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Besonders jene letzten Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Sie haben mich in allerlei schöne, aber auch peinliche Situationen geführt und sind offenkundig auch die Leitfragen dieses Buches. Sie sind ergiebig und können in viele Kontexte hineingestellt werden. Besonders nützlich sind sie, wenn wir sie in Zwischenkontexte stellen oder – wozu sie eben neigen – durch sie Zwischenkontexte entstehen.
Das Denken in unzulässigen oder auch einfach nur ungewohnten oder vergessenen Zusammenhängen ist nicht risikolos, auch nicht moralisch erhaben, aber vielleicht dringend nötig, wenn es ums Lebendige geht. Trotz jahrelanger Selbsterfahrung und einigermaßen solider Selbstbildung weiß ich nicht, wieso mir dieses »Zusammensehen« von normalerweise getrennt betrachteten Sachverhalten immer wieder geschehen ist und anhaltend geschieht. Es muss sich um eine angeborene Anomalie handeln, der ich die Treue halte, auch wenn sie mir einige Zurecht- und Zurückweisungen eingebracht hat. Von einer dieser Zurechtweisungen will ich hier gerne als zweite Geschichte erzählen.
Vor ungefähr dreißig Jahren war ich als blutjunge, in Ausbildung befindliche Psychotherapie-Lernende durch eine Verkettung von Umständen Teilnehmerin eines Aufstellungsseminares unter der Leitung von Bert Hellinger17. Zu jener Zeit war diese Arbeit noch eher ein Geheimtipp, die Gruppen umfassten zwischen zwanzig und dreißig Menschen, gearbeitet wurde in einem Dachzimmer einer Pension irgendwo nördlich von Salzburg. Es war ungeheuer aufregend, inspirierend und irritierend zu erleben, in welcher süßlichen Strenge dieser damals schon ältere Herr den Menschen im Raum konzentrierte Aufmerksamkeit schenkte und welche Bilder und Geschichten sich daraus entspinnen konnten. Es war unglaublich beeindruckend und empörend zugleich, welche Atmosphären sich im Raum entwickelt haben: wo Tränen geflossen sind und wo sie verboten wurden. Wo Segen ausgesprochen und nahezu sichtbar wurde, und dann wieder süffisante Kälte jemanden gemeinsam mit seinen Anliegen in Ungnade fallen ließ. Als zuschauende, mitschauende Lernende blieb mir der Mund offen. Hier war ein Vater-Meister am Werk, der sich widerspruchsfreien Hoheitsraum schaffte und in ihm Verknüpfungen und Deutungen einführte, die wahrlich gewagt waren, oft aber scheinbar Sinn stifteten. Hier wurde jemandes Seitenblick zum absolut gewissen Hinweis auf ein verstorbenes Kind; eine Körperhaltung sprach unmissverständlich von unterbrochenen Beziehungslinien; ein Ton in der Stimme erzählte von einer gekränkten Tante, und manchmal musste jemand nur in gewisser Weise einatmen, um Bert Hellinger die Gewissheit zu geben, dass und was nicht in der Ordnung ist, die Ordnung schafft. Hier war eine priesterlich-geistig-primärtherapeutisch-tiefenpsychologisch-szenisch-körperlich-gestische-mystische Mischung am Werk, die sich die Freiheit nahm, Erfahrungen und Wahrnehmungen mit Konzepten und Hypothesen in neue und oft auch bewegende Zusammenhänge zu stellen. Verständlicherweise gebannt von diesem Geschehen, war ich in diesem Dachzimmer mit seinen kleinen Fenstern in all der Zeit doch auch verbunden mit dem Wetter draußen. Wechselhaft zogen Sonne, Regen, Wolken und Winde durchs Land und haben die Gruppe, die Aufstellungen, die Runden auf ihre Art und Weise beleuchtet oder beschattet. Nebst all den