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Doch ebensowenig, wie es ihr darum geht, Befehle zu geben, geht es ihr darum, sie entgegenzunehmen. Die passive Fügsamkeit, die manche als »feminin« qualifizieren, charakterisiert bei Eichmann während des Prozesses in Jerusalem jene Abwesenheit des Denkens, deren anderer Name »Banalität des Bösen« ist. Ist es diese hinnehmende Pseudo-Weiblichkeit, die Arendt bei dem Nazi erkennt, wenn sie feststellt, daß er, ohne völlig unintelligent zu sein, in banaler und lächerlicher Weise gedankenlos ist? Daß er nicht selbst niederträchtige Befehle gegeben hat, sondern sich damit begnügte, sich diesen zu unterwerfen und sie weiterzugeben? Sollte Eichmann eine Art Nicht-Mann, eine Art falscher Frau sein: ein Hanswurst? »Ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen. Und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut! […] Ich würde wahrscheinlich noch drei Minuten vor dem sicheren Tode lachen.«55
Wenn es aber weder das Erteilen von Befehlen noch deren Ausführung, weder die Ausübung eines Einflusses, noch die Unterwerfung unter diesen ist, was definiert dann eine Frau? »Wissen Sie, wesentlich ist für mich: Ich muß verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. Das Schreiben ist, nicht wahr, Teil in dem Verstehensprozeß. […] Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinne, wie ich verstanden habe –, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.«56 Hinter der Bescheidenheit dieser Haltung der »Verstehenden« verbirgt sich ein großer Reichtum an Bedeutungen. Die Verstehende – Mit-Nehmende57 wartet ab, akzeptiert, empfängt: Offener Raum, läßt sie sich bewohnen, berührt sie, geht sie mit (cum-, com-), Matrix des gelassenen »Sich-gehen-lassens« (Heidegger betont die Gelassenheit), das sich befruchten läßt. Aber die Mit-Nehmende nimmt auch: Sie wählt, entreißt, knetet, verformt die Elemente, sie eignet sie sich an und erschafft sie neu. Gemeinsam mit den anderen, aber kraft ihrer eigenen Wahl, ist die Mit-Nehmende jene, die einen Sinn entstehen läßt, dort, wo der Sinn der anderen, verwandelt, zu lesen ist. An uns ist es, diesen Denkprozeß in actu zu entziffern, der sich konstruiert-dekonstruiert.
Kann man von einem Werk sprechen? Gewiß. Unsere akademischen und Verlagsgewohnheiten bezeichnen ohne den Schatten eines Zweifels Hannah Arendt als Autorin eines Werkes (eines politischen?, philosophischen?, femininen? Lassen wir die Frage im Moment offen.), und zwar eines der wichtigsten Werke des Jahrhunderts. Der schneidende Stil, die Knappheit, das Tempo, die gewaltige, sich dennoch niemals erschöpfende Gelehrsamkeit ihrer Schriften wurden anerkannt; Wiederholungen und die Heterogenität ihres Stils haben die Spezialisten aller möglichen Richtungen provoziert; doch vor allem durch ihre Verankerung in persönlicher Erfahrung und im Leben des Jahrhunderts machen diese Texte weniger den Eindruck eines Werkes als den eines Handelns. Die unbestreitbare Besonderheit von Hannah Arendt offenbart sich hier: Sie feilt nicht aus, noch vollendet sie, ebensowenig wie ihr Diskurs über dem Kampfgetümmel schwebt. Die Verstehende greift den Ball im Fluge auf, befragt die »Fakten«, führt den Dialog mit den sichtbaren oder versteckten »Autoren«, steht in ständiger Wechselwirkung mit den anderen, und mit sich selbst zu allererst. In diesem polemischen Labyrinth beraubt sich das Denken vielleicht einer zugespitzten Reinheit, doch dies, um besser mit den vorangegangenen Erinnerungen (im Plural) in Einklang zu stehen und auf den Weltenlauf einzuwirken.
