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»Hey McMullen! Ich glaub, wir sollten jetzt irgendwie aus diesem Schlamassel rauskommen. Hast du ’ne Idee?«
McMullen griff in seine Hosentasche und legte dem ungehaltenen Mann hinter der Theke zwei rote Steine in die Hand.
Der Wirt hob einen der Steine hoch und hielt ihn gegen das Licht einer Lampe. »Pigeon’s blood!«, stieß der Wirt mit wässerigen Augen hervor und staunte. Das hörten viele der Umstehenden und bildeten einen Kreis um sie.
McMullen hatte, ohne es zu ahnen, neue Begehrlichkeiten geweckt. Jetzt waren sie eingekesselt von lauter Katoeys, einer schöner als der andere, einer grimmiger als der andere. Sie kamen immer näher und starrten sie an, begierig nach Taubenblut, so nannte man die Rubine aus Mogok. Sie waren von einer unverkennbar tiefroten Farbe, die einen Stich ins Blaue zeigte. Die Katoeys sahen sich bereits im Besitz der wertvollsten Rubine der Welt. Plötzlich waren tausend Hände bei ihnen, streichelten erst, grapschten dann und versuchten schließlich, mit schmeichelnden Griffen den Weg in ihre Hosentaschen zu finden.
Sperber schüttelte sich los, langte dann selbst in seine Tasche und warf eine Handvoll der Pistazien in die linke hintere Ecke des Raumes, die in schummriges Licht getaucht war. Die Pistazien flogen durch die Luft, knallten erst an die Wand, dann auf das harte Holzparkett und machten Geräusche wie hell klackende Kieselsteine. Sperbers Rechnung ging auf, denn sofort stürzten sich die kreischenden Katoeys in ihrer Gier auf den Boden. Sperber packte McMullen und riss ihn zur Tür hinaus. Sie liefen zurück in Richtung des Nachtmarkts, auf dem es vor Menschen nur so wimmelte. Hier fühlten sie sich sicher.
An einer Freilichtbar am Rand des Markts blieben sie stehen, stützten sich keuchend auf ihre Knie und lachten sich die Seele aus dem Leib. »McMullen, du Wahnsinniger!«, schrie Sperber. »Du hast die Mine beklaut! Wie hast du das hingekriegt?«, fragte er mit Entsetzen und Bewunderung zugleich in der Stimme. »Du gottverdammter Hundesohn!«
»Im Hammerstiel!«, lachte McMullen aufgedreht. »Der alte Geologenhammer. Sein Stiel ist hohl und bietet so einigen Steinchen Platz.«
Sperber lachte und bestellte zwei Bloody Mary.
»Aber die Idee mit den Pistazien war auch nicht schlecht. Pistazien als Rubine getarnt!«, schrie McMullen und lachte.
Sperber prostete McMullen mit dem blutroten Glas zu. »Da, McMullen. Sauf aus! Taubenblut! Aber die bezahle ich bar! Bevor wir aufgeknüpft werden«, rief er spöttisch und bestellte noch zwei.
Sperber grinste beim Gedanken an dieses Abenteuer. Lange her, dachte er und massierte seinen Nacken. Er prostete dem Watzmann an der Wand mit einem ehrerbietigen Nicken zu und trank den letzten Schluck Whisky in einem Zug.
Forsythien
Frühjahr 2015
An diesem kühlen Morgen lag der Chiemsee unter zähem Nebel. Nur die höchsten Baumwipfel am Ufer und auf den Inseln lugten heraus. Eine pudrige Stille hatte den See im Griff. Ein Rabe krächzte, kurz nachdem Müller-Westermann in das Boot gestiegen war. Das Wasser plätscherte gegen den Rumpf. Er wollte zur Insel Frauenchiemsee, dem idyllischsten Fleck Deutschlands, wie in einem Hochglanzprospekt behauptet wurde.
Müller-Westermann war Immobilienmakler und hatte eine Unstimmigkeit im Gemeinderat der Gemeinde Chiemsee ausgenutzt. Seit Wochen grinste er sich jeden Morgen ins Gesicht, wenn er in den Spiegel sah. Diese Idioten! Für ihn sollte es das Geschäft seines Lebens werden. Er hatte mehrere Häuser auf der Fraueninsel gekauft und mittlerweile aufwendig restauriert. Viele der Einheimischen waren ziemlich sauer, sahen die Häuser doch jetzt überhaupt nicht mehr so aus wie früher. Dunkles Holz hatte er in Hochglanzweiß streichen lassen, Balkone erneuert und Einfriedungen wie Gärten ebenfalls weiß gestalten lassen.