Gesten, Verbeugungen, Blicken und Sätzen war ich fasziniert vom Zuspiel der natürlichen Belichtung und sah phänomenologische Zusammenhänge. So hüllte die Sonne zwei Menschen für einen langen Moment in inniger Umarmung und zog sich zurück, als sie wieder auseinandergingen. So grollte ein Donner im Moment höchster Spannung, als der Verrat an einem Bruder im Raum stand. Es zog dicker Nebel auf, wenn von Geheimnissen die Rede war, die besser verdeckt bleiben sollten, und Blitze leiteten die Bewegungen ein, die in einer Familie Ausgleich bringen sollten. Mich interessierte, ob Bert Hellinger in seiner Begleitung solcherlei Phänomenen auch Beachtung schenkte. Ein immerhin gütiger, dennoch strenger und vor allem wissender Blick wurde mir daraufhin zuteil. »Nein, nein, junge Frau, solcherlei Verbindungen bilden unzulässige Zusammenhänge. Wenn einer so schaut, kann er schnell verrückt werden, das ist gefährlich«, erklärte er.18
Das klang einleuchtend. Wo kämen wir hin, wenn wir phänomenologische Zeichenräume nicht mehr nur auf menschliche Interaktionen beschränkt hielten? Also genauer, wo käme unsere Psychologie, unsere Psychotherapie da hin? Dass ein paar Landwirt:innen und Dachdecker:innen, Jäger:innen, Pilot:innen, Fischer:innen oder Schiliftbetreiber:innen hin und wieder ihre Nase raushalten oder eben ihre Maschinen befragen, die ihre Nase verlängern, weil sie trotz aller Moderne noch immer vom unmittelbaren irdischen Raum abhängig sind, das leuchtet ein. Hier wäre sogar fahrlässig, wenn sie es nicht täten!
Anders in den Feldern des »Geistes und der Psyche«. Hier scheint die Annahme des Vom-Raum-Gelöstseins Sicherheit zu garantieren. Die Idee des »reinen Denkens« ist seit längerem in stabiler Liaison mit der Idee des »objektiven Maßes«. Miteinander sind sie zu prägenden Einflussgrößen geworden sind. Das erscheint mir wiederum ziemlich gefährlich.
So oder so ist das Leben irgendwie gefährlich. Meine Mensch-Natur-Raum-verwebende Wahrnehmung hat sich jedenfalls nicht einschüchtern lassen. Dieser Gefahr von Verrück(t)ung bin ich fortwährend ausgesetzt und war und bin damit ja nicht alleine.
Kulturelle Situationen
Uns leitet hier also die Idee des wechselseitigen Miteinander alles Lebendigen, und uns interessieren Wahrnehmungsweisen und Erfahrungen, die dieser Reziprozität nahekommen. Das, was wir denken, tun, fühlen und erleben, ist niemals eine Einbahnstraße. Dieses Ich, mit dem wir uns in der Welt bewegen, ist kein abgeschlossenes Gehäuse, das mithilfe einer beleuchteten Linse von innen nach außen blickt und mit mehr oder weniger Geschick Eindrücke selektiv nach innen nimmt. Ein kleines bisschen mag das zutreffen, aber eben nur ein ganz kleines. Denn während wir mehr oder weniger bewusst das, was uns begegnet, in uns zu verstauen oder einzubauen versuchen, tun andere dasselbe und bringen allenfalls Teile von uns bei sich unter! Und, was die Komplexität noch um ein Vielfaches erhöht: Weil wir ja nur einen Bruchteil der eigentlichen Fülle unserer Sammlung wahrnehmen und verwalten können, sind wir mit einer von unsichtbaren Händen vollzogenen fortwährenden Umschichtung beschäftigt bzw. mit deren Folgen!
Erschwerend kommt ein mitunter latentes Misstrauen gegenüber allem Unbekannten hinzu. Wären wir vertrauensvoll ausgerichtet, so könnten wir davon ausgehen, dass jene unsichtbaren »Hände« im Sinne eines intuitiven Gesamtwissens19 wirken.
