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»Reinhold, ich bin wie du. Ich hasse es, etwas nicht zu wissen. Erst recht dann, wenn ich etwas besser nicht wissen sollte. Also raus mit der Sprache. Und wehe, die Antwort gefällt mir nicht, dann werd ich richtig sauer, und du als mein Herr Ex weißt, was das bedeutet. Also?« Und dabei sah sie Mara durchdringend an.
»Ähm … gleymið«, antwortete Mara und erreichte damit nichts als einen fragenden Blick. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie die beiden Raben mitleidig den Kopf schüttelten.
Alles klar. Ich kann grad gar nix außer dem üblichen Seherinnenmist, dachte Mara frustriert. Na, ganz toll, Hauptsache, ich bin das coole Fass, das man so spitzenmäßig mit Götterkräften füllen kann. Wenn nur mal welche da wären. Echt spitze!
Am liebsten hätte sie Steffi einfach alles erzählt, aber das würde nicht anders laufen als ihr erstes Treffen mit Professor Weissinger. Und der hatte ihr ja auch erst geglaubt, als … hm.
Sie sah wieder zu den Raben hinüber, dann zum Professor, und in ihrem Kopf entstand so etwas Ähnliches wie ein Plan.
»Liebe Steffi, so leid es mir tut, ich kann dir leider wirklich nicht sagen, warum das alles passiert ist«, erklärte der Professor gerade.
»Wieso? Meinst du, ich bin zu dumm, es zu verstehen?«, schnappte Steffi.
»Aber nein, nein, ganz im Gegenteil! Ich würde sogar sagen, du bist viel zu intelligent und würdest darum tausend und einen Grund finden, warum das alles Quatsch ist, was wir erzählen! Trotzdem ist es nichts als die Wahrheit.« Dem Professor war anzusehen, dass er nicht weiterwusste. Der höchst reale Fakt des kaputten Autos passte nun mal überhaupt nicht zu dem ganzen irrealen Götterwahnsinn.
»Wie sagt der Engländer so schön: Try me«, erwiderte die Archäologin und sah den Professor herausfordernd an.
Der blickte zu Mara, und sie nickte nur. Wenn Hugin und Munin ein Problem darin sahen, dass die Exfrau des Professors eingeweiht war, würden sie auch ihre Erinnerung löschen, wie sie das bei Willi getan hatten. Da war sich Mara sicher.
Inzwischen hatte sie sowieso das komische Gefühl, dass die beiden Vögel eine ziemlich gute Vorstellung davon hatten, was wie zu passieren hatte. Oder zumindest, was auf keinen Fall passieren durfte. Gerne hätte sie die beiden sofort zur Rede gestellt, aber erstens war jetzt nicht der geeignete Moment für eine Unterredung zwischen ihr und zwei sprechenden Vögeln, und zweitens würden die eh wieder in grenznervigen Rätseln sprechen. Darauf hatte sie schon unter normalen Umständen keinen Bock.
Da musste Mara einmal kurz trocken in sich hineinlachen. Normale Umstände? Was war bitte normal an einer Diskussion mit zwei mythologisch reimenden Raben?
Der Professor atmete einmal entschlossen durch, und sein Blick wurde sanft. »Also gut, Steffi. Wo können wir bequemer reden als hier vor der Tür?«
»Hier vor der Tür«, antwortete die Professorin trocken. »Ich würde es nur vorziehen, wenn es jetzt passiert und nicht erst, wenn wir alle in Walhalla hocken.«
Professor Weissinger seufzte. »Oder in der Hel, nun gut. Mara, willst du, oder soll ich?«
»Ich will«, sagte Mara und schickte eine stumme Frage zu den beiden Raben. Die gaben ihr ebenso stumm die Antwort, die sie sich erhofft hatte, und Mara streckte die Hand nach Steffis Schulter aus.
»Um Gottes willen, nicht SO!«, rief der Professor, aber er war zu langsam.