Damit hatte er den Charakter der Häuser vollkommen verwandelt. Sie sahen aus wie Häuser, die man auf Sylt erwarten würde. Sie strahlten so unbeschreiblich hell, dass ihr Anblick jedem Fremden die Luft nahm. Diese Immobilien waren jetzt unbezahlbar. Er wollte sie so lukrativ vermieten, dass sich seine Investitionen in nur fünf Jahren bezahlt gemacht hätten. Und dazu brauchte er Mieter, bei denen Geld keine Rolle spielte. Einen dieser Leute hatte er gerade an der Angel.
Der Mann betrat erhobenen Hauptes den Steg und schritt auf das Boot zu. Er trug einen orange karierten Sarong um die Hüften und darunter eine schwarze Seidenhose. Seinen Oberkörper bekleidete eine grüne Thai-Bluse aus Bambusfasern, die mit aufwendigen Stickereien, Paspeln und Bordüren besetzt war. Die eleganten schwarzen Lederschuhe waren vorn offen, seine frisch pedikürten Zehennägel dunkel lackiert. Um den Kopf hatte er einen kostbaren Pakama gebunden. Der Mann war stark geschminkt. Seine Augenlider glitzerten lila, und seine Wimpern waren in tiefes Schwarz getaucht. Das gesamte Gesicht war gepudert. Nur seine Wangen flimmerten rot. Die Lippen hatte er anthrazitfarben bemalt.
Auf Müller-Westermann wirkte das alles zu aufdringlich. Der Mann konnte die Augen keine Sekunde lang ruhig halten. Seine Wimpern klimperten unentwegt, und sein Grinsen verursachte eine unangenehme Wallung nach der anderen bei Müller-Westermann. Blöde Tunte, dachte er. Allein schon dieser unglaubliche Name kam ihm völlig verrückt vor: Er hatte ihm einen deutschen Reisepass gezeigt. Demnach hieß er ›Nuh Poo Tubkim-Gongutih (Hausmayr)‹.
Der Mann war Müller-Westermann vom Königlich Thailändischen Honorargeneralkonsulat in München vermittelt worden. Als Makler für außergewöhnliche und erstklassige Immobilien war er schließlich stadtbekannt. Deshalb waren sie heute hier am Chiemsee. Und jetzt wollten sie zur Fraueninsel fahren.
Nuh Poo Tubkim wurde von einem Kraftprotz begleitet, der stets drei Meter hinter ihm ging. Ein riesiger Kerl mit kurz geschorenen Haaren, schwarzem Anzug, schwarzen Schuhen und weißem Hemd mit geschlossenem Kragen. Seine Augen waren ebenfalls geschminkt. Er reichte Müller-Westermann nicht die Hand, grüßte nicht, sondern nickte nur kaum merkbar mit dem Kopf, ließ ihn aber keinen Moment aus den Augen. Trotzdem beherrschte er die Kunst, sich so unauffällig zu verhalten, dass Müller-Westermann ihn nach drei Minuten schon gar nicht mehr wahrnahm.
Nuh Poo Tubkim streckte seinen Arm aus wie eine viktorianische Großmutter. Müller-Westermann nahm seine schlaff herabhängende Hand und half ihm ins Boot. Er war froh, als er die Hand des Mannes wieder loslassen konnte. Dann fuhren sie los und glitten über den stillen See. Bald hatten sie die Anlegestelle der Insel erreicht.
Als Müller-Westermann ihm das Objekt zeigte, staunte Nuh Poo Tubkim wie ein kleiner Junge. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Er stand vor einem makellos weißen Haus auf einer Insel. Im Hintergrund waren Berge zu sehen. Ihm kamen die Tränen. Ein Ort voller Inspiration. Das muss das Glück sein, dachte er. Er schritt den Zaun entlang, immer gefolgt von seinem Leibwächter, der immer noch in angemessenem Abstand hinter ihm her ging, ohne einen unterwürfigen Eindruck zu hinterlassen. Müller-Westermann öffnete das kleine Gartentor, nickte einladend und wies Nuh Poo Tubkim den Weg.