Dann könnten wir es uns in uns selbst bequem machen und unseren Impulsen folgen, darauf vertrauend, dass das Unbewusste wohlmeinend mitarbeitet und sich die Dinge fügen. So viel Gelassenheit ist leider für wenige Menschen möglich. Das Maß an getakteter Lebensführung zwingt viele, sich selbst zu optimieren. Glücklich sind darunter diejenigen, die sich dabei in einer soliden, geräumigen und selbstgestalteten Schachtel wähnen, die je nach Bedarf auf verschiedenen Messegeländen zur Ausstellung gebracht werden kann. Schließlich ist und bleibt der Mensch ein soziales Wesen! Weniger glücklich jene, die als Kurator:innen ihrer selbst20 nicht so erfolgreich sind und deren Selbstempfinden immer begrenzter wird. Hier ist eine Tendenz wahrnehmbar, die das Lebensgefühl des Einzelnen, aber auch das von Gemeinschaften isolationistisch verengt. Es herrscht tiefe Verunsicherung rund um Zugehörigkeit und Zugehörigkeitsrechte. Sei es im persönlichen biografischen Erleben, in familiären und sozialen Verbänden oder in nationalen Verfassungen und internationalen Abkommen – überall ist diese Verunsicherung anzutreffen:
Bin ich, sind wir zugehörig? Darf ich, dürfen wir hier sein? Darf ich, dürfen wir mitsprechen? Bin ich, sind wir eine Belastung? Habe ich, haben wir ein Recht auf Teilhabe? Solche Fragen stellen sich ganz normale Kinder, Mütter, Väter in ganz normalen Familien, auch hier in Mitteleuropa. Solche Fragen stellen sich in vielen Ländern der Erde viele Töchter, nur weil sie Töchter und keine Söhne sind.
Solche Fragen stellen sich in Mitteleuropa rumänische Pflegerinnen, portugiesische Strassenarbeiter oder brasilianische Sexarbeiter:innen – um hier ein paar klischeehafte und doch ziemlich reale Lebenslagen anzusprechen. Solche Fragen stellen sich arbeitslos gewordene oder frühpensionierte Facharbeiter, deren Fach es nicht mehr gibt. Diese Fragen stellen sich all diese und noch viele mehr in noch prekäreren Situationen.
Grundgefühle der Isolation und Ohnmacht, seien sie situativ berechtigt oder nicht, bei gleichzeitigem Anspruch auf autonome Selbstbestimmung, sei sie situativ möglich oder nicht, sind schwierig zu verwalten.
Das kann sich in vielen Diagnosebildern und Symptomen ausdrücken: Rückzug und Depression, Wahn und Zwang, Angst und Panik. Die Idee und das Erleben von Isolation ist ein zentraler Verstärker all dieser Dynamiken. Es ist ein schlimmes Nervengift, das das Zusammenleben mit uns selbst, mit anderen Menschen und der Welt verzerrt oder gar zerstört.21
Hat nicht jede soziale Heilkunst zu ihrer Zeit und unter ihren prägenden Annahmen anti-isolationistische Zugänge entwickelt?
Haben indigene Weltenempfindungen nicht Sprache und Methoden entwickelt, um ihre Verbindung zur Ahnenwelt und zu Naturräumen, Kräften, Geistern oder Gött:innen zu halten? Wurde nicht mit dem Erscheinen eines Gottes, der die Geschicke lenkt, die Verbindung mit dieser großen Kraft zur Orientierung des Heils? Ging es rechte Zeit später nicht um die Verbindung zur Vernunft und um Anschluss an Messgeräte, die Ordnung in die Dinge bringen sollten?
