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Das Leben, der Wahn, die Wörter: Diese Frauen machten sich zu ihren hellsichtigen und leidenschaftlichen Erkunderinnen, indem sie ihre Existenz ebenso wie ihr Denken einbrachten und die Hauptfragen unserer Zeit aufgrund ihres besonderen Blickwinkels für uns erhellten. Wir werden sie zu lesen versuchen, ohne bei den wenigen, inzwischen von der öffentlichen Meinung sofort mit ihren Namen verbundenen, berühmten Themen stehenzubleiben. Hannah Arendt ist nicht zu beschränken auf die »Banalität des Bösen« und den »Eichmann-Prozeß« oder auf die Identifizierung von Nazismus und Stalinismus. Melanie Klein bleibt nicht bei der »frühreifen paranoischen Projektion« und »dem Neid und der Dankbarkeit« stehen, die vom »Teilobjekt« mütterliche Brust bestimmt werden, oder bei der »multiplen Kluft«, die endogene Psychosen hervorbringt. Ebensowenig wie die Provokation der Garçonne, die Skandale veranstaltet, um besser in der Akademie Goncourt zu herrschen, die Magie Colettes erschöpft. Das sind nur einige der Bäume, die oft sehr viel reizvollere, aber auch gefährlich komplexere Wälder unsichtbar machen.
Natürlich sind die Klischees der öffentlichen Meinung bereits durch den Fleiß der Kenner berichtigt, denn unsere drei Protagonistinnen, die zu ihren Lebzeiten so oft verkannt, wenn nicht verfolgt wurden, besitzen inzwischen ihre Exegeten und ihre begeisterten Anhänger. Wir werden nicht die Arbeiten der vielen Spezialisten im Detail verfolgen können, die bereits seit einiger Zeit mit peinlicher Genauigkeit die zahlreichen Kontroversen nachzeichnen und die unvermeidlichen Sinnwidrigkeiten erhellen, die die Wege dieser drei Frauen übersäen.
Wir wollen lediglich versuchen, sie mit Genauigkeit und Treue zu lesen, um die Besonderheit einer jeden wiederherzustellen, wobei wir sie zueinander in Beziehung setzen werden. Nicht um das Unvergleichliche zu vergleichen, sondern um die Resonanzen zwischen diesen drei Musiken, die Komplexität der Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts und den wesentlichen Anteil der Frauen an diesen sensiblen Orten – das Leben, der Wahn, die Wörter – nachzuzeichnen.
Diese atypischen Genies, diese unvergeßlichen Erneuerungen, sind sie der im übrigen so verschiedenen Weiblichkeit dieser drei Personen geschuldet? Die Frage ist legitim, und der Titel dieses Werkes legt es nahe. Ich möchte zu Beginn nicht darauf antworten. Ich habe diese Untersuchung mit der Hypothese eröffnet, daß ich es nicht weiß, daß »die Frau« eine Unbekannte ist, oder besser, daß ich es vorziehe, nicht zu »definieren«, was eine Frau ist, damit sich die Antwort am Ende einer geduldigen Betrachtung von Beispielen herauskristallisieren kann. Dann vielleicht, nachdem wir jeder gemäß ihrem eigenen Genie gefolgt sind, werden wir eine Tonart hören, die sie einander annähert. Eine Musik, gemacht aus Singularitäten, Dissonanzen, Kontrapunkten jenseits der grundlegenden Akkorde. Vielleicht wird es das sein, das weibliche Genie. Wenn es das gibt. Behalten wir uns die Schlußfolgerung für das Ende der Reise vor.
1Erst wachte der griechische daimon, dann der lateinische genius über die Geburt der Menschen und ihrer Werke; die Frauen hatten für sich eine junon, eine Art tiefen doppelten Ichs, das sie schützte.
2Vgl. Le Robert. Dictionnaire historique de la langue française, S. 880, der diese letzte Entwicklung auf das Jahr 1689 zurückführt.
