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Gegen trübsinnige Grübeleien half am besten Bewegung. So setzte er sich wieder in Trab, sobald er die Straße erreicht hatte, und lief unter dem Viadukt hindurch in die angrenzenden Nerotalanlagen. Er wich einer Gruppe Stöcke schwingender Nordic Walkerinnen aus, umrundete in gedrosseltem Tempo einen Schäferhund samt Herren und trabte, statt nach links zu schwenken und in die Lanzstraße einzubiegen, die ihn zu seinem Haus führen würde, weiter geradeaus und inmitten des Parks entlang bis in die Taunusstraße. Eine väterliche Sehnsucht nach Arthur hatte ihn gepackt; ein ungewohntes Gefühl, dem er umgehend nachgehen wollte.
Gewöhnlich war sein Sohn samstags zeitig in seinem Laden, der nun um kurz vor 11 Uhr seit einer Stunde geöffnet war. Doch nur Josef Brunner trat Lutz entgegen. Die hünenhafte Gestalt hielt er wie immer ein wenig vorgebeugt, als wäre so viel körperliche Präsenz einem Kunst- und Antiquitätenhandel unangemessen. Josefs sonst meist zufriedene Miene wirkte angespannt. Trotzdem begrüßte er den Besucher mit freundlicher Zurückhaltung.
»Ist Arthur bei einem Kunden?«
Das wüsste er selbst gern, erwiderte Josef Brunner. Er sei nur zufällig im Laden, weil er seine Tasche vergessen habe. Eigentlich habe er seinen freien Tag. Anstatt seinen Besorgungen nachzugehen, telefoniere er seit einer Stunde hinter Arthur her. Bislang ohne Erfolg.
So besorgt hatte Lutz den Geschäftspartner seines Sohnes niemals erlebt. »Darf Arthur sich nicht einmal verspäten?«
Josef Brunner schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zu ihm. Er hätte mich angerufen. Arthur lässt den Laden nicht im Stich. Du kennst ihn doch!«
Eine Floskel, die Lutz zu denken gab. Was wusste er wirklich über seinen Sohn? Er fragte nach der Studentin, die ab und zu im Laden aushalf. Vielleicht hatte Arthur mit dem Mädchen gerechnet.
Josef Brunner widersprach. »Simone hat einen Job auf dem Weinfest. Sie arbeitet jedes Jahr am Stand ihres Onkels.«
Die Rheingauer Weinwoche ging in die letzte Runde. Nur noch zwei Tage, was Lutz sehr bedauerte. Wie in jedem Jahr hatte er das Weinfest dazu genutzt, seine Kontakte zu pflegen, und sich jeden Abend mit Freunden, Autoren und Geschäftspartnern bei verschiedenen Winzern getroffen und neben den hervorragenden Weinen auch das wunderbare Sommerwetter genossen. Seinetwegen hätte das Fest noch andauern können.
Während sie gemeinsam erwogen, was Arthur aufgehalten haben könnte, schlug die Türglocke an. Eine junge Frau betrat den Laden: Diane Fischer, die Ehefrau des erfolgsverwöhnten Architekten Moritz Fischer. Lutz kannte Moritz, seit er mit Arthur in eine Schulklasse ging, und begegnete dem Ehepaar Fischer hin und wieder bei privaten Einladungen und öffentlichen Veranstaltungen. Das letzte Treffen hatte in der ›Villa Stella‹ stattgefunden, erinnerte er sich nur allzu gut. Zwei Wochen lag das zurück. Die Fischers hatten anlässlich der abgeschlossenen Renovierung ihrer Bauhausvilla eine Reihe von Leuten eingeladen, die sie für bedeutend genug hielten, und auch Lutz Tann auf die Gästeliste gesetzt. Ob er die Einladung seiner Eigenschaft als Wiesbadener Verleger zu verdanken hatte, oder der Tatsache, mit der Galeristin Undine Abendstern liiert zu sein, wollte er nicht abwägen. Die Fischers hatten eines oder zwei Gemälde bei Undine gekauft. An jenem Abend hatte er die Blicke kaum von Diane lassen können. Undine verfügte über genügend Stil, um mit der Szene zu warten, bis sie im Wagen saßen. Seine altbackenen Argumente, sie könne sich die grundlose Eifersucht sparen, Diane Fischer sei eine verheiratete Frau und außerdem viel zu jung für ihn, falls er sich für sie interessieren würde, was er selbstverständlich nicht täte, diese und andere Ausflüchte hatte sie mit dem Einwand weggewischt, Diane Fischer sei für gar nichts zu jung und bestimmt nicht die Frau, die sich von einem Seitensprung abhalten ließe. Er war schließlich zu Fuß in seine Wohnung gegangen, und Undine hatte sich erst nach Tagen beruhigt. Er kannte diese Ausbrüche; sie gefiel sich in der Rolle der Tobsüchtigen und pflegte ihre ungerechtfertigten Angriffe. Haltlos deswegen, weil sie von seinen Affären, die er selbstverständlich immer wieder hatte, nichts wissen konnte. Er war diskret.
