Natur-Dialoge

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Hier erleben wir gerade, was geschieht, wenn wir denkstreunend etwas zusammenfassen wollen. Das geht eigentlich nicht, weil streunende Aufmerksamkeit die Welt aufblättert oder auch auffaltet, eben erscheinen lässt. Wenn wir sie zusammenfassend einfalten wollen, müssen wir den Modus ändern. So beginne ich also noch einmal von vorne.

Fassen wir kurz zusammen: Für das Streunen verlassen wir unseren häuslichen Bezugsraum und ziehen neugierig, atmend, aufmerksamkeitsoffen durch die Welt. Dabei werden manche unserer üblichen Denk- und Handlungsmuster verstört. Es kann zu Erfahrungen wechselseitig lebendiger Begegnungen kommen, die sich unvorhersehbar spontan – nicht zu verwechseln mit irrelevant oder beliebig – in offener Aufmerksamkeit entwickeln. Es könnte sein, dass wir in dieser Bewegung begreifen, wie sehr wir als Erlebende mit Elementen oder Lebewesen unserer Mitwelt in einer kooperativen Verschränkung aktiv sind und dass dieses Miteinander auf alle einwirkt. Es kann sein, dass in diesem Modus des nicht zielgerichteten Seins manches in besonderer Weise in unsere Aufmerksamkeit rutscht, vor uns erscheint, so wie wir auch anderem erscheinen. Und es kann sein, dass dieses Auftauchen und Gesehensein, dieses Gegenwärtigsein-lassen und Gegenwärtig-sein, zusammen mit allem anderen, eine Atmosphäre kreiert oder eben da sein lässt, die wir als liebevoll, pulsierend verbunden, als Leben bewahrend und Lebendigkeit bildend beschreiben können. Und mit ein bisschen Glück können wir erahnen, was es heißt, miteinander Welt zu gestalten, und dass solches Zusammenleben nicht nur möglich ist, sondern auch stattfindet, wenn man nur dem Leben etwas Chance dazu gibt.10
Sympoietische Annäherungen
Etwas im Leben eine Chance zu geben, heißt für uns Menschen, dass wir diesem Etwas eine Stimme geben, dass wir es in Wortsprache bringen, dass wir darüber nachdenken, und vor allem auch, dass wir mit anderen darüber sprechen können. Katzen müssen das so nicht, zumindest wissen wir nicht viel darüber, ob und was eine Katze beim Streunen denkt und wie sie allenfalls ihre Erfahrung mit ihrer Mitwelt in Austausch bringt. Sie tut das ganz bestimmt in aller katzischen Handlungskraft. Wir können von Katzen in Sachen Streunen viel lernen. Wie sich im Raum bewegen, die Rhythmik von Stehen und Gehen, die Eigenwilligkeit ihrer Aufmerksamkeit, ihre konzentrierte Zuwendung zu dem, was ihr bedeutsam wird. Wir können versuchen so zu tun, als seien wir eine Katze, und unsere leibliche Empathie wird uns helfen, einen guten Einstieg ins Streunen zu finden. Aber im inneren sprachlichen Dialog und im Austausch mit anderen, da sind wir dann auf unsere typisch menschlichen Ressourcen zurückgeworfen.
Hier landen wir in dem, was wir Sprache nennen, samt Grammatik, Vokabular, Tiefenstrukturen, und in den kulturellen und biografischen Feldern, die durch sie erschaffen werden. Die Art und Weise, wie wir über das Streunen sprechen, greift ins Geschehen ein. »Die Sprache betont gewöhnlich nur eine Seite jeder Wechselwirkung«, meint Bateson (1982, S. 80 ff.). Sie suggeriere, dass ein einzelnes Ding irgendeine Eigenschaft haben kann. Das ist schlicht und ergreifend ungenau, weil nichts für sich alleine steht. Alles existiert nur in ständiger Beziehung und Wechselwirkung. Alles wird von eigenen Relationen und seinem Verhalten in Beziehung zu anderen Dingen und zum Sprecher »gemacht«. Für solch bewegte Sachverhalte eignet sich unsere Sprache nur wenig.
