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Gression muss niederbrennen
An des Omerbachs Gestade.«
»Sind Sie da nicht ein bisschen streng mit Ihren Nachbarn?«
Dem unwirschen Blick des Alten folgte eine Tirade an Unfreundlichkeiten. »Meine Nachbarn? Dass ich nicht lache. Ha! Eine Saubande ist das! Nichts als Scharlatane! Taugenichtse! Und Frevlerinnen!«
»Aber doch nicht alle, oder?«, fragte Straubinger.
»Was glauben Sie, hä? Ich lebe hier seit 60 Jahren. Die Menschen sind schlecht! Sie betrügen, faseln unnötiges Zeug, belügen sich und wollen nur eines: Geld, Geld, Geld! Das war damals so und das ist heute so. Gression, dem Untergang geweiht!«, rief er aus voller Brust.
»Ein großartiges Gedicht. Und Gression? Gibt es das noch?‹
»Der Herrgott hat es untergehen lassen. Und genauso wird es allen hier ergehen, weil sie wieder dieselben Torheiten begehen!«, sagte er zornig, reckte beide Hände nach vorn, als wollte er etwas packen, und zog sie langsam zu sich hin.
»Giebel stürzen, Häuser fallen,
Bäume werden unterspült;
Von der Woge mächt’gem Prallen
Wird der Boden aufgewühlt.«
Der alte Mann kochte. Er konnte sich kaum beruhigen, atmete hektisch und machte merkwürdige Bewegungen mit den Händen, wand sich und verkrampfte das Gesicht. Dann, von einer Sekunde auf die andere, setzte er eine strenge Miene auf. »Alle bekloppt«, brummte er und wedelte mit der Hand vor seiner Stirn hin und her.
Straubinger sah ihn lange an. »Haben Sie Angst?«
»Angst?« Der Alte sah zu Boden. »Angst, nein, keine Angst. Vor wem? Vor diesem gottlosen Volk?« Heftig schüttelte er den Kopf. »Der Untergang ist nicht mehr weit. Und weißt du was, Bayer?«, sagte er voller Überzeugung. »Du bist Polizei, ich sehe es dir an. Und auch du glaubst es mir nicht. Niemand glaubt es!«
Straubinger ging auf die Hütte zu und startete erneut den Versuch, einen Blick hineinzuwerfen. Der Alte stellte sich sofort vor ihn und blockierte ihm erneut den Zugang.
»Sie wissen, dass Sie im Wald eigentlich nicht wohnen dürfen?«, sagte Straubinger.
Der Alte folgte seinem Blick, ging noch näher an ihn ran, bückte sich und sah ihm mit seltsam verdrehtem Hals von unten in die Augen. »Meint er das ernst, Polizei?«
Straubinger nickte. »Ja, ich meine das ernst.«
Der Alte stolperte scheinbar und trat Straubinger voll auf den Fuß, ausgerechnet auf den Fuß, in dem ihm die Platten und Schrauben eingebaut worden waren.
»Oh«, rief der Alte schwülstig. »Oh, entschuldigen Sie …«
Straubinger war klar, dass dieses kleine Schauspiel von Gemeinheit getrieben war. Er setzte ein gleichgültiges Gesicht auf.
Der Wolkenmaler stutzte und rüttelte an Straubingers Arm. »Hm? Tut ihm der Fuß nicht weh?«
»Nein, tut mir nicht weh.«
Der Alte nahm einen Stock, der neben der Tür zur Hütte stand, und klopfte zweimal auf Straubingers dünnen Turnschuh. »Nicht weh?«
Straubinger schüttelte gelassen den Kopf. »Nein.«
Der Wolkenmaler betrachtete ihn und seinen Fuß mit fragendem Blick. Dann holte er weit aus, ließ den trockenen Haselnussstock niedersausen, sodass es krachte, als hätte er ihn gegen einen Panzer geschlagen. Prüfend starrte er Straubinger ins Gesicht, der immer noch keine Miene verzog.
»Eisenfuß«, murmelte der Alte. Skeptisch musterte er Straubinger von oben bis unten. »Du bist ein Mann mit Charakter.« Während er Straubinger verwirrt betrachtete, fasste er sich ans Kinn. »Komm, Eisenfuß!« Er stellte den Stock zur Seite und führte Straubinger in seine Hütte.