Das Leben
Hannah Arendt
oder
das Handeln als Geburt
und als Fremdheit
»Es scheint, als seien bestimmte Personen in ihrem eigenen Leben (und nur in diesem, nicht etwa als Personen!) derart exponiert, daß sie gleichsam Knotenpunkte und konkrete Objektivationen des Lebens werden.«1 Hannah Arendt (1906–1975) schreibt diese Zeilen, die ihr eigenes Schicksal vorwegnehmen, als sie erst vierundzwanzig Jahre alt ist. Sie hat bereits Heidegger, ihr Leben lang eine faszinierende Präsenz, kennengelernt und geliebt und ihre Doktorarbeit in Heidelberg verteidigt: Der Liebesbegriff bei Augustin2, unter der Leitung eben desselben Karl Jaspers, dem sie sich anvertraut. Von vornherein weiß sie sich »exponiert«, und zwar so sehr, daß sie sich als Knotenpunkt und konkrete Objektivation des Lebens sieht.
Nachdem sie zunächst daran gedacht hatte, sich der Theologie zuzuwenden, und sich dann dem Studium und dem »Demontieren« der Metaphysik gewidmet hatte, besetzt das Leben bald den Hauptteil der Überlegungen der jungen Philosophin. Zunächst das Leben schlechthin: Hannah Arendt muß Deutschland 1933 verlassen, um zu überleben, um der Shoah durch das Exil zu entkommen. Sie hält sich zunächst in Paris auf und kommt schließlich 1941 in New York an, wo sie zehn Jahre später die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Als Politologin verfaßt sie eine wesentliche Studie über die Geschichte des Antisemitismus und die Ursprünge totaler Herrschaft, um dann schließlich zu ihren grundlegenden Betrachtungen über das Leben des Geistes zurückzukehren.
Früh von der besonderen Leidenschaft ergriffen, für die Leben und Denken eins sind, stellt sie während ihrer wechselvollen, aber zutiefst kohärenten Laufbahn stets das Leben – an sich und als zu erhellenden Begriff – in den Mittelpunkt. Denn weit davon entfernt, ein »professioneller Denker« zu sein, handelt Hannah Arendt ihr Denken im Zentrum ihres Lebens3. Man könnte in diesem spezifisch Arendtschen Zug eine weibliche Besonderheit erkennen: derart, daß die »Verdrängung«, von der man sagt, sie sei bei der Frau »problematisch«, sie daran hindert, sich in die zwanghaften Paläste des reinen Denkens zurückzuziehen, um ihr Denken in der Praxis der Körper und den Bindungen zu den anderen zu verankern.4
Doch mehr noch: In all ihren Schriften leitet das Thema des Lebens ihr Denken und befragt ebenso die politische Geschichte wie die der Metaphysik, so daß es sich im Laufe seiner zahlreichen Erörterungen läutert und ausfeilt. Die mit großem intellektuellen Mut aufgestellte, heftig attackierte These, Nazismus und Stalinismus seien die beiden Gesichter ein- und desselben Grauens des Totalitarismus, insofern sie auf die gleiche Verleugnung des menschlichen Lebens hinauslaufen, bildet eine der Grundlagen der Arendtschen Reflexion. Diese lebenszerstörende Verachtung, die in anderen Kulturen bereits bekannt war, erreicht seit dem Ersten Weltkrieg unter dem Druck des technischen Fortschritts einen bisher unerreichten Höhepunkt: Von der gleichen Verleugnung bewegt, jedoch in verschiedener Weise, treffen sich die beiden Totalitarismen im Phänomen der Konzentrationslager. So schreibt sie, »daß in Asien nicht die abendländisch-christliche Tradition von dem Wert jedes Menschenlebens dem Gefühl der Massen von der Überflüssigkeit der Menschen – ein Gefühl, das in Europa ganz neuen Datums ist und sich erst aus der außerordentlichen Bevölkerungszunahme der letzten 150 Jahre ergeben hat, um dann in den Krisen der Massenarbeitslosigkeit akut zu werden – entgegensteht«5, oder auch: »Diese Menschen konnte man nicht mehr zu politischen oder revolutionären Aktionen bewegen, indem man ihnen sagte, daß sie nichts zu verlieren hätten als ihre Ketten; sie hatten bereits sehr viel mehr verloren als die Kette des Elends und der Ausbeutung, als das Interesse an sich selbst ihnen aus der Hand geschlagen wurde […] Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt hatten die vermassten Individuen die Quelle aller Ängste und Sorgen verloren, die das menschliche Leben in der Welt nicht nur bekümmern, sondern es auch leiten und dirigieren. […] Mit ihrer Weltlosigkeit verglichen waren die christlichen Mönche weltverhaftet, voller Interessen für weltliche Angelegenheiten.«6