Wir, hier gemeint die indogermanischen Sprachgruppen, versprachlichen uns – zumindest seit ein paar tausend Jahren – ungenau. Unsere Sprache schafft Abgrenzungen, wo auch Beziehung waltet; sie hält fest, wo auch Bewegung ist, und schafft Hierarchien, wo auch Kreise und Wellen sein könnten. Wir suchen nach kausalen Schlüssen, wo etwas am Entstehen ist, und betonen das Individuum, wo es um Interaktion geht. Kurz: Unserer aktuellen Sprache fehlt es an Wortschatz und Struktur (glücklicherweise nicht an Poesie!), wenn es um lebendige Zusammenhänge geht. So gehen viele Facetten, viele Handlungen und ebenso viele Beteiligte des Geschehens im wahrsten Sinne des Wortes verloren und mit ihnen auch Stimmungen, Dissonanzen, Ideen, Möglichkeiten, Positionen. Am Ende verschwindet dieser fruchtbare Austausch mit anderen, der uns helfen könnte zu begreifen, was wir gerade erleben, was in unserer Nische geschieht und wozu es uns führt.
Für indogermanische Sprachen, die auf ihre Weise auf Abgrenzung und lineare Schlussfolgerungen spezialisiert sind, ist es schwierig, ein differenziertes Verhältnis zu kooperativen komplexen Vorgängen zu entwickeln.11 Es fällt uns schwer, in der Welt Kooperation zu sehen, Kooperation zu denken oder gar in diese Richtung zu forschen. Es fällt uns schwer, Fragen zu stellen, die uns dem beidseitig Ineinandergreifenden, Vielgestaltigen, Gleichzeitigen näherbringen.
Unsere Geschichte(n), Mythen und Wissenschaften sind entsprechend gefüllt mit Kämpfen, Kriegen, Helden und Märtyrern, vom Überlebenskampf in feindlicher Umgebung und Selektion der »Besten«. Wer den Blick auf kooperative Prozesse lenkt, wird belächelt, ignoriert oder gar behindert.
Als – um ein Beispiel zu nennen – Lynn Margulis (vgl. Margulis 2018), eine US-amerikanische Biologin (1939 – 2011), die sogenannte Endosymbiontentheorie aufgriff und vertieft beforschen wollte, wehte ihr lange kalter Wind entgegen. Die Idee, dass schon in frühen Stunden der Evolution symbiotische Prozesse zur Entwicklung von maßgeblichem Leben geführt haben könnten, schien den gängigen Auffassungen von Wirklichkeit absurd. Dass Symbiose und symbiotische Prozesse Leben bilden, widersprach der Idee einer linearen, auf Selektion und Adaption ausgerichteten Evolutionsschau. Auch wenn heute ihre Theorien weitestgehend bestätigt sind, bleiben sie und ihr Ansatz der Symbiogenese, der die Evolution kooperativ denkt, weitgehend unbekannt oder aber mit dem Geschmack von esoterischem Halbwissen belegt. Dass sie zu einer wesentlichen Vertreterin der mit James Lovelock entwickelten Gaia-Hypothese wurde, hat die Sache nicht einfacher gemacht. Da hat es auch nicht genützt, darauf zu verweisen, dass die Gaia-Hypothese keine alte Göttin ehrt, sondern die Erde als ein autopoietisches, lebendiges System beschreibt, in dem wir Menschen keine Passagiere sind, sondern aktive Mitwirkende. So ist das eben. Das kann man Darwin nicht vorwerfen. Er ist einfach der prominentere Kerl und wird es wohl auch noch einige Zeit bleiben.
Die Beschreibungen von Maturana und Varela rund um die biologischen und neurobiologischen Grundlagen waren revolutionär, aber ihr Fokus und ihre Wortwahl waren in den 1980er-Jahren auf die Autonomie und die operationale Geschlossenheit des Lebewesens bezogen. Ihnen war klar, dass eine autopoietische Einheit, ein sich selbst erhaltendes Lebewesen, nur in Kooperation mit »seinem« physischen Raum existiert, aber mit ihrer Begriffswahl lenkten sie die Aufmerksamkeit auf das abgegrenzte Lebewesen und nicht auf die Interaktionen mit der Umwelt.