Kapitel 8

Ein Becher schlug direkt neben Mara auf, und Bier spritzte in alle Richtungen. Der Raum war erfüllt von Gelächter, Gesang und Geschrei. Und von Wikingern.
Sofort zog Mara Steffi hinter eine dicke Holzsäule und hob trotz des Lärms die Finger an die Lippen. Aber Steffi war im Moment eh nicht in der Stimmung für ein Schwätzchen. Ihr Hirn wurde gerade via Augen und Ohren mit Eindrücken geflutet, die es zu verarbeiten galt.
Mara ging es, ehrlich gesagt, nicht so viel anders. Sie hätte unmöglich sagen können, wie viele Menschen tatsächlich in dieser Halle waren. Hunderte? Tausende? Außerdem hatte sie noch nie eine Halle dieser Größe gesehen. Ach was, das war keine Halle, das war ein überdachter Landkreis! Okay, es gab Wände, es gab Säulen, und es gab ein Dach … aber allein die unzähligen riesigen Türen, durch die man Willis Truck hätte quer durchschieben können … dieser Ort widersetzte sich ganz einfach jeder Beschreibung.
Mara suchte nach einem Vergleich, der ihr half, das Ganze für sich selbst zu erfassen, und das Beste, was ihr einfiel, war: hölzernes Oktoberfestzelt von der Größe einer Großstadt. Mit Wikingern drin. Dafür ohne Blasmusik.
Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen, dröhnte in dem Moment ein Geräusch los, das sich nur deswegen in den Themenkreis »Musik« einordnen ließ, weil zu dem scheppernden Getröte auch Trommeln geschlagen wurden. Die Tausendschaften von Wikingern grölten los, wer noch stehen konnte, erhob sich, und wer das nicht mehr konnte, erhob sich trotzdem, stand aber nicht lang. Dazu wurden Trinkhörner und Becher erhoben, und ein Wort gebrüllt. Immer und immer wieder.
Mara hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, so laut war das Gebrüll. Aber gleichzeitig hätte sie zu gerne verstanden, was die Saufkumpane da eigentlich in die Halle schrien.
Da krallten sich Steffis Finger in Maras Arm, und sie zeigte zitternd in den Tumult. Mara folgte ihrem Blick und sah, wie sich die Menge respektvoll teilte, um jemanden durchzulassen. Sie erkannte einen großen Mann mit schneeweißem Bart, der langsam auf einen der Plätze mitten unter den Leuten zuschritt. Er trug einen großen grauen Schlapphut und ein ebensolches, wallendes Gewand. Ein einfacher Gürtel mit einem Schwert raffte den Stoff um die Hüfte, und auch ansonsten machte seine Aufmachung nicht den Eindruck einer sonderlich wichtigen Person. Das war auch gar nicht nötig, denn von diesem Mann ging eine dermaßen gleißende Kraft aus, dass Mara im ersten Moment dachte, es würde sie blenden. Doch als sich ihr seherischer Blick darauf eingestellt hatte, wurde es nicht nur erträglich, sondern sogar irgendwie … wärmend.
»D… der sieht aus wie … das ist …«, stotterte Steffi leise.
»Gandalf«, vollendete Mara den Satz, denn das wusste sie ja nun bereits. Zu dem einen Unterschied, der Augenklappe, hatten sich nun auch noch zwei andere Unterschiede gesellt: Odin wurde begleitet von zwei Wölfen.
»Odin! Das ist Odin höchstpersönlich! Ich werd verrückt«, flüsterte Steffi einfach weiter und machte unwillkürlich einen Schritt hinaus aus ihrer Deckung in die Halle hinein.
Ruppiger, als sie gewollt hatte, riss Mara die erwachsene Frau wieder zurück hinter den reich verzierten Holzbalken. »Bitte nicht! Es wäre echt besser, wenn die uns gar nicht bemerken! Ich glaube nämlich, dass die uns sehen könnten. Ich hab zwei Arten von Visionen. Entweder erzählt mir wer was, und es ist wie eine Art Film, wo ich einfach nur zuschaue und keiner mich sieht, oder ich steig selber rein in die Vision, und dann bin ich aber auch wirklich da.«
»Ah…, aha?«, stammelte Steffi nur.
