur da und starrten ihn an. Professor Weissinger wartete noch einen Moment, dann nickte er. »Ich werte euer Schweigen als Zusage. Vielen Dank dafür, ihr helft uns damit sehr. Und nicht nur uns, sondern auch Odin und allen anderen.« Voller Elan drehte sich der Professor zu Mara um. »Also, dann gehen wir jetzt zurück nach Osnabrück, holen unterwegs in Kalkriese unser Zeug und steigen dann in den Zug nach München. Und dort …«
»Dort kümmern wir uns um Thurisaz«, sagte Mara und wollte gerade noch einen markigen Spruch über Eichhörnchen, Puschelschwänze und einen Tacker loswerden, als sie der Blick des Professors verstummen ließ. Gleichzeitig knirschte etwas, ein lautes Zischen war zu hören, die Straße verdunkelte sich, und Mara fuhr erschrocken herum.
Sie blickte auf einen Truck.
Kapitel 6

Eine Zugmaschine mitsamt riesigem Anhänger hatte direkt hinter ihnen angehalten, und gerade stieg der Fahrer erstaunlich leichtfüßig aus. Das war deswegen so erstaunlich, weil der Fahrer zu den dicksten Menschen gehörte, die Mara jemals live und in Farbe gesehen hatte.
»Alles okay?«, fragte er mit einer freundlich singenden Stimme, und Mara konnte nicht anders. Sie mochte ihn sofort.
»Es geht so«, antwortete Professor Weissinger. »Es würde uns in der Tat etwas besser gehen, wenn Sie uns ein Stück mitnehmen würden. Wir wollen Richtung Osnabrück, aber unser Auto … äh …«
»Schon klar«, nickte der Trucker. »Sind ein paar echt komische Sachen passiert in der Nacht. Ihr Karren ist nicht der einzige, der den Geist aufgegeben hat. Na, dann steigen Sie ein. Ist genug Platz.« Er lachte kurz und zeigte mit beiden Händen auf seinen gigantischen Bauch. »Trotz dem da.«
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sich der Professor.
Sie erkletterten den erstaunlich hoch gelegenen Führerstand des Trucks auf der Beifahrerseite, und Mara sah sich um.
»Ist ja echt viel Platz hier drin«, sagte sie. Dann erst entdeckte sie die kleine Schlafkabine hinter den Sitzen. »Cool.«
»Yep«, machte der Trucker und grinste. »Kannst gern mal hinten reinklettern, aber ich sag’s gleich: Hab nicht aufgeräumt.«
Mara beließ es bei einem Blick, denn irgendwie fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, auf dem Bett von irgendwem herumzukrabbeln. Stattdessen setzte sie sich auf den mittleren Platz zwischen dem Fahrer und dem Beifahrer.
»Hey!«, rief der Trucker plötzlich erschrocken und begann wild mit den Armen zu wedeln. »Schh! Schh! Raus!«
»Krah Krah«, sagten Hugin und Munin, machten aber keine Anstalten das Führerhaus zu verlassen. Seelenruhig setzten sie sich neben den Professor auf das geräumige Armaturenbrett und blickten stumm umher. Der Fahrer sah Mara und den Professor verwundert an. »Äh … gehören die irgendwie … zu euch?«
»Ja«, sagte der Professor.
»Nein«, sagte Mara im selben Moment, und sie sahen sich kurz irritiert an.
»Was Mara meint, ist, dass sie uns natürlich nicht gehören, weil wir sie nicht zwingen bei uns zu bleiben. Wir wollten sie eigentlich mit dem Auto zum Tierarzt in Osnabrück bringen, um sie mal wieder auf Würmer und ähnliches zu überprüfen«, log Professor Weissinger. Wie immer klang es aus seinem Mund als wäre das nichts als die Wahrheit. Mara nickte eifrig, und selbst das kam ihr im Vergleich zu der routinierten Lüge des Professors viel zu aufgesetzt vor.
Hugin und Munin war allerdings deutlich anzusehen, dass ihnen der Teil mit den Würmern nicht so richtig gut gefallen hatte. Trotzdem blieben sie erfreulich still und bemühten sich um einen möglichst rabigen Eindruck.
Der Trucker nickte schließlich. »Aha. Okay. Aber nicht dass die mir hier die Armaturen vollkacken.«
»Krah!«, erwiderte Munin, und die beiden Raben drehten sich beleidigt weg. Ein Moment der Stille kehrte ein, als der Fahrer von den Raben zu Mara und dem Professor und dann wieder zu den Raben sah. Doch dann zuckte er mit den Achseln und wandte sich seinem Zündschlüssel zu.