Angenommen, Lynn Margulis hätte mit Humberto Maturana und Francisco Varela geforscht: Hätten sie vielleicht ihre Erkenntnisse unter dem Titel Sympoiese12 in die Welt hinausgetragen? Und wären sie dann auch so prominent geworden?
Wie auch immer: Auf der Suche nach der Sprache und den Narrativen, die uns helfen zu erzählen, was uns nicht nur beim Streunen passiert, sondern ganz generell beim Leben in und mit der Welt, kommen mir »Sympoiese« oder auch »sympoietisch« sehr entgegen. Sie lenken unseren Fokus auf das Beziehungsgeschehen, auf das Miteinander, auf das Mit-Machen, auf das Mit-Werden. Das können wir gut brauchen.

4 Das Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien ist ein seit den 1960er-Jahren aktives Bildungszentrum, das einen humanistisch-interdisziplinären Schwerpunkt und im Laufe der Jahre viele klingende Namen und Netzwerke beherbergt hat, ein gesellschaftskritischer Think Tank mit starken Einflüssen aus dem asiatischen Kulturraum. Michael Murphy, Henry Miller, Carl Rogers, Joan Baez und Fritz Perls haben hier gewirkt. Auch Gregory Bateson war an der Gründung mit beteiligt und hat seine letzten Lebensjahre dort verbracht. Siehe auch: www.esalen.org [29.06.2021].
5 Es müsste hier freilich Wildnisraum heißen. Ich spreche hier abwechselnd von wildem Raum oder Wildraum, weil eigentliche Wildnisräume, also Räume, die in einem ausgewogenen Maß menschlicher Beeinflussung ausgesetzt sind und eigenlebendig existieren, weder in stadtnahen noch in landwirtschaftlichen Gebieten vorhanden sind. Mit Wildräume meine ich also »Naturräume«, die zumindest weitestgehend werbefrei sind.
6 Matthew Crawford stellt in seiner Ethik der Aufmerksamkeit das Konzept der Aufmerksamkeitsallmende vor und will in ihr die eigene Aufmerksamkeit als allgemeines Gut sehen. »Es gibt nichts, was uns mehr gehört als unsere Aufmerksamkeit. Im Normalfall suchen wir uns aus, worauf wir Aufmerksamkeit richten wollen, und das bestimmt in einem sehr realen Sinn, was in unseren Augen wirklich ist – was tatsächlich in unserem Bewusstsein existiert. Daher ist die Inanspruchnahme unserer Aufmerksamkeit eine besonders persönliche Sache.« (Crawford 2016, S. 28)
7 Übersetzung der Autorin; Zitat aus The Origin of Life and the origin of Living, Beitrag von Humberto Maturana und Ximena Dávila in der 33bienal, Sao Paulo 2018 (Lehrunterlage der Weiterbildung »Fundaments of Cultural Biology«, Matriztica Institute).
8 Jene West-Ost-Verbindung, die seit den 1960er-Jahren und der 68er-Bewegung sowohl politisch also auch kulturell sehr präsent ist, könnte auch in einem wesentlich größeren Bogen gesehen sein. Jan Assmann nimmt in seinem Buch Achsenzeit den Diskurs von Karl Jaspers’ Idee der »Achsenzeit« auf und zeigt darin, dass dieses Modell, das von einer zeitgleichen Erscheinung großer prophetischer Männer und ihrer transzendenten Einheitslehren nur aufgrund der Ausblendung des bereits existierenden Kulturen des Südens möglich war bzw. ist. Er sieht hier die bis heute wirksame Tendenz, die Verbindung von West und Ost anstelle einer gesamthaften Schau in den Blick zu nehmen.