Ein Foto vom Ende der fünfziger Jahre gibt meiner Ansicht nach das verwirrendste Bild der »Verstehenden«. Die Anspannung zu durchdringen (Heidegger sagt: durchschauen, Durchsichtigkeit), an das Licht des Tages zu bringen, gibt ihrem Gesicht einen männlichen Ausdruck und eine ironische Gier. Dabei bleiben das erobernde Lächeln und der Blick von einer flüchtigen Sanftheit erleuchtet, die ebensosehr Vertrauen wie Komplizität ausdrückt und vermittelt. Doch die Reife und der intellektuelle Kampf haben das junge liebliche Mädchen mit den langen Haaren, das mit achtzehn seinen Marburger Platon verführt hatte, verschwinden lassen. Selbst die Jungenhafte mit der Zigarette, die mit konzentriertem Profil die Aufmerksamkeit der Zuhörer einer Vorlesung in New York 1944 herausforderte, ist plötzlich rigoros erstarrt.
Hannah Arendt verabscheute die Berühmtheit, aber sie zelebrierte immer wieder das Erscheinen und das Schauspiel: Sie hätte sicher nichts dagegen gehabt, daß man den Spuren nachgeht, die ihre Erscheinungen hinterließen. Angesichts dieses Fotos (vgl. Anhang, Abb. 4) kehrt die ewige Frage wieder: Was ist eine Frau? Ist sie allein das »Phallus-Girl«, das Aufrichten eines weiblichen Modells, das die phallische Lust der Männer anheizt und das Psychoanalytiker, ohne zu zögern, in der verführerischen Frische des »schönen jungen Mädchens« von 1927 (Abb. 1) und von 1933 (Abb. 2) entziffern würden? Um so mehr, als eine Verführerin, insbesondere wenn sie denkt, selten frei ist von den Zweideutigkeiten des Androgynen.58 Ist sie die Mutter unserer Träume mit den freigebigen Brüsten, die magische Kompensatorin unserer Frustrationen – in allererster Linie der oralen? Zwar finden wir Hannah im ersten Bild wieder, doch im zweiten scheint sie sich verweigert zu haben. Oder ist sie endlich die »Verstehende« (Abb. 4), deren Bild die Frauenmagazine, die über »Ihre Schönheit« wachen, eher in die Flucht jagen würde? Ihr Gesicht drückt bis zur Karikatur die Härte des Kampfes aus, die sie dazu brachte, zu verstehen. Ohne dieses angespannte Engagement bleibt der Geist irrealisiert, unsichtbar; aber wenn er erscheint, zieht sich die Weiblichkeit – wie das Sein? – zurück, und von den beiden Geschlechtern besetzt allein das männliche, ohne sich zu genieren, die Bühne. Im Aushandeln ihrer psychischen Bisexualität bietet das Bild Hannah Arendts Ende der fünfziger Jahre das Zeugnis einer virilen Entfaltung. Wir werden darin weder eine irreführende Maske sehen, die dazu bestimmt ist, die Integration einer Frau in einen Männerberuf zu erleichtern, noch einfach die unbewußte Wahrheit einer Homosexuellen, die sich als solche nicht kennt. Aber der notwendige Weg dieses Denkens in actu, dieses gedachten Handelns, ist bei Arendt ein Synonym des Lebens.
10Vgl. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main 1996, und die Monographie von Sylvie Courtine-Denamy, Hannah Arendt, Paris 1994
11Vgl. Hannah Arendt, »Was bleibt ist die Muttersprache« (Fernsehinterview mit Günter Gauss 1964), in: dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. Ursula Ludz, München, Zürich 1996, 3. Aufl. 1998, S. 44-70
12Ebd., S. 50-52
13Ebd., S. 57
14Ebd.