»Krasse Viecher«, bemerkte er, als er den mächtigen Motor anließ. »Seid ihr Zirkusleute oder so was?«
»Nein, wir haben einfach nur beide jeweils einen Vogel«, antwortete der Professor und grinste Mara an. »Verzeih diesen unsäglichen Witz, den will ich schon seit Längerem anbringen.«
»Schön, dass wir es jetzt hinter uns haben«, gab Mara trocken zurück und schnallte sich an.
»Also, ich bin der Willi«, stellte sich der Trucker vor und ließ den Motor an, als sie in die nahe Auffahrt zur Autobahn einbogen. »Und ihr?«
»Mara und Reinhold Weissinger«, antwortete der Professor. »Sie ist meine Nichte.«
»Freut mich«, sagte Willi und lächelte freundlich. »Ist es okay, wenn ich Musik anmache?«
»Kommt drauf an«, murmelte Mara, die nichts nerviger fand als den Einheitsbrei der einschlägigen Radiosender.
Aber der Professor sah sie tadelnd an. »Nur zu! Wer fährt, bestimmt.«
Willi grinste und drückte eine Taste an seinem Lenkrad. Mara betrachtete das Lenkrad genauer und erkannte, dass er von dort wohl auch die Lautstärke und den CD-Player bedienen konnte. Praktisch. Vor allem für ihn, denn vermutlich hätte er Schwierigkeiten gehabt, das Radio über seinen mächtigen Bauch hinweg zu erreichen.
Doch nun war sie erst einmal verwundert, als ihr aus den Boxen nicht Das Beste der Achtziger, Neunziger und von heute entgegenschepperte. Stattdessen hörte sie ein paar Akkorde aus akustischen Gitarren. Und dann eine Männerstimme, die man nicht anders als »samtig« bezeichnen konnte.
Ev’rybody gonna pray
On the very last day
»Na, das passt ja«, ließ sich der Professor vernehmen. Und da stimmten auch schon zwei weitere Stimmen ein.
Ev’rybody gonna pray
To the heavens on the judgement day
Da Mara sich immer schon für die Texte der Songs interessiert hatte, die ihr auch ansonsten gefielen, konnte sie gut genug Englisch, um zu verstehen, um was es in diesem Lied ging. Leise stöhnte sie auf.
»Judgement Day … Die singen nicht wirklich vom Weltuntergang, oder?«, fragte sie in die Runde und der Professor lachte trocken auf. »Ich bin ehrlich gesagt auch etwas baff. Das nenn ich mal einen Zufall.«
Willi kicherte ebenfalls: »Ja, das passt echt ganz gut auf diese Sache von der letzten Nacht. Kann mir vorstellen, dass ein paar Leute gedacht haben, die Welt geht unter. Das muss man sich mal vorstellen: Der Tankwart aus dem Ort hinter uns hat mir erzählt, dass ihm der gesamte Inhalt seiner Kühlschränke um die Ohren geflogen ist. Und er schwört bei allem, was ihm heilig ist, dass die Getränke aus den Flaschen und den Dosen einfach nur rauswollten, weil …« Er machte eine Pause als würde er erst jetzt darüber nachdenken. »… weil sie irgendwohin wollten …« Willi runzelte die Stirn und schwieg. Eine Weile hörten sie still dem Song zu.
Get ready, brother, for that day
Ev’rybody gonna pray
When you hear that bell
Ring the world away
»Wenn du die Glocke hörst, die die Welt wegbimmelt?«, fragte Mara stirnrunzelnd.
»Na ja, so ähnlich. Auf Deutsch würde man wohl eher sagen, die Glocke läutet das Ende der Welt ein«, antwortete Professor Weissinger. Aber ihm war anzusehen, dass ihn das Lied auch nicht gerade fröhlicher machte. Trotzdem übte der Text zusammen mit dem eindringlichen Gesang der drei Stimmen eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. Es war fast unmöglich, sich dem Song zu entziehen. Oder ging es nur ihnen so, wegen all des Weltuntergangswahnsinns?
Ev’rybody gonna pray
To the heavens on the judgement day
Ein letztes Mal hatten die zwei Männer und die Frauenstimme den Refrain angestimmt, dann endete das Lied mit einem finalen Gitarrenakkord.
»Peter, Paul & Mary …«, sagte Willi in dem Moment und es klang verzückt. »Die sind einfach immer noch der absolute Hammer.«
Das Erste, an das Mara bei den drei Namen dachte, war das Lehrbuch aus dem Englischunterricht. Wie hieß doch gleich der Hund … Egal.
