- -
- 100%
- +
Seufzend erhob ich mich aus meinem Sessel, nachdem die Meldung, ich solle bei Eschner vorstellig werden, inzwischen ungeduldig blinkte und auf Kenntnisnahme bestand, ließ den Kaffee-Vanilla allein weiterduften und begab mich mürrisch an meinen Schreibtisch.
Dort fischte ich die Aktenfolie vom Stapel und hielt sie vor den Scanner.
Suzanne Montenièr, 26 Jahre, ledig, keine Kinder, Studentin der Bioinformatik und Historik, las ich da.
Dem zugehörigen Bild aus der zentralen Meldebehörde, inklusive Genmuster-Code und Fingerabdruck zufolge, insgesamt ein smartes Persönchen.
Diagnose. »Verdacht auf paranoide Schizophrenie, Wahnvorstellungen von Fremdbeeinflussung.« Studium geschmissen, Nachbarn mit ihren Vorstellungen, sie würde von fremden Mächten bestrahlt, belästigt, auffälliges Sozialverhalten und zunehmende soziale Isolierung. Das übliche. Schade eigentlich!
Ich blätterte die restliche Akte lustlos durch und fragte mich, warum da so ein Bohei drum gemacht wird? Derartige Fälle sind relativ häufig geworden und kommen direkt nach den Angsterkrankungen von Leuten, die sich nicht mehr aus dem Haus trauen, weil sie befürchten, an der nächsten U-Bahnstation oder im Kaufhaus von einer heimtückisch im Mülleimer hinterlegten Bombe irgendeiner Terrorgruppe zerrissen zu werden. Letztere Erkrankung entbehrte leider nicht einer gewissen Berechtigung, führte aber bei den meisten Menschen nur dazu, dass sie sich in der Öffentlichkeit vorsichtiger bewegten, nicht jedoch das Haus gar nicht mehr verließen.
Außerdem, wer musste außer Post- und Paktetzustellern noch groß das Haus verlassen? Wer dennoch raus ging, etwa um seinen Robohund Gassi zu führen, der hatte schließlich die Security-App, die mögliche Gefährdungsstellen auf dem geplanten Fußweg in Form kleiner Bombensymbole darstellte. Außerdem gab es inzwischen kaum eine größere Straßenkreuzung, keinen Eingangsvorplatz öffentlicher Gebäude, keine Bahnstation mehr ohne die üblichen Videokameras, die deutlich die Präsenz der Polizeigewalt demonstrierten. Und schließlich schleppte jeder irgend ein technisches Gerät mit sich herum, das die Bewegungsdaten kontinuierlich, offen oder versteckt, wie man munkelt, weitermeldete.
Dennoch passierten mitunter diese mysteriösen Anschläge, bei denen es einzelnen Terroristen immer wieder gelang, unerkannt zu verschwinden, nachdem sie unschuldige Passanten ins Jenseits gebombt hatten.
Manchmal bis zu zwei oder drei Anschläge im Monat mit gleichbleibender Tendenz. Auch dazu gab es die passende Terror-App.
Was ich bei diesen diversen Terror- und Gegenterrorgruppen bis heute nicht verstanden habe, war, warum sie es meist auf die Oma von nebenan, die Schulkinder einer Grundschule, die Besucher von Kaufhäusern oder Theaterveranstaltungen, also unschuldige, unbeteiligte Menschen abgesehen hatten, jedoch nie Parlamentarier oder Chefetagen von großen Konzernen ins Visier ihres Zorns nahmen, die, wenn überhaupt jemand, für das ganze gesellschaftliche Durcheinander eher verantwortlich waren.
Sei's drum.
Ich nahm mir die Akte nochmals vor, die ich schon lustlos auf de. »Akteneingang« zurückgeworfen hatte, und ließ mir die letzte, die gelbe Auftragsseite anzeigen, wo genauere Angaben zur Art der Kontaktaufnahme ausgeführt waren und der Untersuchungsauftrag präzisiert wurde.
Das Kreuzchen war vo. »Kontaktaufnahme vor Ort, da Einladung mehrmals erfolglos« gesetzt, gefolgt von mehreren Daten derartiger vergeblicher Einladungsversuche.
Ich frage mich immer wieder, weshalb es immer noch Handakten gibt, wo doch letztlich alles im PC bearbeitet werden muss? Aber derartige Fragen stellt man in einer Bundesbehörde besser nicht, um sich nicht die Aufstiegschancen zu vermasseln.