15Ebd., S. 62
16Ebd., S. 68
17Vgl. ebd., S. 75-76
18Ebd., S. 64
19Ebd., S. 53
20Hannah Arendt, »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, a. a. O., S. 174-177. Hannah schrieb diesen Text fünfundvierzig Jahre später, nach wie vor Denken und Leben identifizierend, wie sie es seit ihrer Jugend und in ihrer Beziehung zu Heidegger getan hat. Vgl. in diesem Sinn auch ihren weiter unten zitierten Brief an Heidegger vom April 1928.
21Vgl. Elzbieta Ettinger, Hannah Arendt – Martin Heidegger. Eine Geschichte, München, Zürich 1995, 3. Aufl. 1998, sowie den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, aus den Nachlässen hg. v. Ursula Ludz, Frankfurt am Main 1999
22Dokument 15, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 30
23Hannah Arendt über Rahel Varnhagen, zit. nach Elisabeth Young-Bruehl, a. a. O., S. 96-97
24Vgl. Elzbieta Ettinger, a. a. O., S. 41
25Brief vom 22. April 1928, Dokument 42, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 65-66
26Vgl. ihren Artikel »What is Existenz Philosophy?«, in: Partisan Review, Nr. 13, 1946
27Vgl. Brief Nr. 40 vom 9. Juni 1946, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, a. a. O., S. 79-80
28Brief Nr. 42 vom 9. Juli 1946, ebd., S. 84
29Brief Nr. 297 vom 1. November 1961, ebd., S. 494
30Dokument 47, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 74
31Dokument 55, ebd., S. 89-90
32Ebd., S. 90
33Dokument 57, ebd., S. 95
34Brief vom 28. Oktober 1960, Dokument 89, ebd., S. 149
35Ebd., S. 319
36»Heidegger sagt, ganz stolz: ›Die Leute sagen, der Heidegger ist ein Fuchs.‹ Dies ist die wahre Geschichte von dem Fuchs Heidegger: / Es war einmal ein Fuchs, dem gebrach es so an Schläue, daß er nicht nur in Fallen ständig geriet, sondern den Unterschied zwischen einer Falle und einer nicht-Falle nicht wahrnehmen konnte. […] Er baute sich eine Falle als Fuchsbau, setzte sich in sie, gab sie für einen normalen Bau aus (nicht aus Schläue, sondern weil er schon immer die Fallen der anderen für deren Baue gehalten hatte), beschloß aber, auf seine Weise schlau zu werden und seine selbst verfertigte Falle, die nur für ihn paßte, zur Falle für andere auszugestalten. Dies zeugte wieder von großer Unkenntnis des Fallenwesens: in seine Falle konnte niemand recht rein, weil er ja selbst drin saß. […] Also verfiel unser Fuchs auf den Einfall, seine Falle schönstens auszuschmücken und überall klare Zeichen zu befestigen, die ganz deutlich sagten: kommt alle her, hier ist eine Falle, die schönste Falle der Welt. […] Wollte man ihn im Bau, wo er zu Hause war, besuchen, mußte man in seine Falle gehen. Aus der freilich konnte jeder herausspazieren außer ihm selbst. Sie war ihm wort-wörtlich auf den Leib geschnitten. Der fallen-bewohnende Fuchs aber sagte stolz: So viele gehen in meine Falle, ich bin der beste aller Füchse geworden. Und auch daran war etwas Wahres: niemand kennt das Fallenwesen besser, als wer zeitlebens in einer Falle sitzt.« (Dokument A 5 des Denktagebuches von Hannah Arendt, August oder September 1953, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 382-383)
37Hannah Arendt, Rahel Varnhagen – Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München, Zürich 1990
38Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, hg. v. Mary McCarthy, München, Zürich 1998, S. 29-30
39Hannah Arendt, »Rosa Luxemburg«, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, a. a. O., S. 63-64
40Hannah Arendt, Heinrich Blücher, Briefe 1936 bis 1968, hg. v. Lotte Köhler, München, Zürich 1999
41Brief von Hannah Arendt an Heinrich Blücher vom 18. September 1937, in: ebd., S. 83
42Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 19. September 1937, ebd., S. 84-85
43Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 12. August 1936, ebd., S. 44
44Brief von Hannah Arendt an Heinrich Blücher vom 18. September 1937, ebd., S. 83
45Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 4. August 1941, ebd., S. 130
46Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 31. Oktober 1939, ebd., S. 99
47Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 4. Dezember 1939, ebd., S. 106
48Brief von Hannah Arendt an Heinrich Blücher vom 8. Februar 1950, ebd., S. 208
49Brief von Hannah Arendt an Heinrich Blücher vom 25. Mai 1958, ebd., S. 471
50Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 15. Dezember 1949, ebd., S. 176-177
51Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 207
52Vgl. Sylvie Courtine-Denamy, a. a. O., S. 19
53Hannah Arendt, »Was bleibt ist die Muttersprache«, a. a. O., S. 44
54Ebd., S. 46
55Ebd., S. 62. Vgl. auch Liliane Weissberg (Hg.), Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess, by Hannah Arendt, Baltimore (John Hopkins UP), S. 25
56Hannah Arendt, »Was bleibt ist die Muttersprache«, a. a. O., S. 46-47
57Julia Kristeva interpretiert hier vom französischen comprendre – verstehen aus, das sich auch als com-prendre – mit-nehmen deuten läßt. Wir versuchen, es im Deutschen nachvollziehbar zu machen. (Anm. d. Übers.)
58Im Laufe der Kontroverse anläßlich der Reportage über den Eichmann-Prozeß beschwert sich Arendt über ihre Kritiker der Zeitschrift Aufbau: »…denn der ›Aufbau‹ hat mich unter anderem auch dessen beschuldigt, was die Freudianer den Penisneid nennen.« Vgl. Brief Nr. 356 an Gertrud Jaspers vom 12. August 1964, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, a. a. O., S. 598. Die Auseinandersetzung, obschon »erheiternd« (ebd.), traf sie an einem empfindlichen Punkt.
2. Lieben nach Augustin
Hannah Arendt verteidigt ihre Doktorarbeit Der Liebesbegriff bei Augustin am 28. November 1928. Das reservierte Gutachten ihres Doktorvaters Karl Jaspers bestätigt, daß die Studentin fähig ist, das Wesentliche hervorzuheben, aber sie »hat nicht etwa Alles, was Augustin über Liebe sagte, zusammengetragen; […] Beim Zitieren sind hier auch einige Malheurs passiert […] Die Methode ist als sachliches Verstehen zugleich gewaltsam […] gibt letzthin wohl das Nichtgesagte: durch philosophisches Arbeiten an der Sache möchte sich die Verfasserin ihre Freiheit zu christlichen Möglichkeiten rechtfertigen, die sie zugleich anziehen. […] kann die übrigens von positivem Gehalt ausgezeichnete und eindrucksvolle Arbeit leider nicht mit der besten Note zensiert werden. Daher: II – I.«59 In der Tat schätzt Arendt offensichtlich mehr den Philosophen als den Theologen Augustin. Die drei Teile ihrer Arbeit (Amor qua appetitus – die Liebe als Begehren; Creator-creatura – das Verhältnis Schöpfer – Schöpfung; Vita socialis – das Leben in der Gesellschaft) sind entsprechend den Auffassungen von Jaspers angeordnet: Arendt sucht nach einer impliziten Systematik im Werk, selbst wenn diese den religiösen Absichten Augustins fremd ist, jedoch ohne ihn in ein System einspannen zu wollen; auch ist das Vokabular Heideggers hier bereits präsent. Die Theologen sind verwirrt, enttäuscht. Jahre später schreibt Arendt an Jaspers, daß sie überrascht ist, sich in dieser weit zurückliegenden Arbeit wiederzuerkennen.60 In der Tat befragt diese erste abstrakte, rein philosophische Forschung – im Zentrum der transzendentalen Beziehung, der christlichen Liebe – die plurale Bindung, die Menschen in der Welt zueinander in Beziehung setzt. Das Programm eines kommenden Werkes ist bereits vorgezeichnet: Das Thema des Lebens, vermittelt durch jenes der Liebe, strukturiert diese einleitende Arbeit und erlaubt uns, Augustin mit Arendt im Lichte ihres späteren Denkens zu lesen.