Er schritt durch den Vorgarten und blieb vor den Forsythien stehen. Im Hintergrund blühten Blumen in Blumenkästen unter frisch geputzten Fenstern. Der Rasen war kurz gemäht. Er ging weiter zu der geschnitzten Tür. Müller-Westermann öffnete ihm das Haus. Er trat ein, sah sich zehn Minuten lang um und fragte dann etwas unbeholfen: »Kann ich hier … in der Nachbarschaft noch was dazu haben?«
Müller-Westermann stutzte und zögerte. »Sie meinen, noch ein Haus?«
»Ja, noch ein Haus. Meine Freunde werden hier wohnen.« Er blickte zu seinem Leibwächter und lächelte kurz. Der stand steif da und zeigte keine Regung.
»Nun ja, äh, ich weiß nicht. Frei sind noch die Häuser direkt daneben. Aber die kosten auch viel Miete.«
»Miete? Ich kaufe Häuser«, sagte Nuh Poo voller Überzeugung.
Müller-Westermann lächelte. »Die können Sie nicht bezahlen.« Er schüttelte vorsichtig den Kopf.
»Kann ich doch«, sagte Nuh Poo lächelnd. »Ich will alle drei. Sagen Sie mir den Preis. Ich bin sicher, ich habe sie bereits gekauft.«
Grabrede
Erwin Sentlinger war kein Menschenfreund. Er stand am Fenster und sah hinaus. Wie jeden Morgen. Er kaute an den Fingernägeln. Immer wenn er nervös war, tat er das. Schon als kleines Kind hatte er das gemacht. Genau dann, wenn ihm Prügel bevorstanden. Und das war nicht selten gewesen.
Seine Mutter war durch einen Stromschlag ums Leben gekommen, als er acht Jahre alt war. Die Strafe des Herrn, hatten alle hinter vorgehaltener Hand gesagt. Für ein zu lockeres Leben, hatte man immer wieder geflüstert. Seine ältere Schwester Trude hatte sich ihr halbes Leben lang für die Mutter geschämt, wollte es anders machen. Und sie hatte es anders gemacht. Sie hatte Erwin sehr streng erzogen.
Die Erziehung hatte sich nach dem Vorbild der Großeltern gerichtet. Beide Großväter waren Lehrer gewesen, die sich in den Methoden der schwarzen Pädagogik bestens ausgekannt hatten. So war auch Trude angehalten worden, sich dieser Methoden zu bedienen, um ihren Bruder auf den rechten Weg zu bringen. Noch heute hatte Sentlinger Striemen an seinem ledrig gewordenen Hinterteil, die von dem verhassten Rohrstock rührten. Jede Sünde hatte er auf diese Weise büßen müssen. Jedes Mal mit der Konsequenz, dass er kaum sitzen konnte. Das hatte in der Schule zusätzlich zu Schwierigkeiten mit den Lehrern geführt.
Aber es hatte ihn hart gemacht. Hart fürs Leben. Disziplin und Ordnung waren ihm mit dem Stock eingetrichtert worden. Er hatte viel gelitten und fand es absolut in Ordnung, dass auch andere leiden sollten, um zu lernen. Das hatte sich bewährt, seit Jahrtausenden. So hatte er es sich zurechtgelegt. Denn der Gedanke, dass ihm als Kind Unrecht geschehen sein könnte, wäre unerträglich für ihn.
»Guten Morgen«, sagte seine Sekretärin Liese strahlend. »Na, Chef, worüber sinnieren Sie denn heute?«, fragte sie, als sie ein paar Akten auf seinen Tisch legte und einen Tee brachte. Liese war seit ewigen Zeiten bei ihm. Früher fand er sie umwerfend. In den letzten Jahren aber hatte seine erotische Zuneigung zu ihr abgenommen. Manchmal aber, da flammte sie wieder auf. Als sie sich näherte und er ihren vertrauten Duft wahrnahm, durchzuckte es ihn. Als er ihren Namen seufzte, »Ach, Liese …« Seine Wonne war so groß, dass er einen Kloß im Hals spürte.