Diane Fischer eilte ihnen entgegen. Sie fragte nach Arthur. Lutz erwiderte ihr Lächeln mit gemischten Gefühlen. Er fand sie beunruhigend fraulich und anziehend, und zugleich wirkte sie auf ihn wie ein trotziges Kind. Der Blick ihrer Mandelaugen machte ihn mit jeder Begegnung nervöser. Josef Brunner schien gegen diesen Angriff tiefgründiger Weiblichkeit immun zu sein. Nein, er habe keine Erklärung, wo Arthur sich aufhalte, erklärte er ungerührt.
Diane Fischer schob die Unterlippe vor. »Ich verstehe das nicht. Wir waren verabredet. Arthur hat mir ein paar Bücher versprochen.«
Wie viele Leute mochte Arthur an diesem Morgen versetzt haben? Josef legte die hohe Stirn in Falten. Lutz verabschiedete sich mit der Ankündigung, später noch einmal vorbeizukommen, und verließ das Geschäft. Er ging entlang der Taunusstraße zurück zum Neropark und bog dort nach halber Strecke zu seiner Wohnung ab. Nach dem Tod der Eltern war er wieder in die ›Villa Tann‹ gezogen. Das Haus thronte hoch über der Straße und war nur über eine steile Treppe zu erreichen. Auf der unteren Stufe wackelte eine Steinplatte unter seinem Tritt. Er musste sie dringend befestigen lassen. Lutz seufzte unwillkürlich. Ständig war an der Villa etwas zu überarbeiten. Erst im vergangenen Jahr hatte er die Heizung rundum erneuern lassen. Die 100-jährige Stadtvilla war ein Fass ohne Boden. So sehr er das Haus auch liebte, manchmal wünschte er sich, in einem profanen Neubau zu leben. Aber ein Verkauf kam nicht in Frage. In nicht allzu ferner Zeit würde die Villa seinem einzigen Sohn Arthur gehören, und Arthur müsste für das Erbe der Familie aufkommen wie andere Söhne zuvor.
Mit diesem tröstlichen Gedanken stieg er die Treppe hinauf.
5
Das hochsommerliche Wetter und die Gewissheit, dass die Rheingauer Weinwoche an diesem Samstag in ihren vorletzten Tag ging, ließ die Wiesbadener Bürger und Besucher aus der Umgebung zum neuen Rathaus strömen. Familien und Freunde drängten sich zwischen den Buden, die sich dicht an dicht vom alten Rathaus und entlang des Landtags bis zur Marktkirche zogen, deren rote Backsteinmauern in der Morgensonne wie Kupfer glänzten. Wer an den langen Tischen einen Platz ergattern konnte, gab ihn so bald nicht wieder auf. Hinter dem Rathaus bot der freie Platz des Dernschen Geländes den Verkaufsbuden mehr Raum. Doch auch hier waren bereits die meisten Tische und Bänke besetzt. Das Weinfest galt als beliebter Anlass zu einem Treffen mit Verwandten und Bekannten ebenso wie mit Geschäftspartnern und Kollegen, und man ließ sich den Riesling schon am Vormittag schmecken.