Überall standen große und kleine bemalte und unbemalte Leinwände. Die Bilder zeigten den Himmel, manchmal war er blau mit Schönwetterwolken, manchmal grau mit bedrohlichen Wolkentürmen, dann war der Himmel in frühmorgendliches Grün getaucht oder in vormittägliches Gelbgrün, immer waren Wolken zu sehen, mal weiße, dann gräulich-lilafarbene oder rötlich leuchtende. Einige Bilder zeigten die watteähnlichen Wolken des Kraftwerks vor einem satten Blau. Aber alle Bilder zeigten eben nur Himmel, keinen Horizont.
»Sie sind ein Meister der Wolken«, sagte Straubinger und presste anerkennend die Lippen zusammen. »Ist es immer derselbe Himmel, den Sie malen?«
Der Wolkenmaler nickte. »Immer derselbe. Immer der Himmel über dieser gottverfluchten Scholle«, sagte er leise, richtete den Blick nach oben, machte eine beschwörende Handbewegung und ging leicht in die Hocke. »Dieser Himmel hat alles Böse der Welt gesehen«, flüsterte er.
»Was … Was meinen Sie mit dem Bösen?«, fragte Straubinger gespannt.
»Krieg und Zerstörung. Hunger und Vertreibung. Mord und Totschlag«, zeterte er, während er einen Schritt vor die Tür machte.
»Und warum malen Sie ihn unentwegt, den Himmel? Ist das Böse auf die Dauer nicht lähmend?«
Der Alte hielt den Blick nach oben gerichtet und blinzelte in die Sonne, als suche er die Ewigkeit. »Komm, Eisenfuß, komm!« Dann zog er Straubinger hinterher. »Sieh hin«, sagte er. »Das Böse ist dort, überall. Und ich«, beschwor er und zeigte jetzt nach oben, »ich muss das Gute in meinem Himmel finden.«
Straubinger betrachtete die weißen Wolken und das kühle Blau. Sein Blick wanderte in das bärtige Gesicht des Alten, dessen Augen glühend auf seine Bestätigung warteten. Straubinger nickte. »Wie zeigt sich der Himmel heute?«
»Coelinblau, kalt wie Stahl, hart wie dein Fuß. Heute male ich ein neues Bild. Ich habe seit Tagen auf dieses Wetter gewartet.« Er machte sich an seiner Staffelei zu schaffen.
»Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich einen Namen?«
Verstört starrte er Straubinger an. »Natürlich hab ich einen Namen.«
»Wie darf ich Sie nennen?«, wollte Straubinger wissen.
»Nenn mich so wie alle. Nenn mich Wolkenmaler«, sagte er mit ernster Miene. »Namen sollten ja etwas über einen Menschen erzählen. Ich gebe jedem einen eigenen, eine treffende Bezeichnung. Ich bin Wolkenmaler, du bist Eisenfuß. Das sagt mehr aus als der Taufname, der uns in Unwissenheit als Kind gegeben wurde, ohne uns zu kennen.« Er schob den Haltebügel nach oben und klemmte eine leere Leinwand fest.
Straubinger beschloss, ihn fortan ebenfalls zu duzen. »Gut, du bist der Wolkenmaler.«
Er nickte.
»Ich habe Bilder wie diese heute schon mal gesehen. Im Kupferhof Blumenthal.«
Der Wolkenmaler zeigte keine Regung.
»Bei Gerhild Vandenberg. Kennst du sie?«, fragte Straubinger.
Der Alte sah zu Boden. Plötzlich schnellte er vor wie eine Krähe und keifte ihn an: »Du wirst ihr nichts tun!« Seine Augen schienen zu lodern.
Straubinger wich zurück. »Nein, nein, was sollte ich ihr tun?«
Der Wolkenmaler wühlte in einem Holzkasten mit Farben. Er holte drei Tuben hervor und quetschte je einen dicken Klecks auf eine Holzpalette. Dann nahm er einen breiten, schweren Pinsel, lud ihn mit den drei Farben auf und schlug ihn wild auf die Leinwand. Straubinger sah fasziniert zu, wie er eine Grundierung anlegte, die bereits einen weiten, kühlen Himmel in seinen Augen entstehen ließ.
»Sag mal, Wolkenmaler, was ist unter deinem Himmel?«
»Unter? Unter meinem Himmel?«
»Was ist das, was du nie malst?«
Der Wolkenmaler antwortete nicht.
