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Wer weiß, wohin das noch führt? Ja, wer weiß, wohin Psychotherapeut:innen von ihren Klient:innen geführt werden?
Von allen edlen Überlegungen abgesehen, sind es vor allem die Anliegen und Fragen der Menschen, die in die Praxen und Kliniken getragen werden. Welche guten Fragen können den zahlreichen und mehr werdenden Menschen gestellt werden, die aus ihrem persönlichen Empfinden heraus nicht mehr primär an Geschehnissen in ihrer Kindheit kranken, sondern an einer Form des massiven Leidens mit der Welt, das sich sowohl auf die Ausbeutung von menschlichen als auch von nicht-menschlichen Ressourcen bezieht? Was brauchen Menschen, die in keine Flugzeuge mehr steigen, zu Hause Tomaten pflanzen, sich vegan ernähren und oft keine Ahnung haben, wie und wo den Fuß auf die Erde zu setzen, ohne nicht in das Gefühl von Verschuldung zu geraten? Was be-sprechen wir mit jenen, die den traditionellen Familienbegriff bestenfalls verklären, ihn aber bestimmt nicht mehr ausfüllen wollen und schon lange mit kooperativen Lebensformen experimentieren? Und wie arbeiten wir mit den vielen, die mit Anfang Zwanzig schon die ersten Burn-out-Krisen durchmachen, weil ihre Wachheit und Wahrnehmung und ihr Engagement zu einem erhitzten Mix werden?
Werden sie mit einer Beratung, die sie entlang von reglementierten Straßen führt, gesehen und ihr Fragen beantwortet sein? Wird hier die moderne, von bürokratischen und fachlichen Regelungen zunehmend gelenkte Psychotherapie anschlussfähig bleiben?
Es ist zu vermuten, dass jenes Netz ökologisch orientierter Ansätze, das von vielen Himmelsrichtungen unseres Globus inspirierte Hybridformen ausbildet, gemeinsam mit den gegenwärtigen Notlagen der menschlichen sowie der anders-als-menschlichen Welt weiterwachsen wird. Hier auch nur einen annähernd vollständigen Überblick der Akteur:innen und Aktanten geben zu wollen, wäre vermessen. Dennoch kann es das Verständnis für die Vielfalt schärfen, wenn wir entlang von unterscheidenden Merkmalen zumindest einen Teil der aktuellen Bewegungen wahrnehmen. Mir kommen dabei verschiedene Perspektiven entgegen:
Die transzendenten und immanenten, die psychologischen und die politischen, die progressiven und die zirkulären Perspektiven. Diese klassisch dualen Muster erlauben denn auch verschiedenste Mischungen. Zunächst aber noch einmal jede für sich betrachtet:
Transzendente Perspektiven
Die Erde und das Leben werden in diesen Perspektiven als globales oder kosmisches Ganzes gesehen. Sie sind einer himmlischen Außenperspektive oder einer transzendenten Urkraft verbunden, einer Essenz oder Quelle oder auch verschiedenen Gottesbildern. Die Anbindung an diese Quelle erfolgt meist über Distanznahme, Stille, Kontemplation und Konzentration und will das Bewusstsein für das Ganze erweitern, neue Erkenntnisse emergieren. Die meisten ökologischen Bewegungen, die sich der reflektierenden Anschauung und Achtsamkeitswegen verbunden fühlen, folgen dieser Perspektive: buddhistische und hinduistische Wege, christliche Mystik gehören hier erwähnt.
Immanente Perspektiven
Diese Ansätze gehen von konkreten Orten und Situationen aus, sie handeln der Erde nahe und schauen zur Erde hin. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit auf die vielen Geschöpfe, auf die konkret hier miteinander Lebenden, und so bildet sich auch das Begreifen und Erkennen aus. Das Anerkennen von Vielheit und Pluralität steht gemeinsam mit wahrnehmendem Miteinander-Handeln im Zentrum. Sie folgen einer Ontologie immanenter, sinnlicher Erfahrung und der Annahme, dass wir Menschen Erdverbundene inmitten von Erdverbundenen sind. Viele indigene Traditionen bzw. deren Intellektuelle, einige Anthropolog:innen, Soziolog:innen, Philosoph:innen beschreiben und bemühen sich um diese Weltenschau.26
Psychologische Perspektiven
Hier geht es meist um den Blick auf den einzelnen Menschen, der in der Beziehung zur himmlischen oder irdischen Welt gestärkt und neu aufgerichtet werden will. In diesen Perspektiven können wir Wege heroischer und post-heroischer Individuation unterscheiden: also solche, die von einer besonderen Berufung und Aufgabe Einzelner (Held:innen) ausgehen und ihn oder sie auf ihrem Weg begleiten. Und andere, welche die individuellen Lebenswege im egalitären Verbund sehen und deren Kollaboration und Kooperation betonen.