Haben nicht alle Strömungen nach der Erfindung von Psychologie und Psychotherapie verschiedene Wege beschritten, relevante Bereiche aus ihrer Singularität zu befreien und in einem sinnvollen Zusammenspiel zu sehen? Zum Beispiel die Bewegungen zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Oder den Gefühlen und dem Denken oder zwischen Körper und Bewusstsein, zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Lebenserfahrungen. Andere arbeiten an der Verbindung des Ichs mit transpersonalen Kräften, wieder andere bemühen sich um die Verständigung zwischen verschiedenen Ich-Anteilen oder zwischen abgekapselten, selbstständig gewordenen Erinnerungen, ja überhaupt zwischen verschiedenen Selbst-Erzählungen oder Zuschreibungen und natürlich auch zwischen Mitgliedern einer Familie, ja sogar zwischen Verstorbenen und Lebenden.
Man könnte sagen, jede Schule ist in gewisser Weise Spezialistin in der Auflösung von als hinderlich betrachteten Isolationen und fördert die Verbindung von relevant gewordenen Unterscheidungen. Wie auch immer das geschieht, die Erweiterung von Potenziallandschaften durch gezielte Grenzöffnungen ist immer mit im Spiel und erzählt immer auch von der jeweiligen Kultur und den Prämissen der Zeit.
Der sympoietische Ansatz ist so gesehen spezialisiert auf die Anzettelung der Wiederverbindung von menschlichem Bewusstsein und Handlungsvermögen mit der irdischen Welt, dem Raum, den Natur-Kultur-Welten sowie den atmosphärischen Zwischenräumen, die zwischen all dem liegen.
Auch er ist aus der Stunde des kulturellen Moments geboren und geht Hand in Hand mit dem, was heute vielen nötig erscheint.
Zeichen der Zeit
Ich erlaube mir eine kleine, spontane Schau in die aktuellen Berichterstattungen.
22.09.2020, Schweizer Rundfunk (SRF)
Klimaaktivisten räumen Bundesplatz nur teilweise
Spontan und überraschend hat eine Gruppe von Klima-AktivistInnen den Bundesplatz in Bern besetzt und vom Parlament eine ernsthafte Bezugnahme auf Klimafragen gefordert. Das kollidiert nicht nur mit den Bestimmungen rund um Kundgebungen während der Parlamentssitzungen, sondern auch mit dem dienstäglichen Markttreiben.
In den Kommentaren empfehlen viele Menschen, diesen jungen Leuten erst einmal Demokratie beizubringen.
22.09.2020, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
Chinesischer Botschafter warnt vor erhobenem Zeigefinger
Der Botschafter beklagt Doppelmoral in Deutschland und vergleicht das umstrittene Hongkonger Sicherheitsgesetz mit dem deutschen Strafgesetzbuch. Jedes Land solle sich um seine eigenen Probleme kümmern, so Wu Ken.
Auf der geopolitischen Bühne sind Fragen rund um Führung und Organisation von nationalen und internationalen Tribünen an der Tagesordnung. Mehr oder weniger gelenkte, mehr oder weniger direkte Demokratieformen, Autokratien, Militärdiktaturen, Monarchien – alles findet sich im Spiel der Kräfte. Im vorpolitischen Raum wird Widerstand, Revolution oder auch Soziokratie geübt, Demokratie diskutiert und nach Formen der politischen Teilhabe gesucht.
22.09.2020, Der Standard, Österreichische Tageszeitung
Klimaschädliche Reisen: Verletzt der Staat die Schutzpflicht gegenüber Bürgern? Diese heikle Frage beschäftigt derzeit das Höchstgericht. Der Mindestflugticketpreis lässt auf sich warten.
Während sich also das österreichische Höchstgericht mit dieser Schutzpflichtfrage auseinandersetzen muss, die ja unmittelbar mit ökonomischen Fragen verbunden ist, baut die Lufthansa-Gruppe mehr als 22.000 Arbeitsstellen ab und mottet 150 große Flugzeuge ein.
21.09.2020, Berliner Zeitung
Wildschweinjagd im Wohngebiet: Jäger wehren sich gegen Kritik
In Teltow hatte die Jagd vergangene Woche für große Aufregung gesorgt.