»Was wäre auf einem Bild zu sehen, wenn du den Horizont malen würdest? Was würde ich dort erkennen?«
»Kann man nicht malen«, schnarrte er, sah ihn verschämt an und trippelte zurück in die Hütte, als müsse er ein Geheimnis beschützen.
»Ich will, dass du es für mich malst«, sagte Straubinger und stützte sich am Türsturz ab. »Ich will wissen, was dein Horizont zeigt.«
Der Wolkenmaler sah stoisch ins Leere. Er verzog keinen Muskel im Gesicht, sagte nichts und atmete schwer.
»Es wäre ein besonderes Bild.« Straubinger ließ nicht locker. »Was würde es zeigen?«
Der Wolkenmaler holte zwei Schnapsgläser und zeigte ihm eine klare Flasche mit einer braunen, leicht trüben Flüssigkeit. »Wolkenels« stand dort schwungvoll in Frakturschrift, ein hellblauer Himmel war auf das Etikett gemalt. Aus der Flasche ließ er je einen Schnaps in die Gläser fließen. »Trink!«
Straubinger nahm das Glas, roch daran und rümpfte die Nase. »Was ist das?« Das bitterstarke Aroma widerte ihn ein wenig an.
»Els. Aus Kräutern, die dir den Magen vergrätzen und ihn doch schützen vor all dem Unheil, das in dieser Luft schwebt.« Der Wolkenmaler hielt das Glas gegen den Himmel. »Das einzig Heilbringende hier in der Gegend!«, rief er. Dann forderte er Straubinger noch mal zum Trinken auf. »Weg damit!« In einem Zug kippte er den Schnaps in seinen Schlund.
Straubinger tat dasselbe. »Puh, ganz schön bitter. Was ist denn da drin?«, fragte er und verzog das Gesicht.
»Artemisia absinthium, Wermutkraut. Der Franzos’ macht seinen Absinth draus, der Italiener den Martini und der brave Eifler seinen Els. Und mein Els enthält außerdem Minze. Bau ich hier hinter der Hütte an. Gut bei Magenbeschwerden! Das macht aus ihm eine Medizin, und Medizin ist eben besonders bitter.«
Straubinger betrachtete den grünlichbraunen Schimmer am Rand des leeren Glases und schüttelte sich. »Wer denkt sich so was aus?«
»Mit Els hat früher manch wackerer Bauer die Verdauung seiner Kuh reguliert. Und was fürs Vieh gut ist, das kann dem Menschen nicht schaden.«
1956 – Montag, 21. Mai
Gressenicher Wald, 9.35 Uhr
– eine Viertelstunde vor dem Moment
Sie führte den Jungen in einem weiten Bogen durch dichten Wald um die Lichtung herum, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite angekommen waren. Der Junge blieb die ganze Zeit hinter ihr. Dann blieb sie stehen. »Guck mal!«, rief sie. »Siehst du?« Sie zeigte auf eine Stelle im Unterholz, wenige Meter vor ihnen.
»Uiui«, staunte der Junge, »zwei Steinpilze.«
»Die kannst du nehmen. Unten direkt am Boden abschneiden und vorsichtig in die Tasche legen. Da stehen bestimmt noch mehr«, sagte sie und wies auf das Wurzelwerk eines großen Baums, ein paar Schritte entfernt.
»Womit denn?«, fragte der Junge.
Sie fasste in ihre Manteltasche, lächelte ihn strahlend an, holte ein großes silberglänzendes Taschenmesser hervor, an dem eine kleine Kette mit einer Medaille baumelte, und hielt es ihm hin.
Der Junge konnte es kaum fassen. »Boaaah! Für mich?«, fragte er leise, als würde er befürchten, dass sie es wieder wegnähme.
Sie nickte. »Ja, für dich, mein Schatz. Du wirst bald acht. Da kannst du mit so was jetzt umgehen.«
Voller Glück nahm er das schwere Messer in die Hand, las die Gravur darauf mit seinem Namen und öffnete es. Er wollte seiner Mutter in die Arme fallen, doch sie hielt ihn zurück. »Vorsicht, mein Junge, es ist scharf!«, sagte sie.
»Das ist ja richtig groß! Woher hast du es?«, fragte er leise, voller Ehrfurcht.