9 Hartmut Rosas Ausführungen zu Resonanz (2018) und Unverfügbarkeit (2020) helfen hier beim Weiterdenken: »Resonanz bedarf einer erreichbaren, nicht einer (grenzenlos) verfügbaren Welt. Die Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit liegt an der Wurzel des Weltverstummens in der Moderne« (Rosa 2020, S. 67).
10 Vgl. Maturana u. Verden-Zöller (2005). Das kommt dem sehr nahe, was Maturana in seinen Überlegungen zur Biologie der Liebe zu erkennen meint: »Love is a manner of relational behaviour through which the other arises as a legitimate other (as an other that does not need to justify his or her existence in relation to us) in a relation of coexistence with oneself« (Maturana in einem unveröffentlichten Skript zu der Weiterbildung Fundaments of Cultural Biology).
11 Mit dem Schicksal indogermanischer Völker, das gemeinsam mit seiner Sprache als eine Geschichte von Kriegen und Gewalt erzählt wird, beschäftigen wir uns genauer im Kapitel »Wohin reichen unsere Erinnerungen« (S. 165 ff.).
12 In ihrem Buch Unruhig bleiben widmet Donna Haraway ein Kapitel der Sympoiesis. Dort stellt sie auf Seite 88 fest: »Solange Autopoiesis nicht selbstgenügsames selber machen/sich-selber-machen meint, sondern von der Gewichtung verschiedener Aspekte systemischer Komplexität handelt, besteht zwischen Autopoiesis und Sympoiesis ein produktives Reibungsverhältnis, oder auch: ein Verhältnis der generativen Umarmung, nicht eines der Opposition« (Haraway 2018, S. 88).
3Weiter weben
»Sobald ein feines Weberschiffchen Himmel, Industrie, Texte, Seelen und moralisches Gesetz miteinander verwebt, wird es unheimlich, unvorstellbar und unstatthaft.«
Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 10
Grüne Grenzen
Nun aber zurück in die Praxis – genauer in die psychotherapeutische Praxis. Zu einem Ort also, in dem sich dazu ausgebildete Menschen darum bemühen, anderen Menschen zu besserer Lebensqualität zu verhelfen. Was und wie hier genau vonstattengeht, -gehen soll und -gehen darf, das prägen die psychotherapeutischen Schulen, die sich in theoretischen und methodischen Zugängen unterscheiden und überschneiden, vor allem jedoch die kulturellen sowie sozial- oder gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen. Diese ermöglichen und wachen mithilfe ihrer rechtlichen Strukturen, ihrer finanzsteuernden Institutionen und den fachlichen Diskursprozessen darüber, dass – salopp gesprochen – überall, wo Psychotherapie draufsteht, auch Psychotherapie drinnen ist (oder auch psychologische Beratung, Lebens- und Sozialberatung und anderes). Selbst wenn die Psychotherapie ein relativ junges berufliches Gewerbe ist, so ist sie, wie jedes andere moderne Berufsbild auch, ständig Anpassungen und Veränderungen ausgesetzt. Qualität und Sicherheit gegenüber den Klient:innen, gegenüber den institutionellen Partnern, gegenüber dem kollegialen Netzwerk sowie gegenüber dem relevanten öffentlichen Raum fordern und fördern Qualitätsstandardisierungen, Dokumentationsrichtlinien und Schutzkonzepte.13 Wer in diesem Feld eine professionelle und offizielle Anerkennung anstrebt oder repräsentiert, wird die Reinheitsgebote seiner Gilde und ihrer Umgebung mitgestalten und umsetzen. Er oder sie oder die Praxisgemeinschaft muss reflektierend anerkennen, was Psychotherapie (oder auch jede andere Profession) ist, was sie für wen und mit wem tut und was nicht. Wie und wie lange sie es tut, und letztlich auch, wo sie es tut. Das Ausverhandeln der professional-territorialen Grenzen schafft ein komplexes Zusammenspiel von Systemen und Strukturen. Es ist ein hochpolitisches Geschehen, das zwischen Ärzt:innen, Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen, Lebens- und Sozialberater:innen, Sozialarbeiter:innen, Seelsorger:innen, Priester:innen, Physiotherapeut:innen, Naturheilpraktiker:innen, zwischen Komplementärtherapien, Apotheken, Pharmabetrieben, Berufsverbänden, medizinischem Fachpersonal, Rettung und Notfallstellen, Rechtsbestimmungen, Schaman:innen, Gurus und Zen-Meister:innen, Krankenkassen und Hausmittelkundigen, Medien, Verlagen, Banken, Hauseigentümer:innen, Ombudsstellen, arbeitsmarktlichen Bestimmungen, freimarktlichen Dynamiken, freilich den Hilfesuchenden selbst und ganz vielen, die ich hier nicht aufgezählt habe, im Gange ist. Welch ein vielarmiges Geschehen, das ständig darum bemüht ist, saubere Grenzen und einen ebensolchen Grenzverkehr sicherzustellen! Dennoch – so scheint es – sind Schmuggler und Schlepper ständig am Werk. Von besonderer Bedeutung für uns scheint mir noch etwas: nämlich die vielen Kilometer der sogenannten grünen und blauen Grenzräume.