»Ja, zumindest ist das meine Vermutung, und irgendwie passt es zu dem, was wir bisher so erlebt haben. Garantie hab ich keine. Ist auf jeden Fall besser, wenn wir hier stehen bleiben. Oder wieder abhauen. Ich wollte ja nur zeigen, was hinter der ganzen Sache steckt – und zwar so, dass Sie mir glauben. Glauben Sie mir jetzt?«
»Ich … ich weiß nicht … das ist alles sehr …« Steffi war noch nicht bereit für ganze Sätze nach den geltenden grammatischen Regeln. Zu sehr war sie damit beschäftigt, alles in sich aufzusaugen, was sich vor ihren Augen abspielte.
»Gut, dann bleiben wir noch ein bisschen. Aber nicht mehr lange, weil es geht bestimmt gleich wieder was schief«, sagte Mara.
»Es geht was schief? Was denn?«, fragte Steffi zögerlich.
»Keine Ahnung. Aber schiefgehen wird es.«
Gerade hatte sich Odin gesetzt, und nach ihm nahmen auch alle anderen in der Halle wieder Platz. Mara fiel auf, dass der oberste Gott offensichtlich keinen Wert auf allzu große Sonderbehandlung zu legen schien. Zumindest war der Platz, auf den er sich gesetzt hatte, von den anderen Tausenden Sitzplätzen nicht zu unterscheiden.
Vorsichtig wagte sich Mara nun doch etwas weiter aus ihrer Deckung. Da flatterte etwas über ihren Kopf hinweg, und Mara duckte sich erschrocken. Zwei schwarze Schatten rasten auf Odin zu und ließen sich dann direkt vor ihm auf dem Tisch nieder: Hugin und Munin.
Sofort zog sich Mara wieder zurück, denn obwohl die beiden Raben zu diesem längst vergangenen Zeitpunkt eigentlich noch nichts von Mara Lorbeer gehört haben konnten, wollte sie kein Risiko eingehen.
»Das ist doch alles nicht wahr, ich glaub das nicht«, hörte sie da Steffi hinter sich brabbeln.
»Also, wenn Sie es jetzt immer noch nicht glauben, dann können wir ja genauso gut wieder abhauen«, flüsterte Mara und fasste ihr an die Schulter.
»Nein, warte! WARTE!«, entgegnete Steffi und wand sich aus Maras Griff. »Ich … ich muss noch … das ist alles so … unfassbar!«
Sie lehnte sich an das Holz und starrte auf die feiernden Massen. Langsam schien sie ihre Sinne wieder aufgeklaubt und in die richtigen Regale im Hirn geräumt zu haben. »Es ist alles genau so, wie es die eddischen Texte beschreiben: die vielen Tore, das Dach aus Schilden und Speeren, Odin mit seinen Wölfen Geri und Freki, Hugin und Munin … Moment mal, saßen da vorhin nicht auch zwei Raben direkt neben euch?«
Mara nickte. »Ja, das sind dieselben. Die haben mir auch die Kraft ausgeliehen, damit ich Sie hierher bringen kann und wir uns so Diskussionen sparen.«
»Ich weiß gar nicht, ob wir uns damit Diskussionen sparen oder verhundertfachen«, sagte die Archäologin, und Mara fiel einmal mehr auf, wie viel sie mit ihrem Exmann Professor Weissinger gemeinsam hatte. Wie seltsam eigentlich, dass die beiden es nicht miteinander ausgehalten hatten. Gut, der Professor hatte argumentiert, dass genau diese Gemeinsamkeiten das Problem ausgemacht hatten. Aber Mara konnte sich nicht vorstellen, wie zu viele Gemeinsamkeiten einen Scheidungsgrund ergeben konnten. Bei Mama und Papa war es schließlich das genaue Gegenteil gewesen. Diskussionen zwischen den beiden hatten auf Mara immer so gewirkt, als würde jeder nur in sein eigenes privates Universum hineinreden. Ohne Wurmlochverbindung. Da waren zu viele Gemeinsamkeiten doch sicher deutlich besser, oder nicht?