In diesem Beitrag erläutern die beiden Jäger den Hergang eines Abschusses von Wildschweinen, der durch einen Schnappschuss der erlegten Tiere, welche sie offenbar kurz am Bürgersteig zwischenlagern mussten, empört durch die sozialen Medien ging. Im Kern geht es um die Frage, die alles Zusammenleben immer wieder stellt: Wer darf wo sein, wie und wie lange, und was oder wer wird oder hat dadurch mehr oder weniger?
Soweit zur spontanen Auswahl aktueller Berichterstattungen, in der die dominanten Themen vom Herbst 2020 bewusst ausgelassen sind: Corona-Maßnahmen, Trump, Flüchtlingskrise und Finanzmärkte, Belarus und internationales Säbelrasseln. Nach diesem Gemisch von unterdurchschnittlich brisanten Nachrichten können wir uns die Fragen stellen: Was sind die Zeichen der Zeit? Wovon erzählen uns diese Berichte? Womit sind heutzutage viele Menschen, Länder und ihre Kommunikationskanäle beschäftigt? Was fragen sich Menschen heute, sofern ihnen das Fragen überhaupt gestattet ist?
Es lassen sich zwei große Felder ausmachen:
Seit einiger Zeit beschäftigt viele Menschen, ob wir in der großen und wachsenden Menschenzahl, die wir sind, mit den global geltenden ökonomischen Paradigmen, die auf Extraktion nicht-menschlicher und Ausbeutung menschlicher Ressourcen angewiesen sind, für unsere irdische Nische und somit auch für unsere Spezies verträglich sind. Viele Menschen gelangen zum Schluss, dass das nicht der Fall ist, sondern dass wir unsere ökologische Zugehörigkeit aufs Spiel setzen, sofern wir nicht andere soziale und ökonomische Lebensmodelle entwickeln.
Ebenso sind viele Menschen dringlich besorgt um das, was wir gemeinhin unter demokratischen Strukturen und Werten verstehen. Diese Sorge richtet sich sowohl nach innen in die jeweiligen Nationen, aber auch auf das internationale Zusammenspiel. Fake News, gesteuerte Information, künstliche Intelligenz, Manipulation, Verschwörungstheorien u.v.m. nähren ein Klima des zwischenmenschlichen Misstrauens, das offene und nötige Dialoge erschwert.
Viele Menschen fragen sich also, auf welche Weise konstruktive Mitgestaltung ihrer Lebenswelt heute stattfinden kann.
Wenn diese Annahmen manche der entzündeten Nerven unserer Zeit treffen, dann hat Arbeit an Gesundheit mehr mit Lernen zu tun als mit Behandlung im klassischen Sinn. Es ruft nach Wegen der Verlebendigung, der Verständigung und Verantwortung.
Eine Rückverbindung zur lebendigen Welt, eine Entdeckung vertrauensvoller Dialoge mit sich und anderen, und freudvollen Mut, dort zu handeln, wo man sich aufhält. Das hat nichts mit Erlösung zu tun, auch nicht mit finaler Heilung, aber mit Beiträgen dazu, in erschütterten Welten und inmitten gewaltvoller Widersprüche nach Formen zu suchen, die gutes oder auch nur besseres Leben ermöglichen.22
Fachliche Netze
Rückblicke
Genau genommen gehören all diese Gedanken ja schon zum älteren Eisen. Sie werden seit einigen Jahrzehnten aus verschiedenen Strömungen der Ökologie-Bewegung thematisiert und fanden auch ihren Widerhall im psychologischen Feld.