Dort bei diesen Wäldern, Auen, Bergen, Steppen, Wüsten, Flüssen oder Meeren findet fortwährend Austausch statt. Vögel, Füchse, Schnecken, Samen, Mikroben, Bären, Wölfe, Pilze, Pflanzen, Viren, radioaktive Strahlung, Wüstensand – alles überschreitet in unserer Biosphäre unermüdlich nationale Grenzen und gestaltet fortwährend in Bewegung topografische Rand- und Übergangsräume. Fruchtbar und furchtbar zugleich, je nach Betrachtung und Interesse. Naturgemäß sind auch Menschen und ihre Schicksale an diesen grünen Grenzen unterwegs. Dunkle und helle Momente des Menschlichen erzählen sich hier, damals wie heute: Menschenschmuggel, Flüchtlings- und Rettungsschifffahrt und Grenzhilfen der besonderen Art.14
Moderne Trennungen
Landesgrenzen werden bekanntlich an Grenzposten entlang von Luft-, Land- und Wasserstraßen gehütet. Sie sind genau genommen nicht mehr als wenige Punkte entlang ausgewählter Linien. Es handelt sich um Repräsentanten eines wesentlich umfassenderen Raumes, der ein Land ausmacht. Wir sind es gewöhnt, diese Verkehrspunkte, -knoten und -linien zu einer gesamten Fläche zusammenzudenken. Das hat vereinfachende Wirkung, ist jedoch – um in Batesons Jargon zu bleiben – ungenau. Diversität und Größe des irdischen, natürlichen Raumes kippen aus unserer Aufmerksamkeit, gehen im stereotypen Netz nationaler Grenzpunkte verloren. Sie rücken erst dann wieder ins Bewusstsein, wenn soziale, politische, ökonomische oder biologische Umstände die repräsentierenden Grenzübergänge in Frage stellen. Dann wird an andere Stellen ausgewichen und versucht, in das Gebiet »einzufallen«.