»Es … Es ist …«, ihr Blick lag zwischen Demut und Befürchtung, »es ist von deinem Papa.«
Der Junge sah sie traurig an. »Wo ist er denn?«
»Du weißt doch, dass er nicht da ist.« Sie wollte ihm gerade ausführlicher antworten, da ging sie schnell in die Hocke und hob den Zeigefinger an die gespitzten Lippen. »Psst«, flüsterte sie, »da sind zwei.«
Der Junge klappte das Messer zu, stützte seine Hände auf die Knie und folgte ihrem Blick durchs Unterholz, und tatsächlich: Zwei Männer sprachen miteinander, der jüngere schien dem älteren etwas zu zeigen. Mitten in dem Durcheinander gesprengter Bäume.
»Was machen die da?«, fragte der Junge.
»Ruhig!«, zischte sie und gab ihm einen Klaps auf die Lippen.
Vor Schreck zwinkerte der Junge kurz mit den Augen. Dann beobachtete er, wie der ältere der beiden Männer mit einem merkwürdigen Gerät voranging. Er trug einen schweren Rucksack, hielt eine Stange mit einem dicken Teller am unteren Ende in der rechten Hand und bewegte sie hin und her über den Boden. Ab und zu hob er die Hand und rief etwas, woraufhin der Jüngere hinter ihm ein kleines Fähnchen in den Boden steckte. Dann rief der Ältere: »Ich hab hier was!«
»Mama, was ist das für ein Ding?«, fragte der Junge aufgeregt. »Das sieht aus wie ein … ein Putzschrubber oder so.«
Die Mutter folgte mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger. Sie beobachtete, was der Ältere machte, und hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ist egal. Ist nix für uns, hörst du?«
Der Junge nickte enttäuscht. »Aber …«
»Nix aber!«, befahl die Mutter streng. »Wir machen weiter. Und lauf nicht weg, hörst du? Ich nehme die Pilze dahinten.«
Während seine Mutter Pilze abschnitt, hockte der Junge neugierig hinter einem Busch und schaute den beiden Männern zu. Der Ältere begann damit, das Gestrüpp zu entfernen. Der Jüngere ging etwa die Hälfte des Weges zurück, den sie gegangen waren, sah kurz zum Älteren hinüber, der ihm gerade den Rücken zukehrte und anscheinend sehr beschäftigt war, zog vier Fähnchen heraus und pflanzte sie an einer anderen Stelle wieder ein.
»Nun mach schon«, tuschelte seine Mutter mahnend.
Der Junge schickte sich an, die beiden Pilze zu ernten, so wie seine Mutter es ihm gezeigt hatte. Dann entdeckte er vor sich unter einem kleinen Haufen Reisig ein weiteres Exemplar, viel größer als die beiden anderen. Er schnitt den dritten Pilz vorsichtig ab und hob ihn wie eine Jagdtrophäe jauchzend in die Höhe. »Guck mal, Mama!«, rief er. »Ein Riesending!« Stolz stand er da, mit einem Steinpilz in der gereckten Hand, fast so groß wie zwei seiner Fäuste, das Taschenmesser in der anderen.
»Psst«, mahnte die Mutter erneut, deutete dem Jungen an, sich zu bücken, und hoffte, dass die beiden Männer sie nicht gehört hatten.
Samstag, 13. Juni
Privathaus Adalbert Meurer
»Vandenberg«, sagte Meurer und nickte. »Alteingesessene Messingdynastie.« Er strich sich durch sein struppiges graues Haar. »Die Familie um Heinrich I. Vandenberg ist 1595 aus Aachen hierhergezogen. Und Heinrich I. Vandenberg war nicht der einzige Kupfermeister, der nach Stolberg kam! Die Stadt hatte einiges zu bieten«, erklärte Meurer voller Stolz.
»Messing, Kupfer? Messingdynastie, Kupfermeister, was denn jetzt?« Straubinger war verwirrt.