Er schlürfte den Tee und sah aus dem Fenster. Seine ganze Liebe hing an seiner Heimat Bayern. Und mittendrin diese verkommene Stadt! In München war die Staatskanzlei so etwas wie eine Fluchtburg für ihn. Der erhabene Blick über den Hofgarten im Schatten der Residenz gab ihm jeden Morgen das Gefühl von Sicherheit und Macht.
»Die Menschen«, sagte er mit Schwermut in der Stimme. »Sie sind mir so fremd. Sehen Sie, Liese, wie sie arglos in unserem Park herumirren, ohne zu wissen, was sie wollen, wohin ihre Reise geht. Taugenichtse und Herumtreiber.«
»Ach, Chef, seien Sie nicht so streng mit den Leuten. Sie tun nichts Verwerfliches. Sie wollen leben, und sie wollen, dass es ihnen gut geht. Und dafür sorgen Sie!«, sagte sie lächelnd. In ihrer Stimme klang viel Trost mit. »Es ist Ihre Aufgabe, Sie machen das schon. Und heute ist ein wunderbarer Tag dazu. Ich weiß doch, dass Sie für Ihr Land alles geben.«
»Ach ja«, sinnierte er mit abwesendem Blick, »die duftenden Wiesen, die sanften Hügel der Voralpen. Die Kirchen mit den Zwiebeltürmen. Die Kühe auf den Weiden. Bayern, das würde ich mir durch nichts und niemand nehmen lassen.«
»Ja, es ist Ihr Bayern«, sagte Liese. Und sie wusste, er hatte es sich einfach genommen. Jedenfalls insgeheim. Mit seinen Gleichgesinnten vom katholischen Herrenorden.
»Wir müssen Bayern erhalten!«, sagte Sentlinger salbungsvoll.
Liese wusste, dass Sentlinger und seine Kumpanen vor allem dafür sorgen wollten, es niemals an diese linken Klugscheißer abgeben zu müssen, wie er einmal gesagt hatte. Als Gutmenschen, Pädagogenheinis, Ökofritzen und Sozialromantiker hatte er sie beschimpft. Widerliche Geschöpfe hatte er sie genannt. Und dann die ganzen Menschen aus aller Welt, die unkontrolliert ins schöne Bayern strömten, hatte er gestöhnt. Aber der Herrgott hatte auch sie erschaffen, so wie ihn und seine Welt, hatte er postuliert. Also müsse er ihre Existenz hinnehmen; aber bekämpfen dürfe er all diese Antichristen, das hatte der Herrgott ihm nicht verboten. Es war sein Bayern, das katholische, oder besser, was er für katholisch hielt.
»Wird schon werden«, sagte Liese und ging hinaus.
In diesem Moment kam Sentlingers Schwester geradewegs ins Büro. Ihr schwarzer Habit verlieh ihr einen würdevollen Stolz. Ohne Liese zu grüßen, schritt sie direkt zu Sentlingers Schreibtisch. Schwester Irmentrud sah besorgt aus. »Bruder, du musst uns helfen.«
Ihr Körper war immer noch schlank. Über ihren dichten Augenbrauen waren ein paar Grübelfalten zu sehen. Ihre vollen Lippen hatte sie ein wenig gespitzt, als sie vor ihm stand. Sie wirkte auf ihren Bruder ohnehin streng und kompromisslos, aber er spürte sofort, dass ihr Stimmungsbarometer heute auf Schlechtwetter stand.
Erwin Sentlinger ging auf sie zu, nahm sie in die Arme und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Trude, meine liebe Trude!« Auch nach all den Jahren wolle er sich immer noch nicht an ihren eigens gewählten Ordensnamen gewöhnen. »Ich bin so froh, dich zu sehen!«, rief er mit vorgespieltem Überschwang. Er betrachtete ihr schön geschnittenes Antlitz, in dem er trotz ihres Alters immer noch keinen Makel erkennen konnte. Rechts und links ihrer tiefbraunen Augen hatten sich zwar ein paar Krähenfüße einen Weg gesucht. Sie konnten jedoch ihrer Anmut nichts anhaben. Erwin Sentlinger erstaunte das immer wieder, wenn er seiner Schwester begegnete. Sie wollte einfach nicht alt werden.