Dazu fällt mir eine berührende Geschichte ein: Viele Jahre lang sind wir von unseren Seminarreisen in Griechenland mit den Autofähren von Patras, Peloponnes, nach Venedig, Italien, gefahren. Es war noch zu einer Zeit, in der wir mit Kajaks, also mit einem Anhänger voller schlanker Boote unterwegs waren. Der Fährhafen von Patras war jedes Jahr von einem höheren, jedoch noch improvisierten Zaun eingefasst, an dem sich Flüchtlinge und Asylsuchende drängten, nach irgendwelchen Schlupflöchern Ausschau haltend, durch die sie sich im dichten Gemenge von LKWs und Autos einen Weg ins Innere dieser Schiffe bahnen konnten. Welch trauriges, ja unglaubliches und unwürdiges »Schauspiel« für alle Anwesenden. Wir also fuhren mit unserem Auto und seinem Anhänger, mit unseren Pässen und Tickets auf das Schiff, schaukelten sicher durch das Mittelmeer und fuhren – wie schon so oft – von Venedig hoch, über Südtirol, den Brennerpass und von dort Richtung Westen in die Schweiz. Als wir in Vorarlberg an einer Tankstelle Halt machten (ca. fünfeinhalb Stunden später), fiel mir sozusagen mein Herz in die Hose, als ich es deutlich aus einem der Boote klopfen hörte! Wir konnten und wollten gar nicht glauben, was jedoch immer wirklicher wurde: Wir hatten in einem unserer Kajaks einen blinden Passagier! Als schließlich dieser Jemand seine kleine Hand aus der Sitzluke streckte, war es für uns alle unübersehbar: Da war ein Mensch. Seit wann, wissen wir nicht, sicherlich jedoch seit Venedig, in einer Kajakluke untergebracht, mit uns über die Alpen gefahren! Wer schon mal in einem Kajak gesessen ist, kennt die Kleinheit des Raumes, und es ist klar, dass ihm, wer auch immer er war, von anderen geholfen wurde. Und jetzt stehen wir mit ihm in Vorarlberg. Was ist jetzt die gute Hilfe? Wir sprachen ihn an, berieten miteinander und entschieden, die Polizei zu kontaktieren. Was hätten wir tun sollen? Wenn es für ihn eine Chance gab, dann über den formellen Asylweg. Berührt bin ich heute noch, auf welch schöne und sichernde, kompetente Weise jene Polizistin und ihr Kollege diesen hageren Menschen aufgenommen haben, den wir in ihrer Anwesenheit wenige Minuten später aus dem Boot befreit haben. »Ihr kommt aus Patras, okay, alles klar, da ist viel los«, kommentierten sie mitfühlend. Wie seine Geschichte weiterging, das kann ich nicht sagen. Wir hoffen, die waghalsigen Abenteuer illegaler Grenzüberschreitung haben ihn an einen lebenswerten Ort geführt. Der Hafen von Patras wurde übrigens am Stadtrand neu gebaut und mit neuen soliden Mauern versehen. Das änderte an der Situation der Migrationsbewegung jedoch wenig.
Wer dieses Hin und Her auf allen (Un-)Wegen eindämmen will, muss auf Erden gewaltige Mauern, eiserne Vorhänge und Zäune bauen, muss zu Wasser und zu Land patrouillieren und überdies in der Luft kontrollieren und organisieren. Diese Projekte sind allesamt sehr aufwändig und fehleranfällig, werden als bedrohlich bis unwürdig erlebt und führen uns Tag für Tag vor Augen, dass saubere Trennungen von Ländern oder politischen Gebilden illusorisch sind. Diese Trennungsideen mögen noch viel menschliches Leid und weite Auslöschungen von kultureller und biologischer Diversität mit sich bringen, aber auch der beständige lebendige Austausch wird gesehen und ungesehen fortdauern und »Mauern fallen lassen«.
Ebenso wie Grenzübergänge nicht das ganze Land sind, umfassen die kulturellen Vereinbarungen, die heute unser Verständnis von psycho-sozialer Beratung prägen, noch lange nicht das ganze soziale Geschehen, das uns bewegt. Es sind lediglich Netzwerkpunkte, die wir zu einem vereinfachenden und vermeintlichen Ganzen zusammenfassen. Hier wie dort geraten dabei die grünen Grenzräume für gewöhnlich aus dem Blick, und auch hier wirken Trennungsideen bzw. Handlungsabkommen.