Mara wurde aus ihren beziehungstheoretischen Gedanken gerissen, als sich in der Halle plötzlich etwas tat: Die Wand hinter ihnen bewegte sich! Nein, okay das war keine Wand, sondern der linke Flügel eines dieser gigantischen Tore. Sofort drückten sich Mara und Steffi ein Stück um die Säule herum, um auch von dort aus nicht gesehen zu werden.
Mara erkannte den Mann, der nun in die Halle schritt, sofort, obwohl er sicher zwanzig Meter von ihrem Versteck entfernt war und sie ihn nur von der Seite sehen konnte: Loki.
Am liebsten hätte Mara seinen Namen gerufen, aber natürlich riss sie sich zusammen. Sie hatte Loki ja erst getroffen, als der schon seit über zweitausend Jahren gefesselt in einer Höhle gelegen hatte. Der Loki, der da vor ihr in die Halle einmarschierte, würde Mara erst viel später kennenlernen.
Forschen Schrittes durchmaß der Halbgott die Halle und hielt direkt auf Odins Sitzplatz zu. Dabei würdigte er die Umsitzenden keines Blickes. Mara fand, er sah irgendwie wütend aus. Oder entschlossen? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall wirkte er ungewöhnlich ernst und schweigsam. Sie kannte ihn eigentlich ganz anders.
Man konnte förmlich zusehen, wie die Neuigkeit des Ankömmlings unter den Anwesenden die Runde machte. Wie in einer Mischung aus Stille Post und La-Ola-Welle drehten die Menschen ihren Kopf und wurden dann ganz still. Obwohl, das stimmte nicht so ganz. Denn wenn sich Mara nicht täuschte, hörte sie da jemanden kichern? Konnte das sein?
So ein Quatsch, dachte Mara. Warum sollten die kichern, wenn Loki hier reinspaziert? Ausgerechnet bei Loki gab es genug Gründe eben genau gar nicht zu kichern. Mara hätte sich das auf jeden Fall nicht getraut, und auch der Professor würde sich hüten. Vor allem, weil der all die Geschichten rund um Loki kannte.
Doch da war es schon wieder! Ganz eindeutig hatte da gerade jemand gelacht! Loki blieb stehen und drehte sich sehr langsam um. Sofort wurde es mucksmäuschenstill in der riesigen Halle.
Doch Loki sagte kein Wort, trat nur an einen der Tische heran und sah in die Runde. Die Krieger, die nun direkt vor ihm saßen, zogen instinktiv ihre Köpfe ein.
Loki tat einen Moment lang gar nichts. Dann erst fuhr er zwischen die Teller und Schüsseln auf dem wuchtigen Tisch und griff sich ein Stück Fleisch an einem Knochen. Er betrachtete das Stück prüfend, roch daran, während er sich wieder wegdrehte und anschickte, weiterzugehen. Doch gerade, als die Männer wieder aufatmeten, schrie jemand an einem der Nebentische auf. Schreckensschreie und Tumult zeigten Mara und Steffi, wo sie hinzusehen hatten: Einer der Krieger war aufgesprungen und machte sehr unappetitliche Geräusche. Er röchelte schrecklich und fasste sich dabei mit beiden Händen an den Hals. Sein Hals war seltsam dick, und es sah aus, als steckte etwas Großes darin fest, was den Mann am Atmen hinderte.
Mara und Steffi wendeten den Blick ab, als der Mann gurgelnd vornüberkippte und nach ein paar weiteren verzweifelten Versuchen zu atmen, hilflos mit den Armen ruderte, noch ein paarmal zuckte und dann liegen blieb.
Alle blickten zu Loki. Das Stück Fleisch in seiner Hand war verschwunden.