Visionssuche, Archetypische und Integrative Natur-Psychologie, Systemische Naturtherapie, Waldbaden gehören in dieses Feld. Mehrheitlich noch heroisch orientiert, aber tendenziell in postheroischer Transition.
Politische Perspektiven
Hier geht es um das Empowerment zur Mitgestaltung von irdischen oder himmlischen Lebensbedingungen. Um die Nutzung von vorhandenen Strukturen und Institutionen oder die Erschaffung von Neuem. Es geht häufig um Information, Schulung und Aktion, Bildung von Netzwerken, Gemeinschaften, Bewegungen.
Ökodorf-Aktive, Fridays for Future, Integrale Politik, die Neuen Grünen könnten hier genannt sein.
Progressive Perspektiven
Hier wird von einer Bewusstseinsentfaltung in einer an Komplexität, Weisheit und Möglichkeiten ansteigenden Ökologie ausgegangen, die sich linear oder zyklisch in Spiralbewegung entwickelt. Der Mensch wird darin meist als besonderer Treiber gesehen, dem die Aufgabe zukommt, den Prozess nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten. Die Stakeholder-Kapitalismus-Perspektiven im WEF, Transhumanistische Strömungen, Künstliche Intelligenz und Emigrationspläne auf Mars und Mond gehören zu den aktuell wesentlichen Ausprägungen dieser Richtung.
Zirkuläre Perspektiven
Hier wird der Idee des unendlichen Wachstums und Fortschritts eine Absage erteilt und auf die zyklischen, zirkulären Formen natürlicher Prozesse verwiesen. Aus dieser Perspektive treiben die Menschen – sofern sie sich weiterhin progressiv verhalten – auf einen Abgrund zu, weil sie atmosphärisches Gleichgewicht durch massive Extraktion von Ressourcen verstören und so ihre Lebensgrundlagen zerstören. Das könnte man die zirkulär-pessimistische Position nennen. Daneben gibt es auch solche, die daran glauben, dass es möglich ist, zu zirkulären, also humusbildenden und die Atmosphäre nährenden Lebensformen zurückzukehren. Ich nenne sie die zirkulär-zuversichtlichen. Agrar-ökologische Strömungen, Regionalisierungen, Gemeinwohlökonomische Konzepte gehören in dieses Feld.
Die Verortung des sympoietischen Ansatzes erschließt sich aus den folgenden Merkmalen: irdisch, post-heroisch psychologisch, zirkulär-zuversichtlich.

13 Ich kenne eine Reihe von Kolleg:innen in der Schweiz und in Österreich, die seit Jahrzehnten in Praxis und Lehre tätig sind und in den letzten acht Jahren von einem juristisch-bürokratischen Marathon zum nächsten hecheln: von Zertifizierungsverfahren über Datenschutzverordnungen zu Covid-19-Schutzkonzepten und wer weiß, was noch kommen mag. Wie gut, sind sie mittlerweile mit ihren Jurist:innen befreundet!
14 Hierzu passt auch die Geschichte eines Polizeikommandanten, der hier an der Rheintaler Grenze vielen Juden durch einen »falschen« Stempel zur Einreise in die Schweiz verholfen hat. Die Lebensgeschichte von Paul Grüninger wurde in mehreren Filmprojekten dokumentiert, eine davon trägt den Titel: Grenzenlose Flussfreiheit – Tiefgang am Alten Rhein, 2012, eine Produktion des ORF. Hier verweben sich Name, Handlung und Landschaft.
15 In diesen Gedanken bin ich von Bruno Latours Essay Wir sind nie modern gewesen (2019b) gestützt.
16 In ihrem Beitrag »Stereotype und Perturbationen«, erschienen in den Systemischen Notizen 2/2018, denken die Kollegen Martin Luger und Stefan Graf auf inspirierende Weise über das »Projekt der Moderne« und die mögliche Aufgabe eine systemisch-ökologischen Psychotherapie nach: »Psychotherapie kann insofern als Teilprojekt der Moderne gesehen werden, weil darin Friktionen und Problemstellungen von gesellschaftlichen Zusammenhängen entkoppelt und auf Individuen ›projiziert‹ werden können« (Luger u. Graf 2018, S. 14 ff.).