Zwar war ich bereits in den 1990er-Jahren mit Menschen mit sozial-pädagogischen oder therapeutischen Zielsetzungen auf Meeren, in Wäldern, an Flüssen und Bergen unterwegs, dennoch sollte ich die Stimmen und Bücher der Ökopsychologie oder auch der Tiefenökologie erst vor Kurzem auf interessante Weise entdecken. Es war eine kleine Internetrecherche zu den Stichworten »Natur« und »Systemische Therapie«, die mich direkt zu einem Beitrag von Eva Madelung führte. Ich staunte nicht schlecht, jene bemerkenswerte ältere Kollegin, deren Vorträge und Arbeitsweisen ich auch aus dem Aufstellungskontext kannte und schätzte, in einem Beitrag von 1996 (!) über Systemisches Denken und Ökopsychologie zu finden.23 Sie leitet den Beitrag über ein Gedicht ein. Es heißt Bäume:
bäume
die winden sich
überregnet von unsichtbar
verpechte poren
verstopfte haut
frühzeitiges blattgelb
oder nadelrot
käferkahl
büschelweis dürr
flechtenerstickt
bäume
die biegen sich
splittern
in einem sturm
der wütet
von uns her
(EVA MADELUNG)
Der wütet von uns her … und sie erzählt von persönlicher Betroffenheit über die Veränderung in einem Stück Wald, dem sie nahe wohnt. Von dort aus macht sie eine kleine Reise durch die Psychotherapie-Geschichte, unterscheidet zwischen individuell-biografischen Sichtweisen analytischer und humanistischer Schulen und den systemisch-ökologischen Sichten. Sie zitiert Bateson und Systemische Kurztherapien bis hin zur System-Aufstellung und schließt diesen Abschnitt mit:
»Systemische Methoden sind nicht nur therapeutisch wirksam. Sie vermitteln darüber hinaus einen Erfahrungshintergrund, der in die Praxis des Alltags hineinwirkt. Allerdings bleibt auch in ihnen die oben angesprochene Wechselwirkung mit der außermenschlichen Natur weitgehend unbeachtet.«
Dann wendet sie sich dem Konzept der Ökopsychologie und dem gleichnamigen Buch (Roszak 1994) von Theodore Roszak zu. Sie thematisiert dessen Idee eines ökologischen Unbewussten und der ökologischen Interdependenz, die es in diesem Ansatz heilvoll zu reaktivieren gilt, und weist abschließend auf Workshops zu Systemischem Denken und Naturerfahrung hin. All das vor einem Vierteljahrhundert in Bayern! Und ich wusste nichts davon, schade! Immerhin habe ich den Beitrag im langlebigen Archiv des Internets gefunden und damit auch eine Brücke zur Ökopsychologie.
Während in englischen und selbst in spanischen und portugiesischen Sprachräumen Eco-Psychology durchaus zu einer Marke wurde und von dort auch bis zum heutigen Tag wertvolle Öko-Inspirationen zu uns fließen, konnte sich der Begriff im deutschsprachigen Umfeld kaum etablieren. Eher bekannt ist hier Tiefenökologie (deep ecology), die sich als spirituelle Öko-Philosophie allerdings auch nicht nur einen guten Namen gemacht hat. Mittlerweile habe ich mich mit dem ökopsychologischen Ansatz etwas genauer befasst. Auch wenn er im Grundgedanken der erweiterten Schau auf Menschen und Welt unseren sympoietischen Zugängen ähnlich ist, so sind die Atmosphäre, der Blick, die Erklärungen, die Richtungen und die Methoden doch gänzlich verschieden.
Roszaks Perspektiven stützen sich auf tiefenpsychologische Überzeugungen, wollen das Ich, das im Zentrum und einem kranken Planeten gegenübersteht, über die Erweckung des universell in allen angelegten »ökologischen Unbewussten« zu dessen Heilung befähigen. Sie sind von einem erlösenden Gottesbild oder zumindest von spirituellen Erlösungskonzepten getragen. Die Schuld und die Verschuldung (hier nun an der Umwelt) sind wesentliche Triebkräfte des Zugangs. Das sind bis zum heutigen Tag Grundthemen bei vielen Menschen, die sich für Umweltfragen einsetzen. In dieser Frage unterscheidet sich der ökopsychologische Zugang maßgeblich von dem Ansatz, den ich hier zu beschreiben suche. Schuld und Erlösungsbilder gehören nicht zu unseren Grundannahmen, wir orientieren uns eher an Versöhnung und dem Versuch, bessere (Beziehungs)Verhältnisse zu schaffen.