»Der Teufel ist auf die Insel gekommen!«, sagte sie mürrisch und ohne jede Einleitung.
Sentlinger zog die Brauen zusammen. »Der Teufel? Was denn, übertreibst du nicht?« Er hielt sie an den Schultern. »Setz dich doch bitte!« Er bot ihr einen Stuhl an. »Was bedrückt dich, liebe Schwester?«
»Der Satan! Im Körper eines Mannes, der wie eine Frau daherkommt.«
Sentlinger kannte seine Schwester nur zu gut. Sie konnte rasend werden vor Wut, aber auf der anderen Seite war sie lammfromm. Ihr oftmals aufbrausender Gemütszustand hatte sie am Leben scheitern lassen. Obwohl sie immer sehr hübsch gewesen war, hatte es kein Bursche lange mit ihr ausgehalten. Sie konnte unberechenbar böse werden. Ihre Verzweiflung am Leben hatte sie schließlich ins Kloster getrieben. Und dort hatte sie sich ebenfalls lange den Aufstieg durch ihre zügellosen Wutausbrüche verbaut. Denn trotz ihrer Intelligenz hatte ihre mangelnde Selbstkontrolle sie nur zur stellvertretenden Oberin werden lassen. Und das wurmte sie. Doch insgeheim zog sie die Fäden in ihrem Kloster durch ihre stets erfolgreich eingefädelten Intrigen.
»Diese widerliche Schwuchtel!«, schrie sie und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.
»Trude! Du trägst den Habit. Vergiss das nicht!«, ermahnte sie ihr Bruder vorsichtig. »Was ist denn los?«
Sie wand sich auf ihrem Stuhl, und Sentlinger wusste, dass sie jetzt wieder von Schuldgefühlen geplagt wurde. Aber sicher nur kurz, dachte er.
»Er ist aus Thailand. Er hat drei Häuser gekauft. Zwei Tage später ist er wie ein Pfau durch den Ort stolziert, hat alle gegrüßt. Und dabei hatte er zehn«, es zerriss sie fast, »zehn andere von diesen Elenden im Schlepptau.«
»Ja und? Das ist doch freundlich, dass er die Leute begrüßt.«
»Sie haben dabei fremdartige Gebete gemurmelt. Und dann dieses Grinsen. Sie haben alle so unerschütterlich gegrinst!«, sagte sie jammernd. »Und jetzt wohnen die alle da drin«, rief sie klagend hinterher und hob beide Hände.
»Trude, ihr habt doch dauernd Touristen mit wechselnder Kleidung und Aussehen auf der Insel. Was regst du dich denn so auf?«, fragte Sentlinger sanft.
»Wer weiß, was die dort treiben?« Ihr Ton wurde schnippisch.
Sentlinger wandte sich zum Fenster und zischte leise: »Müller-Westermann. Dieser verdammte Idiot!«
»Wer?«, entfuhr es Schwester Irmentrud.
Er griff zu seiner Teekanne und fragte sie: »Auch einen Tee?«
Sie nickte.
»Ein Immobilienmakler aus München. Guter Bekannter. Ich hab ihm ein paar Türen geöffnet. Zuletzt hat er sich damit gebrüstet, dass er drei Häuser auf Frauenchiemsee gekauft hat. Und ich hatte ihm noch die Kontakte geknüpft. Aber seine Option war eigentlich, die Häuser zu vermieten ...« Er nahm die Teetasse in die Hand, rührte darin und trank vorsichtig, während er seine Schwester abwartend ansah.
»Aber dieser ... «, sie räusperte sich, »... warme Guru hat sie gekauft.«
»Wenn er das Geld hat, darf er das ja«, meinte Sentlinger.
»Der muss wieder weg«, schrie sie. Sie wedelte mit dem rechten Arm und rief laut: »Weg, weg, weg!« Dann starrte sie ihn an. »Du musst uns helfen«, zischte sie fordernd.
»Hat er sie denn wirklich gekauft«, fragte er nochmal nach. »Oder ist es nur wieder eins eurer Klostergerüchte?«
»Ja, hat er. Ich war beim Bürgermeister. Und er hat einen bayerischen Familiennamen, wie wir herausgefunden haben.« Sie nahm einen Zettel aus ihrem Habit. »Und was für einen!«, betonte sie.