Sie wurde unruhig. So langsam brannte es ihr doch unter den Nägeln, sich mit dem Professor über das vorhin Erlebte und Erfahrene auszutauschen. Der Ende-der-Welt-Song gerade eben hatte das noch mal verstärkt. Abgesehen von der niederschmetternden Gewissheit, ein Götterfass zu sein, waren ihr noch ein paar Dinge aufgefallen, die vielleicht wichtig werden könnten.
Mara überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass sie sich jetzt mit dem Professor unterhalten wollte und nicht erst in ein paar Stunden. Sie spürte kurz in sich hinein und sofort wurde ihr klar, dass sie es gar nicht erst versuchen brauchte mit Gehirnstimmen, Visionen oder Ähnlichem. Maras Magie-Akku stand bei minus tausend und in etwa auf dem Level befand sich auch ihr Bock-O-Meter auf irgendwelchen Seherinnen-Kram.
Aber wer weiß denn, ob es nicht gleich wieder losgeht, und plötzlich stehen wieder schwarzäugige Heinis vor mir, oder es wachsen Römerzombies aus dem Boden! Ich will jetzt mit dem Professor reden. Jetzt!
Und da kam ihr eine Idee: Warum sollten sie sich denn nicht über nordisch-germanische Göttergeschichten unterhalten? Sie musste doch eigentlich nur weglassen, dass sie es mit eigenen Augen gesehen hatten, oder nicht?
»Apropos Ende der Welt. Wissen Sie eigentlich, dass …«, fing sie also an und schwieg sofort wieder, als sie der Professor alarmierend ansah.
»Nein, was denn?«, fragte Willi nach, und Mara verstand: Sie hatte den Professor gesiezt, obwohl er sich ja als ihr Onkel vorgestellt hatte. Also hatte sich natürlich jetzt Willi angesprochen gefühlt. Nun ja, warum nicht. Mara warf dem Professor einen vielsagenden Blick zu und begann nun in Richtung von Willi zu erzählen: »Na, ich meine, da gibt’s doch diese Religion. Beziehungsweise gab es, weil gibt’s jetzt nicht mehr. Also gibt’s so mehr oder weniger, nicht mehr so richtig, aber …«
Sie bemerkte, dass Willi ihr nicht so richtig folgen konnte. Und das lag nicht an seinem Intellekt, sondern an ihrem dämlichen Gestammel. Auch die beiden Raben sahen Mara irgendwie mitleidig an, und das nervte Mara noch mehr!
Konzentration!, dachte sie und fing einfach noch einmal von vorne an. »Es gibt auch ein Ende der Welt in der nordisch-germanischen Mythologie, wollte ich sagen. Da heißt es Ragnarök.«
»Nordisch-germanisch?«, sagte Willi. »Ach, na klar, Wotan, Donar und die dicken Frauen mit den Hörnerhelmen! Kenn ich!«
Der Professor stöhnte so lautstark auf, dass Mara für einen Moment dachte, er würde die beiden Raben vom Armaturenbrett pusten.
»Genau!«, erwiderte sie trotzdem. »Ist ja toll, dass Sie sich da so gut auskennen!«
»Tja, hab ich alles meinem erlesenen Musikgeschmack zu verdanken«, erklärte Willi stolz.
»Schon klar … Wagner«, seufzte Professor Weissinger neben Mara durch das Führerhaus.
»Was? Nee, um Gottes willen! Heavy Metal!«, lachte Willi und zog mit geübtem Griff eine CD-Hülle aus dem Seitenfach an der Tür. Mara reichte sie an den Professor weiter, und der zog die Augenbrauen hoch. »Manowar? Aha.«
Der Professor studierte die CD-Hülle:
»Hörnerhelme, wie nett« …
»Soll ich es einlegen?«, bot Willi an. Wussten die Raben, was Heavy Metal war? Zumindest schien ihnen Willis Angebot auch eher als eine Art Drohung vorzukommen: Sie blickten unruhig zwischen der CD-Hülle und Mara hin und her.
»Vielleicht später, vielen Dank«, beeilte sich Professor Weissinger zu sagen, und auch die Raben schienen wieder zu entspannen. Mara selbst hatte mit Heavy Metal keine großen Probleme. Ihrer Meinung nach gab es kaum ein Metal-Stück, dass es von der Härte mit »Helter Skelter« der Beatles aufnehmen konnte. Nicht umsonst hatten es einige Heavy-Bands schon mal gecovert. Und alle waren sie im Vergleich zahmer gewesen. Wo war sie gleich noch mal stehen geblieben? Ach ja, Götterdings.
»Also, was ich ja so interessant finde, ist, dass es da diesen Heimdall gibt«, machte Mara weiter.
»Der Wächter auf der Brücke namens Bifröst«, ergänzte Professor Weissinger.