Doch es gibt auch gemeinsame Denkrichtungen, so zum Beispiel die Wertschätzung für Jäger-und-Sammler- sowie frühagrarische Kulturen, die explizite Kritik an patriarchalen Herrschaftsstrukturen und die Anerkennung von ökofeministischen Stimmen. All das spielt unserem Ansatz zu, auch wenn Roszaks Sprache, das ist wohl auch der Zeit und seinen Denkschulen geschuldet, oft selbst in einen der inhaltlichen Absicht widersprechenden imperial-paternalen Duktus verfällt. (Vor dem ist ja wohl niemand ganz gefeit, auch ich nicht.)
So bin ich Theodore Roszak für sein Werk und Engagement für das, was man Gegenkultur nannte, dankbar. Ebenso all jenen, die bis heute in diesem Bereich für Bildung und Gesundheit aktiv sind und Zugänge zu einer lebendigen Erde ins Zentrum ihres Wirkens stellen.24
Wenige Jahre nach dem Erscheinen von The Voice of the Earth, wie Roszaks Werk im Originaltitel heißt, brachte David Abram, ein damals junger Anthropologe und Philosoph, ein Buch auf den Markt, das die Ökologie-Bewegungen um eine Schlüsselerkenntnis und eine Reflexionstiefe erweitern sollte. Er verband in seinem The Spell of the Sensuous die Reziprozität im menschlichen Wahrnehmungsgeschehen mit der mehr-als-menschlichen Welt, der Landschaft. Seine Gedankenreise beginnt bei persönlichen außergewöhnlichen Geschichten, die ihm während seiner Asienzeit als Taschentrickkünstler geschahen, anschließend nimmt er uns mit auf einen philosophischen Parcours, der den Unterschied zwischen oral-indigenem Weltenempfinden und schriftkulturell geprägtem Denken deutlich machen will. Darin bringt er uns die Phänomenologie Husserls und vor allem auch Merleau-Pontys Entdeckung der Wechselseitigkeit alles Sinnlichen nahe. Schließlich führt er durch die Prozesse der Entortung, die unsere Sprache besonders mit der Verschriftlichung erfahren hat, und letztlich zurück in den Raum von Erinnerung und Poesie, der wieder anschließt an indigenes Weltenempfinden.
Erst 2012, 14 Jahre nach dem ersten Erscheinen, wurde Abrams Buch unter dem Titel Im Bann der sinnlichen Natur ins Deutsche übersetzt und gehört bis heute zur wesentlichen Inspiration für viele Menschen, die unter dem Geist der Wechselseitigkeit in und mit der Natur arbeiten oder das Feld der Öko-Philosophie bestellen. Abram hat eine Sprachtüre zur reziproken Begegnung von Mensch und Naturraum aufgetan, die uns auch hier noch mancherorts begleiten wird.
Öko-Gewebe heute
Mittlerweile scheinen die »Stimmen der Erde« oder andere ökologische Überlegungen vermehrt in das professionelle Feld von Psychotherapie und Beratung einzufließen. Dazu gehören das Erscheinen von zwei rund tausendseitigen Kompendien, die sich mit der Natur-Beziehung von und in Psychotherapien beschäftigen25, ebenso wie die öffentliche Aufmerksamkeit, die seit einiger Zeit dem »Waldbaden«, diversen Achtsamkeitstrainings in der Natur, der Green Meditation und anderen Naturtherapien zukommt. Seit der ersten Auflage der Systemischen Naturtherapie (Kreszmeier 2012) hat sich das damals noch kaum vorhandene kollegiale Feld um ein Vielfaches erweitert. Diversität ist, wie in allen lebendigen Systemen, auch hier ein gutes Zeichen.