»Ja, und?«, fragte Sentlinger und wartete gespannt.
»Er nennt sich …«, sie sah von ihrem Zettel auf und sagte langsam und deutlich: »… Nuh Poo Tubkim-Gongutih in Klammern Hausmayr.«
Sentlinger verschluckte sich, hustete los, und spratzte den Tee auf seinen Schreibtisch. Augenblicklich nahm er ein Taschentuch aus seiner Hose und putzte alles wieder weg. Schuldbewusst beobachtete er seine Schwester, die ihn grimmig anstarrte. Wie früher als Kind spürte er die Beklommenheit.
»Merkwürdig, was?«, sagte sie und hob die Schultern. »Hat der was zu tun mit Pater Hausmayr? Bei dem du vor dreißig Jahren die Grabrede gehalten hast? Erinnerst du dich nicht? Pater Hausmayr!«
Sie sah ihm genau zu, wie sich sein Gesicht vor Anspannung verfärbte.
»Spiel nicht den Dummen!«, sagte sie barsch. »Er hieß Pater Bruno. Hat oft sonntags bei uns auf der Fraueninsel die Messe gelesen.«
Sentlinger erkannte, dass es nichts brachte, den Ahnungslosen zu spielen. »Was, der? Oh Gott. Ja natürlich erinnere ich mich.«
»Dein Jugendfreund. Und Schürzenjäger ersten Ranges!«, erwiderte sie.
»Davon hab ich damals nichts mitbekommen.«
»Unfug!«, schrie sie. »Das wusste jeder! Und ich möchte nicht wissen, was ihr beide gemeinsam alles …«
»Trude! Das reicht!«, schimpfte er. »Schließlich hast du damals auch mehr als nur ein Auge auf ihn geworfen.«
Schwester Irmentrud hatte mit dieser Direktheit nicht gerechnet. Wie konnte er es wagen? Sie fühlte sich ertappt, sah beschämt zu Boden und stutzte. »Ja, und irgendwann war er weg nach …«, sie schlug die Hände vor das Gesicht. »... Thailand!«, schrie sie aufgewühlt. »Nach Thailand! Verstehst du? Oh Gott.« Sie streckte die Hände nach oben und warf den Kopf in den Nacken.
»Ja, genau, er ist nach Thailand abgehauen. Das war damals für viele völlig überraschend. Vor allem auch für den katholischen Herrenorden. Pater Bruno war früher schließlich im Vorstand, wenn auch nur Beisitzer. Ich war damals bereits Schatzmeister.«
»Der katholische Herrenorden, diese Ansammlung scheinheiliger Moralapostel!«, schimpfte sie.
»Ich darf doch bitten, Trude. Beherrsche dich!«
»Jeder wusste, wie er gestorben ist. Aber niemand durfte das auch nur denken.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Geschweige denn laut sagen.«
Er stand auf und ging zum Fenster. »Es war die schwierigste Grabrede meiner Karriere.«
»Ich war ja nicht dabei damals«, sagte sie, als müsse sie sich verteidigen. Sie sah erneut zu Boden.
»Damals warst du noch einfache Nonne. Du konntest an der Beerdigung nicht teilnehmen, weil du auf einem Seminar in der Nähe von Graz warst«, sagte er, den Blick nach draußen auf die Parklandschaft gerichtet. »Da hast du doch deine verrückte Freundin kennengelernt.«
»Ach ja, Adelmunda«, ergänzte sie gedankenverloren, »sie war so hilflos damals. Ich bin so froh, dass ich sie zu mir geholt habe.« Liebevoll bewegte sie den Kopf hin und her und richtete ihren verklärten Blick ein paar Sekunden ins Leere. »Aber du willst ablenken«, schob sie hinterher.
»Als du damals zurückgekommen bist aus Graz? Wie hast du eigentlich von Brunos Tod erfahren?«
»Nach meiner Rückkehr auf die Fraueninsel«, sagte sie betrübt, »durfte nicht über seine Beerdigung gesprochen werden. Pater Bruno wurde ganz einfach ignoriert und seine Existenz vergessen. Sein Grab ist in der hintersten Ecke unseres Friedhofs, wie du weißt.« Sie machte eine kurze Pause und atmete tief durch. »Die jungen Nonnen wissen gar nicht mehr, wer dort liegt. Die Inschrift auf dem Kreuz ist fast verblasst.«
»Bei seiner Geschichte, kein Wunder!«
»Wir haben einen Sünder auf unserem Friedhof beerdigt«, seufzte sie.