Dieser ernste Ton, bei dem sich Wut mit Ironie färbt, verrät eine Sorge mit manchmal apokalyptischen Akzenten, wenn Arendt diagnostiziert, das »radikal Böse« liege im »pervertiert-bösen Willen« (im Kantischen Sinne), die Menschen »überflüssig zu machen«: Anders gesagt zerstört der Mensch des vergangenen ebenso wie des latenten Totalitarismus das menschliche Leben, nachdem er den Sinn eines jeden Lebens beseitigt hat, einschließlich seines eigenen. Schlimmer noch, diese »Überflüssigkeit« des menschlichen Lebens, die die Historikerin mit Nachdruck im Aufschwung des Imperialismus festmacht, verschwindet nicht – im Gegenteil – in den modernen Demokratien, die von der Automatisierung überrollt werden: »…wir können immerhin feststellen, daß dieses radikal Böse im Zusammenhang eines Systems aufgetreten ist, in dem alle Menschen gleichermaßen überflüssig werden. Die totalen Machthaber sind von ihrer eigenen Überflüssigkeit genauso überzeugt wie von der aller anderen, und die totalitären Henker sind so gefährlich, weil es ihnen offenbar einerlei ist, nicht nur ob sie leben oder sterben, sondern ob sie je geboren wurden oder niemals das Licht der Welt erblickten. Die ungeheuere Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat ›überflüssig‹ werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, Menschen wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.«7
Angesichts dieser Drohung erhebt sich eine vehemente Verteidigung des Lebens in der Vita activa8. Als Gegenpol zum – in der vitalistischen Hartnäckigkeit der Konsumideologie und von der in den Dienst des »Lebensprozesses« gestellten modernen Technik – platt reproduzierten Leben stimmt Arendt eine Hymne auf die Singularität einer jeden beliebigen Geburt an, die fähig ist, das zu eröffnen, was sie ohne Zögern das »Wunder des Lebens« nennt: »Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ›Gesetz‹ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann […] Das ›Wunder‹ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. Nur wo diese Seite des Handelns voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie ›Glaube und Hoffnung‹, also jene beiden wesentlichen Merkmale menschlicher Existenz, von denen die Griechen kaum etwas wußten […] Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren.‹«9
Heute fällt es uns schwer zu akzeptieren, daß das Leben, der heilige Wert der christlichen und nachchristlichen Demokratien, die junge Frucht einer historischen Entwicklung sein soll, und zu begreifen, daß es bedroht sein könnte. Doch eben die Frage nach diesem Grundwert, nach seiner Herausbildung in der christlichen Eschatologie und den Gefahren, die er in der modernen Welt läuft, durchzieht das Werk Arendts von einem Ende zum anderen – von ihrer Dissertation über Augustin bis zum unvollendeten Manuskript über die Urteilskraft –, wenn sie dieses Werk nicht sogar heimlich strukturiert.
1Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 24. März 1930, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, München, Zürich 1985, S. 48
2Berlin 1929
3Julia Kristeva benutzt hier – im Französischen ebenso wie im Deutschen vom üblichen Sprachgebrauch abweichend – das Verb agir/handeln transitiv. In diesen Kontext gehört eine Bemerkung Hannah Arendts, die möglicherweise einen gewissen Einfluß auf diesen Sprachgebrauch Kristevas gehabt haben mag: »Dies Denken hat eine nur ihm eigene bohrende Qualität, die, wollte man sie sprachlich fassen und nachweisen, in dem transitiven Gebrauch des Verbums ›denken‹ liegt. Heidegger denkt nie ›über‹ etwas; er denkt etwas« (Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München 1989, S. 175). (Anm. d. Übers.)
4Mehrere Veröffentlichungen, Kolloquien und Sondernummern von Zeitschriften sind dem Werk Hannah Arendts gewidmet. Besonders hervorzuheben sind: Social Research, Nr. 44/1977; Esprit, Juni 1980; Les Etudes phénoménologiques Nr. 2/1985; Les Cahiers du Grif, Herbst 1986; Les Cahiers de philosophie Nr. 4/1987; Kolloquium des italienischen Instituts für philosophische Studien in Neapel, 1987; Politique et pensée. actes du colloque international de philosophie 1988, Paris 1989 (Nachdruck bei Payot & Rivages, Paris 1996); Hannah Arendt et la modernité. annales de l’Institut de philosophie de l’Université libre de Bruxelles, Paris 1992; colloque international (Genf 1997), Bd. 1: Les Sans-Etat et le droit d’avoir des droits; Bd. 2: La Banalité du mal comme mal politique, Paris, Montréal 1998.
5Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, 2. Aufl. 1991, S. 502 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
6Ebd., S. 511 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
7Ebd., S. 702 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
8Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1981, 11. Aufl. 1999
9Ebd., S. 316-317
1. Eine »derart exponierte« Biographie
Bevor wir die wichtigsten Etappen der Erkundung des Begriffs des Lebens bei Arendt nachvollziehen, sollen einige Hauptmomente ihres Lebens evoziert werden, so wie die Biographen es wiedergeben.10
Wie sie 1930 Jaspers schrieb, handelt es sich bei diesem Leben um eine »exponierte« Existenz, die in der Tat Hannah Arendt derart zu bedingen scheint (wir werden auf den Sinn dieser »Bedingung« zurückkommen, wie sie in der Vita activa definiert ist), daß sie – Leben und Werk ineinander verzahnt – eine »Objektivation« oder ein »Knotenpunkt« des »Lebens« wird.
Hannah Arendt, 1906 in Linden bei Hannover geboren, ist die Tochter von Paul Arendt und Martha Cohn. Die Arendts sind eine »alte Königsberger Familie«, wie die Philosophin in ihrem Fernsehinterview von 1964 mit Günter Gauss erwähnt.11 Als reformierte Juden und Bewunderer von Hermann Vogelstein, einem der berühmtesten Führer der liberalen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, zeigen sie sich gegenüber den Zionisten kritisch, empfangen jedoch Kurt Blumenfeld, den künftigen Vorsitzenden der deutschen zionistischen Organisation. Er wird mit der kleinen Hannah bei ihrem Großvater Max spielen und sie in der Bejahung ihrer jüdischen Identität bestärken. Jacob Cohn, der Großvater mütterlicherseits (im heutigen Litauen geboren), machte aus dem Familienunternehmen die bedeutendste Firma für den Import russischen Tees nach Königsberg (vorher war der englische Tee marktführend). Unter den Cohns gab es viele »großzügige und sensible« Witwen, wie die Großmutter Fanny Spiero-Cohn, zweite Frau Jacobs, die sich gern slawisch kleidete und Deutsch mit russischem Akzent sprach.
Paul Arendt arbeitete als Ingenieur mit einem in Alberta erworbenen Diplom in einer Gesellschaft für elektrische Ausrüstungen; Martha studierte Französisch und Musik während eines dreijährigen Aufenthaltes in Paris. Beide hegten Sympathien für die deutschen Sozialdemokraten und teilten die Goetheschen Ideale der deutschen Bildungselite. Die jüdische Identität war auf natürliche Weise in der Familie gegenwärtig, während die christliche Kultur durch Ada, das Kindermädchen, das sich um Hannah kümmerte, eindrang. Von Geburt ihrer Tochter an führen die Arendts ein Heft Unser Kind, das ihre Entwicklung festhält und in dem sich die scharfsinnigen Bemerkungen von Martha, der aufmerksamen Mutter, der nichts entgeht, herausheben: Als Einjährige »liebt es Hannah sehr, wenn es lebhaft um sie herum zugeht«; Mit anderthalb ist es »in der Hauptsache […] ihre Sprache die sie sehr geläufig hersagt. Versteht alles.«; mit zwei Jahren gibt es für die musikalische Mutter eine Enttäuschung, Hannah »singt nun zumeist falsch, leider!!«; aber mit drei kann sie sprechen, und zwar »nun so ziemlich alles, wenn auch für Fernstehende nicht ganz erkennbar« (schon Philosophin?). Sie ist »ausserordentlich lebhaft immer in Eile u. Bewegung, sehr zutraulich, auch zu ganz fremden Leuten«; mit sechs »lernt [sie] leicht und ist augenscheinlich begabt, rechnet ganz besonders gut.«12
Dieses Glück währte nicht lange, es wurde schnell getrübt durch den körperlichen Verfall Paul Arendts, der an Syphilis erkrankt war. In seiner Jugend zugezogen, lange stabilisiert, verschlimmert sich die Krankheit zwei Jahre nach der Geburt seiner Tochter und erreicht 1911 eine dramatische Phase mit Verletzung, Ataxie und Paresie (eine Art Demenz). Paul Arendt muß seine Arbeit aufgeben, die Familie läßt sich in Königsberg nieder, wo er ins Krankenhaus kommt. Der Großvater Max heitert diese traurigen Stunden während der Spaziergänge mit seiner Enkelin durch seine Kunst des Erzählens auf; und wenn man später im Werk der Philosophin eine Apologie des erzählten Lebens, bios / Biographie, finden wird, dem sie das biologische und stumme Leben, zoe, entgegenstellt, wird man sich an die erzählerische Magie eines anderen Vaters erinnern, der Hannah an das Leben band, während Paul Arendt seinen unerbittlichen Verfall erlebte.