Gegen halb 12 machte man sich in allen Ständen, die Snacks und warme Mahlzeiten anboten, auf den bevorstehenden Mittagsansturm gefasst. Gabi hatte aus der Küche des ›Räuber Leichtweis‹ einen Tagesvorrat an Handkäs und grüner Soße samt der Kartoffeln heranschaffen lassen und zeigte den beiden Studentinnen, wie die Portionen zu verteilen waren, während Norma schon einmal Teller und Besteck bereitstellte. Der Fußboden in Brunos Verkaufswagen lag um drei Tritte erhöht, und so bot sich Norma, wenn sie von ihrer Arbeit aufsah, über die Köpfe der Besucher hinweg ein freier Blick auf den Stand des ›Wiesbadener Kuriers‹ vor den Stufen der breiten Rathaustreppe. Unter den zwei Damen und vier Herren, die zu dieser Stunde im Einsatz waren, hatte sie einen Bundestagsabgeordneten und einen Wiesbadener Galeristen erkannt. Bruno blieben nur noch wenige Minuten, bis sein karitativer Dienst begann. Am frühen Morgen hatte er sich am eigenen Stand blicken lassen und war, wie an den anderen Tagen auch, im Handumdrehen verschwunden, um im ›Parkhof‹ nach dem Rechten zu sehen.
Norma bückte sich nach einer Gabel. Als sie sich wieder aufrichtete, entdeckte sie Bruno auf der Rathaustreppe. Langsam stieg er die Stufen hinunter: Ein behäbig und schwerfällig wirkender Mann, dessen flinke Beweglichkeit man leicht unterschätzte. Am Stand kam es zu einem Gedränge, bis Bruno und seine Kollegen und Kolleginnen auf Zeit die Plätze eingenommen hatten. Die Studentinnen diskutierten tuschelnd, ob die Fernsehredakteurin so attraktiv war wie auf dem Bildschirm.
Bruno lächelte matt und winkte den Menschen ringsherum linkisch zu. Bereits am Morgen war er Norma auffallend unruhig vorgekommen. Nun zeigten seine runden, sonst rötlichen Wangen eine ungewöhnliche Blässe. Unablässig fuhr er sich mit einem Taschentuch über den Nacken. Die Einladung des ›Kuriers‹ erfüllte ihn mit Genugtuung; darin war sich Norma sicher. Aber seine Nervosität ließ sich damit nicht erklären. Etwas anderes musste ihm zu schaffen machen. Fischers Verrat vielleicht?
Für den Architekten wurde es höchste Zeit, seinen Dienst anzutreten. Endlich entdeckte Norma in der Menge die schlanke Gestalt mit den hellen aufgebürsteten Haaren und einem jungenhaften Lächeln. Moritz Fischer eilte dicht an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken – oder bemerken zu wollen – und bahnte sich, unermüdlich um Entschuldigung bittend, gegen den Besucherstrom einen Weg zum Prominentenstand. Dort wurde er von einer Dame hineingebeten. Sie schien von ihrem Gast entzückt. Moritz Fischer war es in den vergangenen Wochen, vor allem dank der ›Villa Stella‹, öfter denn je gelungen, sich ins Gespräch zu bringen. Eilfertig verteilte er Küsschen unter den Damen und reichte den Männern die Hand. Bruno blickte auf seine Finger, als hätte er sich am Herd verbrannt, und würdigte den Architekten danach keines Blickes.
Normas Beobachtungen wurden von einem jungen Paar unterbrochen. Sie nahm die Bestellung auf und richtete zwei Portionen Kartoffeln mit grüner Soße an. Kaum hatte sie die Teller weitergereicht, wurde sie von einem adrett frisierten Lockenkopf angesprochen.
»Hallo, Norma. Wie gehts denn so?«, säuselte Diane Fischer.
Norma durfte sicher sein, an ihrem Wohlergehen war niemand weniger interessiert als Diane. Es musste ihr ein diebisches Vergnügen bereiten, Norma in Brunos Bude schuften zu sehen. Man konnte nicht sagen, dass die elegante Frau nicht arbeiten wollte. Sie war außerordentlich fleißig. Allerdings, wie sie niemals zu betonen vergaß, ausschließlich im schöpferischen Bereich und vorzugsweise im Architekturbüro ihres Mannes Moritz. Für ihre Entwürfe hatte sie zahlreiche Preise erhalten. In die Tat umgesetzt worden war bisher kaum eine der anspruchsvollen Ideen.
»Weißt du, wo Arthur steckt?«, folgte auch sogleich die Frage Nummer zwei.