»Loki hat den Mann … umgebracht?«, wisperte Mara fassungslos. »Einfach so, weil er gekichert hat?«
Steffi nickte nur und sagte nichts, was man nicht auch ihrem Blick entnehmen konnte.
Niemand lachte jetzt mehr oder machte irgendein Geräusch, während Loki seinen Weg fortsetzte. Als er schließlich vor Odin haltmachte, war nichts mehr zu hören außer dem grollenden Knurren der beiden Wölfe zu Füßen des ältesten und mächtigsten Gottes der Germanen.
Seltsamerweise sprach Loki immer noch kein Wort. Das war schon ungewöhnlich. Dafür flüsterte Steffi Mara zu: »Ich hab eine Ahnung, wer das ist. Das könnte …«
»Das ist Loki«, unterbrach Mara sie ebenso leise. »Wir kennen uns. Okay, jetzt gerade kennt er mich noch nicht.«
Steffi sah Mara seltsam leer an, und Mara seufzte: »Also, dieser Loki da ist nicht der Loki, den ich … nein, das stimmt nicht. Er ist schon der Loki, den ich später mal kennenlerne, aber er weiß das jetzt noch nicht. Weil jetzt früher ist, und ich ihn erst später kennenlerne. Und weil er jetzt wohl auch … anders ist, und ich ihn jetzt gar nicht kennen will. Wie bei den Raben. Oh Mann, die will ich schon kennen, ich meine: Die wissen jetzt auch noch nicht, wer ich bin. Sein werde. Bin. So.«
Steffis Blick blieb so leer wie eine Pfandflasche, aber sie rang sich ein sehr langsames Nicken ab.
»Gut«, sagte Mara. »Ist nämlich echt nicht einfach zu erklären.«
Dann wendeten sie sich beide von dem unlösbaren Problem des Zeitreiseparadoxons ab und den Geschehnissen in der Halle zu.
Odin sagte gerade irgendetwas, das sie über die Entfernung nicht verstanden, und Loki blieb die ganze Zeit über still. Dann plötzlich lachte wieder jemand. Es war Odin persönlich. Dazu bedeutete er Loki mit einer nachlässigen Handbewegung zu verschwinden.
Loki blieb einen Moment lang unschlüssig stehen, doch als die beiden Wölfe Odins grollten, drehte er sich schließlich um und ging wortlos den Gang zwischen den Bänken zurück, den er gekommen war.
Das Lachen Odins begleitete ihn den ganzen Weg entlang, aber niemand wagte es mehr mitzulachen.
Erst als Loki die Säule passierte, hinter der Mara und Steffi versteckt waren, konnten sie ihn endlich richtig von vorne sehen. Mit diesem einen Blick beantworteten sich mehrere Fragen: erstens warum Loki nichts gesprochen hatte, zweitens warum er so wütend war auf den Kicherer und warum Odin ihn ausgelacht hatte. Lokis Lippen waren zusammengenäht mit einem dicken schwarzen Lederband.
Mara schrie auf und wusste sofort, dass das ein ganz großer Fehler war.

Kapitel 9

Unzählige Augenpaare richteten sich auf Mara. Schneller, als sie achduscheißedummdumm denken konnte, waren schon die ersten Krieger aufgesprungen und hatten ihre Waffen gezogen.
Loki selbst stieß ein ersticktes Knurren zwischen seinen zugenähten Lippen hervor, und seine düsteren Augen verengten sich zu Schlitzen. Er hatte so gar nichts von dem schalkhaften Kerl, den Mara in der Höhle kennengelernt hatte. Dieser Loki hier war ein mörderischer, rachsüchtiger Dämon!
Mara wich zurück und versuchte, Steffis Arm zu erwischen, um mit ihr körperlichen Kontakt aufzunehmen. Nur dann konnte sie sicher sein, dass sie sie wieder mit zurücknehmen würde! Sie erwischte einen Ärmel, riss ihn zu sich und konzentrierte sich sogleich auf den Platz vor dem Museumstrakt.