17 Als ehemaliger Priester, dann Psychoanalytiker, hat Bert Hellinger über seine Form der Familienaufstellung, besonders das Prinzip Zugehörigkeit und das Denken in transgenerationalen Verstrickungen ins Feld gebracht. Sein autoritärer, mystifizierender Zugang hat ihn aus dem Raum systemischer Psychotherapie distanziert. Eine unaufgeregte Darstellung rund um Hellingers Wirken findet sich in Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bert_Hellinger [29.06.2021].
18 Gunthard Weber, der unter dem Titel Zweierlei Glück (2001) dieses Seminar ausführlich dokumentierte, hat damals Bert Hellinger zu einem veritablen Durchbruch verholfen und dem systemischen kollegialen Netz zu einem ebensolchen Konflikt.
19 Die Idee der Existenz eines intuitiven Gesamtwissens oder auch eines weisen Unbewussten, das kooperativ mitwirkt, spielt auch im hypnosystemischen Ansatz eine wichtige Rolle. Vergleiche Das Orchester der Sinne nutzen für erfolgreiche »Lösungssinfonien« – Hypnosystemische multisensorische Strategien für kraftvolle ganzheitliche Lösungen von Gunther Schmidt in Bohne et al. 2019.
20 Dieses Bild des Kurators des eigenen Selbst habe ich bei Andreas Reckwitz’ Analyse der Spätmoderne entdeckt.
21 Anfang Januar 2021, zur Zeit des Entstehens dieses Buches, wurde die Welt Zeuge unglaublicher Bilder: Gehörnte, pelzbehangene Menschen stürmten das Kapitol in der US-amerikanischen Hauptstadt Washington D. C. Aufgeblähte Ermächtigung, genährt von Enttäuschung, Wut und Wahnkonstruktionen, die ihresgleichen suchen. Zugleich eskalierte in vielen Lockdown-Wohnungen häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch und Suchtmittelmissbrauch.
22 Bei Konrad Peter Grossmann (2000, S. 162) habe ich dazu folgende schöne Formulierung gefunden: »… dass sich jenseits von Unheilbarkeit dennoch leben und lieben lässt«.
23 Verfügbar unter https://www.zist.de/de/veroeffentlichung/systemisches-denken-und-oekopsychologie [08.09.2020]. Eva Madelung ist Lehrtherapeutin in systemischer Aufstellungsarbeit, Autorin und Stifterin, bekannt auch durch die gemeinsam mit Barbara Inneken entwickelte Technik des Neuro-Imaginativen Gestaltens.
24 Besonders beachtenswert ist hier Joana Macy, die noch bis hohe Alter für ihre Arbeit der Wiederverbindung (The work that reconnects) aktiv ist und ihre buddhistische Schulung mit systemischer Theorie zu einem tiefenökologischen Umwelt-Engagement vereint. Als langjährig aktiven und auch publizierenden Netzwerker in Deutschland will ich hier gerne Geseko von Lüpke anführen. Er hat über die Visionssuche, das Lernen bei indigenen Traditionen und tiefenökologischen Pionieren ein tiefes Verständnis für diesen Zugang entwickelt und setzt sich als Journalist und Seminarleiter für einen ökologischen Bewusstseinswandel ein.
25 Es handelt sich um die beiden Titel Pfeifer 2019 und Petzold et. al. 2019. Wer sich für einen Einblick in diese Monumentalwerke interessiert, dem seien die Rezensionen von Dr. Bettina Grote empfohlen: Die Neuen Naturtherapien (Grote 2020) und Natur in Künstlerischer Therapie und Psychotherapie. Theoretische, methodische und praktische Grundlagen (Grote 2019).
26 In diesem Feld bin ich mit dem südamerikanischen Raum tiefer vertraut, so kann ich hier auf Ailton Krenak (2019) und Davi Kopenava (2010) verweisen. Aus dem Feld der Wissenschaft sind hier Donna Haraway, Bruno Latour, Eduardo Viveiros de Castro zu nennen. Aus meiner Perspektive hat auch das Werk von Hannah Arendt wertvolle Übersetzungsarbeit geleistet.
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