An deren Beantwortung schien Diane tatsächlich gelegen. Ihre schwarzen Mandelaugen blickten erwartungsvoll. Diese exotischen Augen und das mädchenhafte Gehabe, das Diane mit Anfang 30 zur Perfektion ausgefeilt hatte, gefiel nicht nur Moritz. Auch Bruno war Diane überaus zugetan, ohne damit auch nur eine Spur Ärger aus Fischer herauszukitzeln. In Bruno sah Fischer, der mit seiner Eifersucht gewöhnlich nicht hinter dem Berg hielt, keine Konkurrenz. Auch vor Arthur musste er sich nicht vorsehen. Keinesfalls aus mangelnder Attraktivität, sondern weil Arthur sich von einer Kindfrau wie Diane nicht um den Finger wickeln ließ. Das Mädchengetue gehe ihm gehörig auf die Nerven, behauptete er standhaft.
Diane kräuselte missmutig die Stupsnase. »Weißt du, wo Arthur steckt? Wir hatten uns um 11 Uhr im Laden verabredet. Aber er war nicht da.«
Sie wolle sich einige Bildbände ausleihen, die sie auf innovative Gestaltungsideen bringen sollten, fügte sie mit bedeutungsvoller Miene hinzu.
Norma häufelte einen Schlag dampfender Kartoffeln auf einen Teller. »Vielleicht führt er ein innovatives Kundengespräch.«
Diane musterte die Kartoffeln abschätzig. »Trotzdem könnte er sein Handy anstellen! Das steht sonst immer auf Empfang. Seit gestern Nacht kann ich ihn nicht erreichen.«
Die Bücher schienen ihr sehr am Herzen zu liegen!
Norma versicherte, keine Ahnung zu haben, wo Arthur sich herumtreiben mochte. Sie hatte nicht die Absicht, von dem Streit zu erzählen. Diane wartete unschlüssig ab und schaute zum Kurierstand hinüber, hinter dessen Tresen ihr Mann Moritz eine Weinflasche nach der anderen entkorkte und vor guter Laune zu bersten schien, während Bruno sich untätig in eine Ecke drückte und still vor sich hin schwitzte.
»Bruno mutiert zielstrebig zum fettsüchtigen Grizzly«, murmelte Diane ganz und gar unmädchenhaft. »Wer ist der Mann im Anzug? Sollte man den kennen?«
Der Anzugträger war kurz nach Moritz Fischer eingetroffen. Norma wusste von Gabi, um wen es sich handelte. Sie griff nach einem Putztuch und wischte einen Spritzer Soße vom Tresen. »Das ist ein Vertreter der Stadt Görlitz. Du weißt sicher, dass Görlitz eine Wiesbadener Partnerstadt ist? Die Stadt will bei uns für ihr Altstadtfest werben.«
»Ach so«, murmelte Diane, bereits von der eigenen Frage gelangweilt, und hob die Hand, um mit den Fingerspitzen Moritz zu winken, der seine Frau entdeckt hatte und ihr eine überschwängliche Kusshand zuwarf.
Affig, dachte Norma. Alle beide.
Die jüngere der Studentinnen, der die Unternehmungslust aus den Augen blitzte, mischte sich in das Gespräch. »Ich kenne Görlitz und das Altstadtfest! Das ist ein tolles Event! Alle verkleiden sich mittelalterlich. Irre Kostüme und so! Bringt jede Menge Spaß. Hört ihr das?«
In das Stimmengewirr rings herum, in das Klappern der Teller und Klirren der Gläser mischten sich ein schneller Trommelschlag und die Rufe einer kräftigen Männerstimme. Norma reckte den Hals und spähte zur Marktstraße hinüber. Vom alten Rathaus her näherte sich eine bunte Gesellschaft. Vorneweg schritt ein Mann in grüner Robe, eine Erscheinung, die in Norma die Assoziation ›stattlich‹ weckte. Er bat die Zuschauer mit volltönender Stimme, der Görlitzer Bürgerschar Auge und Ohr zu schenken. Wer das Mittelalter erleben wollte, sollte zum Altstadtfest nach Görlitz reisen, forderte er die Umstehenden auf. Der Junge neben ihm, in einen groben Leinenanzug gekleidet, schwenkte mit konzentriertem Gesicht eine Standarte, auf der ein Adler und ein Löwe abgebildet waren. Dahinter folgte eine muntere Gesellschaft von Mönchen, Mägden, Kaufleuten und anderen robust gekleideten Männern und Frauen. Die Trommler erhöhten die Takte, und dazu erklang eine fröhliche Melodie, von einem blonden Mädchen auf der Querflöte gespielt. Die Weinfestbesucher begannen im Takt der Trommeln zu klatschen und gaben den Weg frei. Diane drückte sich naserümpfend an den Tresen, als ein als Gaukler verkleideter Görlitzer ihr mit einem anzüglichen Grinsen zu nahe rückte.