»Sündiger Bock wäre treffender.«
»Erwin, lass diese gottlosen Bemerkungen!«, befahl sie streng. Sentlinger nahm wieder Platz an seinem Schreibtisch.
Schwester Irmentrud fuhr fort. »Was genau hat er gemacht in Thailand? Du hast ihn doch besser gekannt, diesen … heiligen Schürzenjäger.«
»Besser gekannt? Was habe ich gekannt?«
»Na?«, fragte sie voller Ungeduld. »Was genau er dort wollte. In Thailand.«
»Musst du das wissen?«
Sie nickte grimmig und fordernd.
»Hmm, na gut. Offiziell sollte er wohl missionieren. Er hat das mit der Nächstenliebe aber wohl, sagen wir, sehr frei interpretiert.«
»Schwachkopf!«, schimpfte sie. »Komm zum Punkt!«
»Er hat dort mit einer … einer Liebesdienerin ein Kind gezeugt. Einen Sohn, hieß es.«
»Allmächtiger!«, rief sie. »Und jetzt holt uns der Fluch ein!« Sie bekreuzigte sich. »Der Herrgott schickt uns eine schwere Prüfung. Einen Heiden und Gotteslästerer. Ein Kind der Sünde und des Teufels. Im Gewand einer Frau. Und das auf der Fraueninsel!«
»Passt doch«, entglitt es Sentlinger grinsend.
Schwester Irmentrud starrte ihn fassungslos an. Sie stand auf, nahm das Lineal vom Schreibtisch, ging auf ihn zu, presste die Lippen zusammen und schlug mehrfach mit dem Lineal in ihre Hand.
Sentlinger wurde puterrot und stammelte eine Entschuldigung. Noch immer hatte diese Frau Macht über ihn, und für kurze Zeit war er wieder der kleine Junge. Er sah ihre Augen blitzen und befürchtete, dass er sich wieder vorbeugen und ohne Widerspruch seine Strafe erwarten müsse, die sie sogleich zu vollstrecken drohte. Doch sie blieb, wo sie war.
Mit verkniffenem Gesicht kauerte Sentlinger eingeschüchtert und zusammengesunken in seinem Schreibtischsessel. Schwester Irmentrud setzte sich.
»Trude, so darfst du nicht über einen fremden Menschen reden«, stammelte er. »Er ist trotz allem ein Sohn der Kirche. Immerhin hat er ...«
»Ein Sohn der Kirche?«, schrie sie ihn an. »Ja Kruzifix nochmal! Bist du denn von allen Heiligen verlassen?« Sie spie ihre Worte aus und geißelte Sentlinger mit ihren Blicken. »Dieser Kerl ist ein Bastard des Teufels, er wurde mit einer thailändischen Hure gezeugt!« Sie war außer sich und schlug wieder und wieder so vehement mit dem Lineal auf den Schreibtisch, dass die Teetasse umfiel.
Sentlinger stand auf, seine Haltung aber blieb devot und gebückt. »Trude, was soll ich tun? Ich kann da gar nichts machen. Es ist sicherlich legal, dass dieser Mann die Häuser gekauft hat.«
»Ahh!«, schrie sie laut. »Hör auf, dich wie Nasenschleim zu benehmen. Du bist Staatssekretär! Du musst etwas gegen all das unternehmen können!« Sie schnaubte vor Wut.
»Es würde meine Karriere arg belasten, Trude!«, sagte er kleinlaut. »Ich … ich sitz momentan auf einem Schleudersitz.«
»Was ist los, Erwin?«, geiferte sie. »Hast du wieder Mist gebaut. Mit deinen … gottlosen finnischen Hurensöhnen?« Sie verzog verächtlich das Gesicht.
»Trude«, beschwor er sie. »Ich kann nicht.«
»Und sag nicht immer Trude zu mir!«, keifte sie. »Irmentrud, Irmentrud, Irmentrud! Wann kriegst du das endlich rein in deinen plumpen Schädel?«