Professor Weissinger war ebenso überrascht, wie Mara aufgeregt war: »Wow, das war knapp!«, sprudelte sie sofort los. »Wir waren in der Halle mit den toten Kriegern! Odin war auch da und Loki! Und er hatte den Mund zugenäht, warum könnte das denn sein, oder ist das wieder irgend so eine brutale Göttergeschichte? Auf jeden Fall bin ich erschrocken und zwar zu laut. Und alle haben hergesehen, Loki auch, und da sind wir sofort abgehauen, boah, war das knapp!«
Sie sah den Professor an, doch der sagte nichts. »Hallo?«, fragte Mara. »Alles okay?«
Der Professor schüttelte den Kopf und deutete dann nur mit seinem Blick und einem Nicken seines Kinns an, wohin Mara schauen sollte. Mara drehte den Kopf und erschrak noch einmal: Sie hielt den Ärmel eines Wikingers in der Hand.
»Ah!«, rief Mara und sprang zur Seite wie ein Flummi. Gleichzeitig zog der Wikinger sein Schwert. Ein wütender Kampfschrei klang dumpf unter dem breiten Nasenschoner des Helmes hervor, als er das Schwert geschickt um den Körper kreisen ließ, um dann von ganz oben mit voller Wucht zuzuschlagen.
Mara stolperte rückwärts, prallte gegen die Hauswand und rutschte zitternd daran herab. Sie hatte keine Chance, dem Hieb auszuweichen, und wusste das. Sie wusste auch, dass es nichts brachte, die Augen zu schließen und dabei schützend die Arme über den Kopf zu heben, und tat es trotzdem.
Da hörte sie einen weiteren Schrei und öffnete die Augen. Es war die Stimme des Professors, der Maras Stab in beiden Händen hielt und gerade einen Hieb des Wikingers parierte.
»Weg von der Mauer!«, rief er ihr zu, während er sich seitlich zu seinem Gegner postierte, um weniger Angriffsfläche zu bieten und gleichzeitig die linke Hand vom Stab löste. Mit der Rechten führte er nun den Stab wie ein Schwert, ließ ihn durch eine Bewegung des Unterarmes zweimal blitzschnell kreisen und schlug dann dem Wikinger aus einem überraschenden Winkel mit voller Wucht auf die Schwerthand. Der schrie wütend auf und ging zum Angriff über. Doch sein Schwert glitt ins Nichts, denn der Professor stand nun daneben und vollführte mit dem Stab eine seltsame Drehbewegung entlang der gegnerischen Klinge. Bevor Mara verstehen konnte, wie der Professor das gemacht hatte, fiel das Schwert des Wikingers auch schon in den Kies. Mara bemerkte sehr wohl, dass der Professor sein typisches Ich-liebe-es-wenn-ein-Plan-funktioniert-Gesicht trug. Sie schrie erschrocken auf, als der Wikinger nach seiner Waffe tauchte.
Professor Weissinger schwang den Stab wie einen Golfschläger und traf das Schwert präzise am Knauf. Singend schlitterte die Waffe des Wikingers über den Kiesboden und schlug mit der Spitze am Fuß eines Baumstamms ein. Der Wikinger landete bäuchlings im Kies.
Gerade als er sich aufrappeln wollte, um hinter dem Schwert herzurennen, schob ihm Professor Weissinger den Stab zwischen die Füße. Der Wikinger vollführte einen halben Salto in der Luft, und es machte ziemlich laut PANK, als der Helm auf den Kiesboden prallte. Da der Kopf des Wikingers nach wie vor im Helm war und an dem Kopf der Rest des Wikingers dranhing, machte es wohl auch in dem Wikinger ganz schön laut PANK. Bevor der sich’s versah, hatte der Professor ihm seinen Fuß auf den Hals gestellt und schaute ihn mit einem Blick an, den Mara so noch nie an ihrem Mitstreiter gesehen hatte.
»Ekki bregð við eða ek skal þrýsta!«, sprach der Professor, und Mara ahnte schon, dass das eine Drohung war, in der das Wort zudrücken vorkam.