Zahlreiche Begriffe deklinieren den Liebesbegriff bei Augustin: Liebe, Begehren (mit seinen beiden Varianten appetitus und libido), Mitgefühl, Begierde, die nach Arendt eine wahrhaftige »Konstellation der Liebe« bilden, wobei sie entwickelt, daß die tragende Welle dieser Vielfalt das Begehren ist: »Der appetitus also ist die Grundstruktur des Seienden, das sich selbst nicht hat, das in der Gefahr steht, sich selbst zu verlieren.«61 Die vielfältigen Formen der Liebe unterscheiden sich allein durch ihren jeweiligen Gegenstand, doch ist diese stets eins mit dem Leben. Aber was ist das Leben? Alle Arendtschen Anstrengungen werden darauf abzielen, den verschiedenen Varianten der Liebe nach Augustin folgend, das zu definieren.
Für Augustin, den Christen, ist das Leben als »höchstes Gut« ein »Leben, das nicht verloren werden kann«: Ohne Tod, ohne Ende ist es ewig. Das beate vivere, absolutes »Gut«, ist also nichts anderes als die »Ewigkeit« außerhalb unserer Existenzen. Nun tendiert die Liebe zu diesem außerhalb Existierenden (als Echo auf die Heideggersche Lehre: zum Sein hin), ewige und glückliche Totalität des höchsten Gutes (summum bene), das ewige Leben in Gott. Obwohl dieses höchste Gut jedoch außerhalb des Menschen liegt, schafft es eine Spannung im Existierenden selbst, da es ihm immer schon durch die retrospektive Wiedererinnerung bekannt ist (die Philosophin betont hier die Uminterpretation Platons innerhalb des Augustinischen Denkens). Die spezifische Spannung im Leben des Seienden spaltet dieses zwischen seiner Endlichkeit und der Ewigkeit, wobei die Liebe das Zeichen seiner Spaltung ebenso wie seiner möglichen Verschmelzung ist. Die Liebe zielt auf ein Gut, das außerhalb dieses Ziels liegt. Da aber alles, was von außen auf das Leben zukommt, nur erstrebt ist um des Lebens willen, so ist eigentlich das Leben zu erstreben.62
So zeichnet sich eine Verdopplung, wenn nicht gar eine Dialektik des Lebens ab: absolute Äußerlichkeit des ewigen Seins und zugleich deren Einführung in die Innerlichkeit des Liebenden; ein Leben der Liebe ist bereits ein LEBEN. Gott, der Liebe ist, erscheint notwendigerweise als das, was Leben mit ewigem Sein identifiziert. Es ergibt sich daraus, daß man zu Gott findet nur … indem man in Liebe lebt. Aber wie?
Im Gegensatz zur Identifizierung von Leben und in Gott sein steht das gegenwärtige Leben, das es zu vernachlässigen gilt: Allein die Begehrlichkeit spricht diesem Leben eine ausschließliche Bedeutung zu. So wie der Liebende sich bei der Geliebten vergißt – Arendt wird später63 sagen, daß die Liebesbeziehung ebenso wie die »christliche Güte« »weltlos« ist – so ist das gegenwärtige Leben angesichts des LEBENS zu vergessen. Dennoch genießt das Subjekt (der Gläubige) das LEBEN (Gottes: des summum esse), indem es es liebt, und dieser Genuß ist möglich in dem Maße, wie das Subjekt seine Glückseligkeit auf ein Draußen richtet, wo Gott ist.