1913: Max stirbt im März, Paul im Oktober. Martha notiert in Unser Kind, daß Hannah von diesem doppelten Ableben nicht berührt wird. »Bis sie mir gelegentlich erklärt, man müsse an traurige Dinge so wenig wie möglich denken, es hat doch keinen Sinn dadurch traurig zu werden. Und das ist so recht bezeichnend für ihre grosse Lebensfreudigkeit […] Sie nimmt das als etwas Trauriges für mich auf. Sie selbst ist unberührt davon. […] Sie ist auch bei der Beerdigung dabei u. weint, ›weil so schön gesungen wird‹…«13
Naivität des kleinen siebenjährigen Mädchens? Oder bereits ein Leben, das sich im Denken entfaltet und weiß, daß es möglich ist, entsprechend seinem Willen zu denken: an traurige Dinge – davon ist abzuraten – oder lieber an Lieder? Wenn ich im Denken bin, fehlt mir nichts? Man kann dies in der Tat annehmen, wenn man die Reflexionen ihrer Mutter liest: »Nun denkt sie auch wieder an ihren lieben Opa u. spricht von ihm lieb u. mit warmem Ton, aber ob er ihr fehlt? Ich glaube es kaum.«14 Ist das Denken nicht die einzige Art und Weise, mit den Toten zu leben, sie nicht zu verlieren und die Trauer zu transzendieren? Wir werden die Spur dieses frühreifen Ausweichens vor dem Tod dank eines Denkens, dem nichts fehlt, im impliziten Streit Hannah Arendts mit dem »Sein-zum-Tode« Heideggers wiederfinden. Ohne sich der Tragik des Todes zu entziehen, eröffnet sie neue Perspektiven, um den gemeinsamen Raum des Erscheinens zu denken: Bindungen, Teilung, Handeln.
Doch die Ruhe währt nur ein Jahr: Mit dem großen Krieg und der sexuellen Entwicklung des sehr jungen Mädchens beginnen die Ärgernisse. Hannah ist nicht mehr ganz so fröhlich, informiert uns Unser Kind; ihre quer wachsenden Zähne erfordern eine Zahnregulierung, unter der sie leidet; ihre schriftlichen Arbeiten sind nicht mehr so ausgezeichnet wie sonst, und selbst im Mündlichen ist sie schwächer – womit alles gesagt ist! Sehr leicht verletzbar, von launenhafter Stimmung, ist sie sogar »ungehorsam und rüpelhaft«! Das Ganze vor dem Hintergrund wiederkehrender kleiner Krankheiten: Fieber, Husten, Nasenbluten, Kopf- und Halsweh. Die Pubertät hat offensichtlich eingesetzt, und Hannah gelingt es noch nicht zu entscheiden, ob sie so robust wie … ihr Vater sein wird. »Könnte sie nicht ihrem Vater ähneln!« notiert Martha. Das wird schon kommen!
Eine harmlose Bemerkung des kleinen achtjährigen Mädchens (wir befinden uns im Jahre 1914) verrät die männliche Identifizierung, die sich abzeichnet: »…wenn uns jetzt ein Kind geboren wird, dann kennt es auch nicht seinen Vater«15, sagt Hannah ihrer Mutter. Seltsame Worte! Hinter dem Begehren zu wissen, woher die Kinder kommen, und seine Eltern zu erkennen, um dabei von ihnen anerkannt zu werden, ist in diesen Worten Hannahs die Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen und ihr Begehren nach dem abwesenden Mann erkennbar – Begehren, diesen Mann zu haben, Begehren, dieser Mann zu sein. Und das Fragen nach ihrem Platz zwischen den beiden Frauen: Wenn wir ein Kind machen würden, wer wäre der Vater? Da Paul und Max tot sind, wo ist der Mann? Wer ist der Mann? Du? Ich? Ein Fremder? Existiert der Mann? Wer kann erkennen, wer kann wissen? Wer kann uns – mir – ein Kind machen? Du? Ich? Niemand? Wenn uns jetzt ein Kind geboren wird, würde es seinen Vater nicht kennen: Wer ist der Vater? Eine intensive Komplizenschaft, die den Mann »erfaßt«, taucht zwischen den beiden Frauen auf, dermaßen, daß das »Paar« Mutter / Tochter 1927 den fünfundzwanzigsten Jahrestag des … Paares Martha / Paul feiert. Hannah ist zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre alt und arbeitet an ihrer Dissertation in Heidelberg.