Angeführt von dem stattlichen Sprecher und dem schmächtigen Standartenträger, näherte sich der Zug dem Aufgang zum Rathaus und drängte sich an den Prominentenstand heran, um den Abgesandten der Heimatstadt zu begrüßen. Brunos rastlose Blicke strichen über die bunte Schar, als suche er jemanden. Von dem Trubel unbeeindruckt, plauderte Moritz Fischer mit der Frau vom Fernsehen. Vertraulich steckten sie die Köpfe zusammen. Die Frau lachte laut. Norma hielt vergeblich nach Diane Ausschau. Fischers Ehefrau hatte ihren Platz verlassen und war nirgends zu entdecken. Als Norma wieder zum Kurierstand blickte, fiel ihr einer der Mönche auf, der aus der Gruppe ausgeschert war und sich von der Seite an den Stand herandrängte. Wie seine Ordensbrüder trug auch er eine dunkelbraune Kutte, die übergroß geschnitten war. Der Saum reichte bis zu den Knöcheln und gab den Blick auf die nackten Füße in Sandalen frei. Die Arme waren bis zu den Fingerspitzen bedeckt, und die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Er näherte sich Fischer und der Redakteurin und sprach sie an. Die Frau beugte sich mit einem fragenden Lächeln zu ihm hinunter. Fischer schaute ungehalten ob der Störung. Der Mönch winkelte den rechten Arm an, und wie auf ein verabredetes Zeichen griff Fischer sich an die Brust. Auf seinem Gesicht malte sich ein ungläubiges Staunen aus. Er riss den Mund weit auf, ein stummer Schrei. Unter der Hand breitete sich ein Fleck aus. Das Hemd färbte sich blutrot. Ein taumelnder Schritt zurück, ein Wanken, und Fischer krachte rücklings gegen das Weinregal. Flaschen polterten zu Boden, Gläser klirrten, und die Redakteurin öffnete den Mund und begann zu schreien.
Fischer sackte in sich zusammen und entglitt Normas Blickfeld.
6
Norma hatte keinen Schuss gehört. Aber Fischers Zusammenbruch konnte nichts anderes sein als die Folge eines Schusses. Aus einer Faustfeuerwaffe. Mit Schalldämpfer. Da war vor ihren Augen ein Attentat verübt worden! Selbst als Polizistin hatte sie ein solches Verbrechen nicht aus unmittelbarer Nähe erleben müssen. Die Zeit schien wie eingefroren. Jede Einzelheit, jedes winzige Detail wurde überdeutlich. Sie sah auf die Redakteurin, deren Mund weit offen stand in fassungslosem Entsetzen. Hörte ihr grelles Schreien. Beobachtete Bruno, wie er sich das blasse Gesicht rieb. Schaute auf die anderen Personen im Stand, die sich in die Ecke stürzten, in die Fischer gefallen war, oder ratlos verharrten. Der Görlitzer Abgesandte hatte noch gar nichts begriffen und beugte sich zu seinen verkleideten Bürgern hinüber, bis er auf einmal spürte, dass etwas passiert war, und sich verunsichert umwandte. Und ihre Blicke suchten nach dem Täter! Sie entdeckte die drei, dann vier Mönche zwischen den Umstehenden, unter denen sich allmählich ein Gedanke ausbreitete. Aus ihrer Mitte heraus war etwas Grauenhaftes geschehen.
Aufgeregte Stimmen wurden laut. Man rief nach der Polizei.