Zeitlich gesprochen ist dieses Außen nichts anderes als die von der Vergangenheit untrennbare Zukunft. Das glückliche Leben ist immer bereits in der Vergangenheit, so daß allein die Erinnerung es in das gegenwärtige Leben holt: Die Rolle der Wiedererinnerung ist also zentral, denn sie verschafft uns den Zugang zur Glückseligkeit. Arendt betont gern, daß Augustin – durch die Erinnerung und im Genuß – das glückliche LEBEN, das gegenwärtige Leben und die Wiedererinnerung miteinander verbindet: Das glückliche Leben ist ein nach außen und auf die Zukunft hin (Ewigkeit) entworfenes Leben, und zwar einzig auf Grund der »Rückverkoppelung des Begehrens«, die es in der Vergangenheit wiederfindet (Wiedererinnerung); zum Ursprung des irdischen Lebens gelangen ist der Grund allen menschlichen Strebens.64 Mit anderen Worten: Das Leben befreit den Seienden aus seiner Endlichkeit eines vom Sein Verworfenen und bindet ihn durch die Erinnerung oder das Bekenntnis (ricordari) an die Ewigkeit: aber dann, und nur dann, wenn das Leben sich mit der Liebe identifiziert.
Ohne die Erinnerung aufzugeben, ist das Leben keine reine Vergegenwärtigung der Vergangenheit, sondern gibt sich zu erkennen als Streben nach dem glücklichen Leben, als Begehren. Obwohl von der Natur abhängig und mehr noch von jenem, »der mich geschaffen hat«, verbirgt das Leben in der Liebe somit eine Art Unabhängigkeit: Es entwirft, überschreitet, erhebt, in einem Wort, es begehrt die Erinnerung. »Ich will also diese meine Naturkraft überschreiten, um mich schrittweise zu jenem zu erheben, der mich geschaffen hat; und ich komme an bei den Feldern und weiten Palästen der Erinnerung«, schreibt Augustin in den Bekenntnissen (X, 12)65, die Arendt kommentiert.
So ist im Rückbezug zum Sein – gleich Leben der Liebe – das Seiende mit ewiger Beständigkeit konfrontiert und erwirbt selbst ewige Beständigkeit sich selbst gegenüber: Das menschliche Leben kann nicht wechselhaft sein, sein Sein ist das völlig Unveränderliche.66 Eben hier wird die Differenz zwischen der christlichen Position des Lebens als Versöhnung mit dem Ewigen und die gegenwärtige Position des Menschen in der Revolte deutlich. Die revoltierende Wende, das Begehren nach Bruch, Erneuerung oder Renaissance, das den modernen Menschen kennzeichnet und von den Revolutionen ausgedrückt wird, über die Arendt später in erhellender Weise nachdenken wird, ist keine Beruhigung in einer stabilisierenden »Gegenüberstellung mit Gott«. An die Stelle des Strebens zum ewigen Sein tritt von nun an das Ideal des Wandels, der ständigen Verschiebung. Allerdings führt das Denken Augustins in Hannah Arendts Lektüre bereits die Prämissen einer Auffassung des Lebens als Beweglichkeit, Andersheit, Anderswerden ein. In der Tat fügt nach Augustin die Kreatur zur Stabilisierung des Unveränderlichen, das vom glücklichen Leben angestrebt wird, ihren spezifischen Anteil hinzu. Dem zeitlosen und ewigen Universum fügt das Subjekt eine »eigentümliche Abbiegung« hinzu, wie Arendt schreibt. Indem er in die unveränderliche Gleichzeitigkeit hineingeboren wird, führt der Mensch die zeitliche Abfolge ein.