1920 heiratet Martha Martin Beerwald, einen Geschäftsmann, Witwer und Vater zweier Töchter, Clara und Eva. Die Beziehung Hannahs zu dieser Schwiegerfamilie und insbesondere zu ihrem Schwiegervater ist, wie man sich vorstellen kann, stürmisch. Sie entzieht sich durch eine ausgesprochene Neigung zu »wilderen Eskapaden«16: jugendliche Version des Lebens, wo Begehren und Freundschaft sich vermengen? Eine glühende Freundschaft verbindet sie mit Anne Mendelssohn, Nachfahrin des Komponisten Felix Mendelssohn (Enkel von Moses Mendelssohn, Haupt der gesellschaftlichen und kulturellen Emanzipation der Juden in der Zeit der Aufklärung) und Freundin von Ernst Grumbach. Fünf Jahre älter als sie, hört dieser junge Mann die Vorlesungen von Heidegger und überträgt auf Hannah seine Begeisterung für den glänzenden Marburger Professor. Anne ist es, die einige Jahre später ihrer Freundin die seltenen Ausgaben der Schriften von Rahel Varnhagen schenkt, deren »Leben« Hannah Arendt schreiben wird.
Mittlerweile sind die zahlreichen Freunde von der intellektuellen Lebhaftigkeit und der Gelehrsamkeit Hannahs beeindruckt. Doch gerät sie in Streit mit einem Lehrer ihrer »Luisenschule« und wird von dort verwiesen! Wie immer ergreift die Mutter ihre Partei, die unruhige Schülerin wird das Abitur als freie Kandidatin ablegen, was ihr 1924 (ein Jahr vor ihrer Klasse) so glänzend gelingt, daß sie die Goldmünzen mit dem Abbild des Herzogs Albrechts I. von Preußen erhält.17 Nachdem Anne nach Allenstein gegangen ist, wird Hannah die Freundin von Ernst Grumbach: Dies ist Anlaß zu heftigem Klatsch, aber auch – immer wieder das Leben! – zum Schönerwerden und Sich-Entfalten. Und das mit Zustimmung ihrer Mutter – die Hannah Arendt im Interview mit Gauss als eine »spezifisch jüdische Menschlichkeit« verkörpernde Person beschreibt, mit ihrem »Außerhalb-aller-gesellschaftlichen-Bindungen-Stehen« sowie »völliger Vorurteilslosigkeit«.18 Wir werden auf den Arendtschen Gedanken eines »Akosmismus« des jüdischen Volkes zurückkommen, der frei ist von Territorien und politischen Begriffen und als Kontrapunkt zu diesem Mangel »eine besondere Wärme« entwickelt, die allerdings nach der Gründung des Staates Israel vom Verschwinden bedroht ist.
In Berlin stößt die sich leidenschaftlich für Kierkegaard interessierende Theologiestudentin schnell auf eine Aporie: »Ich hatte dann nur Bedenken, wie man das denn nun macht, wenn man Jüdin ist. Und wie das vor sich geht?«19 Sie entscheidet sich, alles Interessante zu hören, was in den Universitäten des Landes an Philosophie gelehrt wird: daher Marburg und Heidegger (1889–1976). »Das Gerücht sagte es ganz einfach: Das Denken ist wieder lebendig [sic] geworden, die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit werden zum Sprechen gebracht, wobei sich herausstellt, daß sie ganz andere Dinge vorbringen, als man mißtrauisch vermutet hat. Es gibt einen Lehrer; man kann vielleicht das Denken lernen […]; die Vorstellung von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken und Lebendigsein eins [sic] werden«, befremdet einigermaßen. »Dies Denken, das als Leidenschaft aus dem einfachen Faktum des In-die-Welt-geboren-seins aufsteigt und nun ›dem Sinn nachdenkt, der in allem waltet, was ist‹, kann so wenig einen Endzweck […] haben wie das Leben selbst.«20