»Ein Arzt!«, brüllte eine Frau mit sich überschlagender Stimme. »Schnell ein Arzt!«
Es war die Betreuerin der Prominenten. Was für ein Albtraum, die Arme, ging es Norma durch den Kopf, während sie hastig nach dem übrigen Mönch Ausschau hielt. Endlich entdeckte sie die in braunes Tuch gehüllte Gestalt beim Marktbrunnen. Der Mörder drängte sich zwischen die Besucher, die von dem Attentat nichts ahnten.
»Es war der Mönch!«, brüllte Norma, so laut sie konnte. »Haltet den Mönch!«
Sofort stürzten sich einige Männer auf die Mönche in der Gruppe, und es entstand ein heilloser Tumult. Norma hastete an der verdatterten Gabi vorbei und sprang auf das Pflaster. Sie lief, das Schimpfen der angerempelten Passanten ignorierend, auf den Brunnen zu und hetzte am alten Rathaus vorbei und in die Marktstraße hinein. Wohin mochte der Mörder fliehen?
In der Gasse herrschte kaum weniger Geschiebe als auf dem Festplatz. Der übliche Betrieb an einem Samstagvormittag. Was für eine Kaltblütigkeit, vor aller Augen einen Mordanschlag zu begehen und dann in einem so auffälligen Kostüm in die Menge einzutauchen!
»War da ein Mönch?«, rief sie den Passanten zu. »Haben Sie einen Mönch gesehen?«
Ratlose, mürrische und gleichgültige Mienen blieben ihr die Antwort schuldig, bis ein Junge die Straße hinauf zeigte. »Er ist da lang!«
In der Ferne waren die Polizeisirenen zu hören.
Im Laufen zog sie das Telefon aus der Hosentasche, drückte den Notruf. »Hier Norma Tann, Ex-Kollegin. Es geht um den Anschlag vor dem Rathaus. Er flieht in Richtung Stadtmitte. Ich verfolge ihn!«
Außer Atem beschrieb sie die Verkleidung.
»Überlass das den Kollegen!«, antwortete eine Männerstimme, die ihr vertraut vorkam. »Der Mann ist bewaffnet! Halte dich da raus, Norma …«
Norma beendete die Verbindung und folgte weiter der Marktstraße, die in die Langgasse, die Haupteinkaufsstraße, mündete. Auf der Kreuzung hatte eine Gruppe afrikanischer Musiker ihr Publikum herbeigetrommelt. Norma zwängte sich zwischen den Zuschauern hindurch, von denen niemand einen Mönch bemerkt haben wollte. Auf gut Glück rannte sie geradeaus weiter und fragte sich durch, bis sie einen neuen Hinweis erhielt.
Eine alte Frau wies mit ausgestrecktem Arm auf einen Hauseingang: »Da iss als einer nei, der wie ein Mönch ausgeschaut hat! Hab noch gedacht, so ein Mann Gottes, der muss auch zum Arzt.«
Norma dankte ihr und stürzte zur Haustür. Die Schilder an der Fassade wiesen auf mehrere Arztpraxen hin. Die Tür ließ sich aufdrücken und führte in ein restauriertes Treppenhaus. Rauf oder runter? Norma entschied sich für die Stufen nach unten und stieß draußen auf einen Hintereingang. Vom Hof aus gelangte man über einen Durchgang in eine verlassene Gasse. Norma hielt zu beiden Seiten Ausschau. In der schmalen Straße lagen keine Läden, die Fußgänger herbeigelockt hätten. Kein Mensch war zu entdecken. Der Mönch war außer Sicht, falls er überhaupt hierher geflohen war. Norma rang nach Luft. Mit ihrer Kondition stand es wirklich nicht zum Besten. Dazu gesellten sich heftige Seitenstiche. Sie blieb stehen und presste die Hand gegen den Bauch, bis die Stiche nachließen. Enttäuscht kehrte sie in den Innenhof zurück. Neben dem Tor befand sich ein Holzschuppen. Vorsichtig zog Norma die Tür auf. Im Schuppen entdeckte sie mehrere Fahrräder. Dahinter türmte sich Gerümpel zwischen einer Reihe von Mülltonnen. Norma riss die Deckel auf. In einer Tonne lag obenauf ein schwarzer Plastiksack, den sie mit spitzen Fingern herauszog. Der Kerl hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Kostüm besser zu verstecken.
Sie wählte wieder den Notruf und beschrieb so gut es ging, wo sie sich befand.