Unsere moderne Welt fordert zwei wesentliche Unterscheidungen: Sie besteht darauf, dass wir als Menschen von einer nichtmenschlichen Dingwelt getrennt sind. Sie gründet demnach in der Vorstellung, dass das Menschliche eine eigene Welt, ja oft sogar eine extraterrestrisch verstandene Welt bildet. Zusätzlich verweist sie darauf, dass das einzelne menschliche Individuum autonom und selbstbestimmt von den anderen Menschen verstanden werden muss. Diese Fokussierungen auf das unabhängige, frei kreative Menschliche, gepaart mit dem Glauben an das abgegrenzte, autonome Individuum an sich, bilden die Basis unserer Moderne und finden ihren Widerhall in allen gesellschaftlichen Bereichen.15
Nicht verwunderlich, dass sich auch die anerkannte Psychotherapie in diesen Sichtweisen entwickelt hat und ihr Knowhow diesen beiden Grundannahmen zur Verfügung stellt. Sie blickt auf das zwischen-menschliche Geschehen, als sei es vom natürlichen Raum losgelöst, und unterstützt das Individuum bei Einsicht und Selbstermächtigung.16
Politisch korrekte Psychotherapie hat sich darauf verständigt, Grenzverschiebungen entlang der gegebenen Straßen zu bewirken, und hält sich selbst und ihre Klienten mithilfe von Diagnose- und Abrechnungsschlüsseln nachweislich auf rechten Wegen. So können tiefenpsychologische Schulen dem Unbewussten Raum geben, müssen in der Reflexion jedoch im vorgegebenen patriarchalen Analyse-Schema bleiben. Humanistische Schulen erlauben zwar emotionale und körperorientierte Expression, jedoch nur mit dem Ziel, das Individuum mit sich selbst zu verbinden. Systemische Schulen denken in familiären und anderen systemischen Bezügen, lassen die »natürliche« oder auch »politische« Umwelt aber oft außen vor.
Unzulässige Verbindungen
Wenn dennoch das ständig-wilde Treiben der vergessenen Ränder, das in unseren Seelenräumen, Erinnerungen, Identitätsfragen und Weltbetrachtungen vielleicht spirituelle, politische, vielleicht ökologische Fragen aufwirbelt und in die gut desinfizierten Praxisräume eindringt, dann bleibt dem Professionellen nur die Empfehlung seiner Klienten in andere Welten. Die gibt es sowohl im klinischen, privat- oder alternativklinischen Bereich als auch im Feld des sogenannten freien Marktes. Allerdings ist auch hier große Vorsicht geboten. Nicht nur die juristische Sachlage, sondern auch die fachlich-kollegiale Grenz- und Tugendwacht sind einigermaßen scharf gestellt.
Auch hierzu fallen mir zwei kleine Geschichten ein. Die eine aus jüngerer, die andere aus fernerer Vergangenheit, und doch sind beide miteinander verwoben.
Die erste Begebenheit: Schon vor und besonders während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 waren Online-Kongresse vermehrt im Umlauf. Mehrere Institute und Berufsverbände haben zu der Zeit in gemeinsamer Orchestrierung einen Gratis-Online-Kongress, eine Sammlung von 34 Vorträgen namhafter Psychotherapeut:innen inklusive des Dalai Lama (zwar meines Wissens kein Psychotherapeut, aber weise auf alle Fälle), empfohlen. Ein offenes Angebot, ein historisches Zeitdokument, ein breites Stimmenspektrum von prägenden Frauen und Männern. Als kurz nach Ankündigung dieses Online-Services der Vorstand eines großen österreichischen Berufsverbandes – offenbar aufgrund empörter Stimmen von Mitgliedern – sich offiziell dafür entschuldigen musste, dass er nicht explizit darauf hingewiesen hatte, dass manche der dort vorkommenden Redner:innen dem aktuellen, anerkannten Rahmen nicht entsprächen, da wurde mir mulmig zumute.
Womit dürfen wir uns als Professionelle beschäftigen, ohne in Verruf zu geraten? Muss ein Vorstand eines Berufsverbandes dafür sorgen, dass seine Mitglieder keine falsche Kost zu sich nehmen? Muss das Geschichtsfeld gesäubert werden? Wenn ja, wovon, von wem, und wer kann darüber befinden? Was darf man denken oder erfahren, ohne ermahnt zu werden? Was darf gleichzeitig und nebeneinander sein? Und auch: Was darf-kann miteinander gedacht sein, was darfkann miteinander gesehen, in Bezug und in Dialog gebracht werden?