»Mara! Hol das Schwert!«, befahl der Professor, und Mara stolperte sofort los. Die Klinge ließ sich leider nicht so leicht aus dem Baum ziehen wie erhofft, aber nachdem sie einmal fest gegen den Griff getreten hatte, löste sich die Spitze aus dem Holz, und sie hob das Schwert auf.
Sie war überrascht, wie schwer es war. Mit der Klinge nach unten reichte sie dem Professor die Waffe. Der nahm seinen Fuß vom Hals des Kriegers und hielt ihm jetzt dafür die Spitze seines eigenen Schwertes unters Kinn.
Sehr darauf bedacht, keine hektische Bewegung zu machen, breitete nun der Wikinger auf dem Boden die Arme aus und drehte die Handflächen nach oben. Er ergab sich.
»Krass«, schulhofte es aus Mara hervor. Es passte nun mal perfekt zu der Situation. Sie war gleichzeitig verwundert und fasziniert, wie gut Professor Weissinger tatsächlich mit dem Schwert umgehen konnte.
Dieser merkte das. »Um ehrlich zu sein, ich war nicht ganz fair. Ich kenne dieses historische Schwertmodell, und es ist fürchterlich kopflastig. Damit kann man zwar wuchtig zuschlagen, aber dafür verliert man schnell die Kontrolle, wenn ein geschickter Gegner – in dem Falle also ich – an der richtigen Stelle Druck ausübt. Mit einem hochmittelalterlichen Schwert vom Typ XIII nach Oakeshott hätte er mich filettiert.«
Mara verzichtete darauf, zu fragen, was für ein Typ der Oakeshott war. Sie wollte den Professor in einer solchen Situation nicht noch in den Erzählmodus schalten. Schließlich lag da nach wie vor ein wütender Wikinger vor ihm auf dem Kies!
Der Professor ließ seinen Gegner nicht aus den Augen.
»Eingar heimskar!«, sagte er auf wikingerisch, und Mara konnte wieder nur raten, was es wohl bedeutete. Vermutlich so was wie: »Brav bleiben, Schnubbelchen, und die Flossen, wo ich sie sehen kann.« Was man eben so sagte, wenn man jemanden mit einer Waffe bedrohte.
»So, dann bring ich den jetzt mal zurück und hol Ihre Exfrau wieder«, verkündete Mara und trat neben den Professor.
»Eine klitzekleine Sekunde bitte noch!«, bat der Professor. »Lass uns wenigstens nachsehen, mit wem wir hier die Ehre haben!«
»Herr Professor! Ihre Exfrau rennt vermutlich gerade vor einem Haufen Wikinger davon!«
»Oder die vor ihr«, brummte der Professor in seinen Bart.
»Bitte?!«
»Ich sagte, du hast natürlich recht. Also dann, ich bin bereit.«
Mara beschloss, die letzten Sätze zu ignorieren, damit sie nicht noch mehr Zeit verloren, und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Und öffnete sie wieder. »Geht nicht«, sagte sie nur.
»Wie, ›geht nicht‹?«
»Na, das Fass namens Mara ist wieder mal leer. Reicht grad mal für mich alleine, aber nicht für drei«, antwortete Mara und seufzte. »Wo sind denn Hugin und Munin? Vielleicht geben die mir was ab?«
Sie sah sich um. Die beiden Raben waren verschwunden. Auch der Professor wagte einen Blick zur Seite, wo die beiden vorher noch gesessen hatten, und schnaubte wütend: »Die sind doch tatsächlich abgehauen! Na, vielen Dank!«
Ein Fehler, wie er schnell bemerkte, denn der Wikinger nutzte sofort die Chance, schlug mit seinem lederumwickelten Unterarm die Klinge des Schwertes zur Seite, rappelte sich auf und rannte dann wie der Teufel davon, in Richtung des Haupthauses.
»Verdammt noch eins!«, rief der Professor und machte sich sofort an die Verfolgung. »Du musst Steffi alleine zurückholen! Du schaffst das, Mara! Ich weiß das!«