»Bist du in der Hochstättenstraße?«, fragte der Mann an der Zentrale, ein früherer Kollege.
Der Straßenname war ihr nicht eingefallen. Sie bestätigte ihn und fragte hastig nach Moritz Fischer. »War der Notarzt rechtzeitig da? Wird Fischer durchkommen?«
»Dem Opfer konnte kein Arzt mehr helfen«, lautete die lakonische Antwort. »Der Mann ist tot.«
7
Sonntag, der 20. August
Moritz Fischer starb durch ein Projektil des Kalibers 9 mm. Das Geschoss habe sein Herz durchdrungen, hieß es am Sonntagmorgen in den Radionachrichten. Polizei und Stadtverwaltung hätten in Erwägung gezogen, die Rheingauer Weinwoche vorzeitig zu beenden, sich aber nach kontroversen Beratungen dagegen entschieden, berichtete ein Reporter des Hessischen Rundfunks. Spezialisten der Polizei seien zu dem Schluss gekommen, dass man es nicht mit einem Amokläufer zu tun habe. Man rechne nicht mit einer weiteren Tat, wurde erklärt, ohne diese Annahme zu begründen. Die Menschen der Stadt stünden unter Schock, meldete der Journalist mit belegter Stimme.
Trotzdem war das Weinfest an seinem letzten Tag gut besucht; ein Umstand, der Gabi erstaunte, Norma nicht wunderte. Der Tatort eines Mordes übt eine makabere Anziehungskraft aus. Und so wurde der in weitem Abstand abgeschirmte Prominentenstand seit Stunden von Neugierigen umlagert. Viele Besucher brachten Blumen mit, und zur Mittagszeit bedeckte ein Blütenteppich die Stufen vor dem Rathaus.
Gabis Mitleid galt der jungen Witwe. Sie drängte Norma, ihr mehr über Diane zu erzählen. »Du kennst sie doch! Wie mag sie den Tod ihres Mannes verkraften? Hat sie ihn sehr geliebt?«
Ungeachtet ihrer 50 Lebensjahre, von denen sie die meiste Zeit als Bedienung in Kneipen und Restaurants verbracht hatte, schien Gabi wie ein Kind an die heile Welt und die Beständigkeit der Liebe zu glauben. Norma konnte sich nicht vorstellen, dass Diane Fischer außer der eigenen Person ein anderes Wesen als ihr Hündchen, eine kurzatmige Pekinesenhündin, lieben könnte. Moritz Fischer war nicht weniger selbstverliebt. Seine Eifersucht entsprang nach Normas Einschätzung einem reinen Besitzdenken, und er mochte seiner Frau kaum die kleine Cleo gönnen, an der Diane mit einer Affenliebe hing. Diese Meinung behielt Norma für sich. Sie wollte dem Paar nichts Böses nachsagen und Gabi damit verleiten, diesen Klatsch in der Weinstube unter die Leute zu bringen.
Der Polizei gegenüber war Offenheit gefordert. Unmittelbar nach den Ereignissen hatte Norma nur kurz mit ihren ehemaligen Kollegen gesprochen. Am frühen Sonntagnachmittag kam es zu einem ausführlichen Gespräch. Dirk Wolfert und Luigi Milano suchten Norma auf dem Weinfest auf. Ganz und gar in dienstlicher Mission lehnten sie ihre Einladung zu Kartoffeln mit grüner Soße ab und verschmähten selbst ein Glas Wein. Milano wollte lieber einen Espresso, den Norma nicht anzubieten hatte. Sie bat Gabi um eine Pause und begleitete die Kriminalbeamten die wenigen Schritte hinüber zum ›Havanna‹, das dem neuen Rathaus gegenüberlag. Draußen vor dem Eingang waren alle Plätze besetzt, aber drinnen bot das Lokal, eine urige Mischung aus Bar und Café, genügend Auswahl an freien Tischen. Milano strebte am Tresen vorbei in den hinteren Bereich, in dem sie ungestört reden konnten. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, der sich unter der korpulenten Gestalt in ein Kindermöbel verwandelte. Der dünne Wolfert setzte sich seinem Kollegen gegenüber und bedeutete Norma mit einer Handbewegung, zwischen beiden Männern Platz zu nehmen.