Ein anderer Aspekt des Lebens kündigt sich hier an: ein Leben, das nicht das ewige LEBEN ist, sondern das Leben, das hinzukommt in und durch die Geburt. Die »Geburt« (ein häufig wiederkehrendes Arendtsches Thema) ist Trägerin der Zeit und von der Zeit getragen. Das Leben zwischen Geburt und Tod »verbiegt« in der Ewigkeit des Seins eine »Welt« (mundum), in der sich das Leben als Werk unseres Willens entfaltet: »… aus der Vorgegebenheit der Schöpfung macht der Mensch die Welt und macht sich selbst zu einem der Welt Zugehörigen.«67
Halten wir die neue Definition des Lebens fest: Das Leben konstituiert die Welt; zur Tatsache, daß der Mensch im Sein geboren wird, dieses bewohnt und liebt, kommt eine zusätzliche Dimension hinzu: die Dimension des Anfangs und des Tuns. Ausgehend vom göttlichen principium führt das menschliche initium zu Geburten und Taten. So verstanden verwandelt das Leben die »Schöpfung« in »Welt«: Gewiß adoptiert das Geschöpf die Welt, mehr noch aber gründet es sie; es findet sie bereits vor (invenire), aber macht sie auch (facere). Aus dieser fruchtbaren Verdoppelung taucht für das menschlichen Dasein die Möglichkeit auf, sein eigenes Sein zu befragen.
Von Arendt aus Augustin abgeleitet, ergibt sich ein neuer Reichtum des Lebens. Als Anfang ist die Geburt auf das zuvor (ante) bezogen, und über sein Ende im Tod hinaus kündigt der liebende Lebende die künftige Dauer an (im Sein, im Ewigen). Das heißt, die Geburt des Menschen bringt ebenso sehr die Zeit wie die Nichtübereinstimmung mit dem Sein hervor, die Quelle von Fragen sind: »Damit ist aber das menschliche Leben wieder hereingestellt in die Umschlossenheit von der Welt und nicht gesehen in dem Zugleichsein mit der Welt. Denn dem post mundum des Entstehens entspricht das Weiterdauern nach dem Vergehen.«68 Dieser neue Sinn des Lebens sei hier betont: Nicht mehr ewiges Glück noch Wiedererinnerung an das Sein Gottes in der Glückseligkeit des Liebenden, ist das Leben von nun an eine Frage. Begrenzt durch das »noch nicht« und das »bereits nicht mehr«, überschreitet das bei der Geburt gegebene Leben, indem es sich befragt, die Welt. Questio mihi factus sum – »Ich bin mir selbst zur Frage geworden«: Die Augustinische Formulierung, die Arendt bis Vom Leben des Geistes69 erkundet, fällt mit dieser Erfahrung der Liebe zusammen, die gleichzeitig mit dem Willen und der Interiorität des Menschen entsteht. Sie tendiert zum Sein (tendere esse), und aus dieser Spannung konstituiert sich das Geschöpf »noch einmal«, nachdem es vom Schöpfer geschöpft worden ist. Nachdem es so vom Sein zum Sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit schreitet, hebt das Leben seinen Grenzcharakter auf.70
Man erkennt hier die Anstrengung Arendts, Augustin lesend den Gegensatz objektiv – subjektiv zu überwinden und die menschliche Freiheit nicht in einer inneren psychischen Disposition festzumachen, sondern im Charakter der menschlichen Existenz in der Welt selbst. Das dem principium folgende initium ist Kennzeichen dieser vorsubjektiven Determination menschlicher Freiheit als »Selbstanfang«, so wie ihn Kant definierte: Weil es einen Anfang gibt, kann der Mensch anfangen; und indem er beginnt, geboren zu werden, bestimmt er sich zu erneuerbaren Geburten, die ebenso viele Akte der Freiheit sind. Die Seiten Heideggers über die »Weltlichkeit« des Daseins sind der Hintergrund für diese Lektüre Augustins71, ebenso wie seine Ausarbeitung über das »Anfängliche«. Arendt läßt sich von ihnen anregen, verleiht jedoch dem Beginn und der Geburt Konnotationen, die dem liebenden Christentum Augustins näherstehen und radikal vom abendländischen Patriotismus der späteren Polemik Heideggers abweichen.72