»Also Kupfermeister ist eigentlich nicht richtig. Stolberg hat ein besonderes Erzvorkommen, das sehr selten ist in dieser Ausprägung. Galmei heißt es.«
»Da bin ich ja beim Vorsitzenden des Geschichts- und Heimatvereins genau richtig«, stellte Straubinger fest. »Und ich bin dankbar, dass Sie mich an einem Samstag empfangen.«
Meurer nickte sichtlich geschmeichelt. »Ja, Galmei ist eines der bevorzugten Forschungsobjekte in unserem Verein. Und dann hatten wir natürlich noch die Bleierze, weshalb sich in Stolberg ein beachtlicher Bleiabbau entwickelt hat, aber das ist alles längst vorbei.«
»Galmei also. Was ist das genau?«, fragte Straubinger.
»Ein Zinkerz. Hier in Stolberg hauptsächlich Zinkcarbonat, im nahen Belgien kommt es überwiegend als Silikat vor. Dort nennen sie das Erz Calamine oder Kelmis, so heißt deshalb auch ein größerer Grenzort in der Nähe von Aachen. In Belgien, genauer in der Stadt Dinant, haben die Messingschläger, die sogenannten Batteurs, bis ins 15. Jahrhundert Messingfeingeschirr hergestellt und nach ganz Europa verkauft, Paris, London, Deutschland. Nach der Zerstörung Dinants durch die Burgunder und Niederländer sind die Batteurs nach Aachen geflohen und haben sich später in Stolberg niedergelassen. Den Galmei hat man gemahlen, mit Holzkohle und Kupfer vermischt, dann auf 1.000 Grad erhitzt, und raus kam Messing, eine Legierung aus Zink und Kupfer.«
»Und das wurde hier in Stolberg hergestellt?«
»Ja, in den Kupferhöfen. Bis vor ungefähr 200 Jahren wusste man allerdings noch nicht, dass im Galmei eigentlich Zink drinsteckt. Messing hielt man daher für eine andere Form von Kupfer und man hat es ›Gelbes Kupfer‹ genannt. Die Messingschmiede hießen folglich Kupfermeister und deren Wohnhäuser und Betriebsstätten nannte man Kupferhöfe. Und davon gibt es in Stolberg, und nur hier, noch ein gutes Dutzend.«
»Und warum sind so viele Kupfermeister nach Stolberg ausgewandert?«
»Drei Gründe. Erstens: Gefäße aus Messing kamen damals in ganz Europa mehr und mehr in Mode. Um Messing in Massenproduktion herzustellen, brauchte man Wasserkraft für die Hammerwerke, mit denen man aus den Messingplatten die Hohlformen herstellen konnte. In Aachen aber gehörte das Wasser den Tuchfabrikanten. Zweitens: Galmei ist sehr schwer. Die Aachener mussten das Erz erst einmal aus Belgien holen. Da bot es sich doch an, die Hammerwerke direkt dort zu errichten, wo das Erz unmittelbar neben fließendem Wasser abgebaut wurde, nämlich in Stolberg.«
»Und der dritte Grund?«, fragte Straubinger.
»Die Religion. Die Aachener Kupfermeisterfamilien waren überwiegend Protestanten. Das urkatholische Aachen hat ihnen im Zuge der Gegenreformation das Leben schwer gemacht. Ihnen wurden die Rohstoffe gesperrt, sie wurden geächtet. Die Stolberger aber haben sie dankbar aufgenommen. Stolberg wurde dadurch reich, Aachen verarmte. Wie dumm kann man sein?«, sagte Meurer kopfschüttelnd und lachte. »Tja, und so kam es, dass wir uns in Stolberg heute rühmen dürfen, das älteste industrielle Familienunternehmen Deutschlands zu beherbergen, die Prym Werke.«
»Spannende Geschichte. Aber was ist mit den Vandenbergs?«
Meurer dachte kurz nach. »Tja, die Vandenbergs. Verlierer zur Zeit des Umbruchs.«
Straubingers Neugier wuchs. »Welchen Umbruch meinen Sie?«
»Irgendwann hat man dann doch festgestellt, dass reines Zink viel leichter ist als Galmei. Also schaffte man reines Zink fortan dorthin, wo das Kupfer gefunden wurde, statt umgekehrt. Dadurch verlor die Messingindustrie in Stolberg an Bedeutung. Die Kupfermeister mussten sich auf andere Geschäftsfelder einstellen. Kurzwaren, Glas, Textilien. Während andere das wunderbar schafften, verloren die Vandenbergs den Anschluss.«
»Und ihr Kupferhof?«
»Ihr Anwesen, der Kupferhof Blumenthal, verfiel in der Folge zunehmend. Ein Teil der Familie lebte nur noch in einem Flügel des Hauses, im Südflügel.« Meurers Gesicht drückte Bedauern aus, hellte sich aber gleich wieder auf. »Aber dann, wie durch ein Wunder, in den 30er-Jahren, da kamen die Vandenbergs wieder zu Geld.«
»Wie das?«
Meurer hob die Schultern. »Die Vandenbergs hatten in Bier investiert. Nazis haben ja nicht nur gebrüllt, gesoffen haben sie auch wie die Löcher. Vandenberg Pils, ein schlimmes Gesöff.«
»Eine turbulente Zeit«, bemerkte Straubinger lakonisch. »Aber Gerhild Vandenberg lebt ja heute noch dort.«
»Ja. Die letzte Vandenberg ist Gerhild Vandenberg.«
»Und Heinrich Vandenberg, ihr Vater?«
Meurer stutzte. »Aha, Sie haben schon ein wenig vorgearbeitet. Da läuft also der Hase lang!« Meurer atmete durch. »Tja, Heinrich III. Vandenberg, er ist damals mit dem Brauen wieder zu großem Wohlstand gekommen. Später starb er bei Waldarbeiten. Im Gressenicher Wald. Tragische Sache, ist wohl auf eine Mine getreten.«
»Wissen Sie Näheres darüber?«
»Unterlagen gibt es angeblich nicht darüber. Wir vom Geschichtsverein haben da sehr gründlich recherchiert. Sogar in den Polizeiakten haben wir nichts gefunden.« Meurer schüttelte den Kopf. »Nein, da existiert nichts mehr.«
»Und Gerhild, was war mit ihr?«
»Gerhild ist in meinem Alter, sie war also damals 16, als das mit ihrem Vater passiert ist.«
»Welches Verhältnis hatte sie zu ihrem Vater? Was war er für ein Typ?«
»So gut kannte ich ihn nicht. Aber ich weiß noch, dass er politisch eher liberal gewesen ist. Belesen, geachtet, und er war kein Nazi, im Gegensatz zu seinem Bruder Olaf. Der hat ja nach Heinrichs Tod nicht nur das Familienerbe, sondern auch Gerhilds Vormundschaft übernommen, der alte Nazi-Kopp.«
»Und sie, war sie nicht aufmüpfig gegen ihn, einen Nazi?«
Er lachte. »Nein, Gerhild war zu schüchtern, ein bisschen ängstlich und sehr verletzlich. Hat sich immer nur für Kunst interessiert. Sie war leise, wurde in der Schule nicht gut behandelt von ihren Gleichaltrigen. Als ›Kopperdöppe‹ wurde sie verspottet, also Kupfertöpfchen. Nicht etwa, weil sie aus einer Kupfermeisterfamilie stammte, nein. Sie hatte kupferrote krause Haare.« Meurer verfiel in einen Flüsterton. Hinter vorgehaltener Hand ergänzte er: »Sie war unehelich.«
»Ihr alten Leut.« Straubinger grinste und schüttelte den Kopf. »Ihr kriegt die verschrobenen Moralvorstellungen irgendwie nicht aus dem Kopf, wie? Ist doch kein Verbrechen, unehelich zu sein.«
»Nein, im Gegenteil, also heut ist das doch alles egal. Aber damals war das ganz anders.« Meurer winkte verunsichert ab. »Ich mein ja nur!«
»Was meinen Sie ja nur?« Straubingers Stimme wurde ein wenig ärgerlich.
»Also in den 50ern«, Meurer hob den Zeigefinger und schwang ihn bedrohlich hin und her, »da war das … Es war eben so … eine Schande, unehelich zu sein, das kann ich Ihnen sagen.«
»Schon klar, das arme Mädchen wird es jeden Tag gespürt haben.«
»Ja, äh, und die roten Haare, das lag in der Familie mütterlicherseits. Rote Haare, das war damals kein Zuckerschlecken. Ihrer Cousine Gisela«, Meurer hielt kurz inne und sah nach oben, »Robrecht mit Familiennamen hieß sie, glaube ich, ihr ist es damals ähnlich ergangen. Die beiden waren die besten Freundinnen.«
»Lebt sie noch, ihre Cousine?«
»Ja, sie lebt heute, soweit ich weiß, in Gressenich.«
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