Vorgehensweise, Doppelpunkt, 4a, rot unterstrichen, mehrere dick gemalte Ausrufezeichen, Unterschrift, i.V. Dr. med., Dr. phil., habil. Eschner!
Ich schaute erschüttert nochmals auf die Unterschrift, aber es war kein Zweifel möglich, da stand Eschner! Vor meinen geistigen Ohren erschallte ein dämonisches, boshaftes nachhallendes Gelächter aus einem zahnlosen nach Schwefeldampf stinkenden Mund.
Ich spürte das dringende Bedürfnis, fünf Liter Wasser auf einmal zu trinken, um genug Saft in der Blase zu haben, um ihm an die Bürotür zu pinkeln, wenn ich nun zu ihm ging,.
Der Code: 4a bedeutet nämlich nichts anderes, als. »Nähere Anweisungen vom Abteilungsleiter entgegen nehmen, vertraulich.«
Dies hieß, aus meiner Bürotür zu treten, zu der feindlichen Tür des Dr. Dr. Eschner zu gehen und zu klopfen. Zu warten, weil durch die schalldichten Türen keine Antwort zu vernehmen ist, nochmals zu klopfen, wieder zu warten, dann die Türklinke vorsichtig herunter zu drücken, in devoter Haltung vorsichtig den Kopf zum Zimmer hinein zu stecken, um sich darauf gefasst zu machen, unwirsch nach draußen gewinkt zu werden, weil der feine Herr gerade etwas höchst Wichtiges zu erledigen hat, etwa sich die Fingernägel zu feilen, ein Telefongespräch mit jemand sehr, sehr Hohem zu erledigen oder sonst was.
Ich spürte, wie sich mein schlecht verheiltes chronisches Magenleiden wieder bei mir meldete.
Üblicherweise ist es so, dass man einen Klienten, den man zu begutachten hat, einfach einlädt, ins Amt zu kommen. Dieser erscheint entweder allein, wenn die seelische Erkrankung es zulässt, oder in Begleitung eines Angehörigen oder Betreuers, wenn die Erkrankung schwerer zu sein scheint.Sinn der Überprüfung ist es, das Ausmaß der seelischen Störung zu beurteilen und zu entscheiden, ob der- oder diejenige soweit keine Gefahr für die Allgemeinheit oder sich selbst darstellt, ob alle therapeutischen Maßnahmen ergriffen wurden, derer man heute mächtig ist, und ob eine vertiefte rehabilitative Maßnahme notwendig sein wird, um das gewünschte Ergebnis, nämlich die aktive Teilnahme an der digitalen Interaktion, dem sozialen Leben und dessen Verpflichtungen oder gar dem Berufsleben zu ermöglichen.
Nur in wenigen Ausnahmefällen bewegt man seinen Amtsarsch aus dem Sessel und sucht den Klienten in seinem Wohnumfeld auf. Dies tut niemand gerne, wird auch nicht besonders honoriert, kostet Zeit und Nerven, insbesondere wenn man sich in die Niederungen des unteren sozialen Milieus begeben muss. Noch seltener wird ein Klient gar mit polizeilichen Mitteln gesucht und vorgeführt, so dass ein Weg in die Verwahrungspsychiatrie notwendig wird. Dort geht es zumindest etwas manierlicher zu, jedenfalls für den Gutachter.
Seit der Einführung der allgemeinen Impfpflicht und insbesondere den zunehmenden Terroranschlägen wurden die Definitionen, ab wann jemand zu begutachten sei, etwas erweitert und das Berufsbild des medizinisch-psychiatrischen Gutachters zum ‚Sozialpsychiatrischen Gesundheitsberater‘ umdefiniert. Ein eigener Weiterbildungsberuf mit all dem üblichen Pipapo, wie Seminaren, Weiterbildungszeiten in akkreditierten Bereichen und Prüfungen. In dieser Mühle befand ich mich seit anderthalb Jahren.
Die Aufgaben umfassten nun zusätzlich das einfühlsame Zugehen auf Menschen, denen man nicht eindeutig eine anerkannte psychiatrische Erkrankung unterstellen konnte, sondern eine gewichtige oder vermutete Feststellung einer sozial schädlichen Gedankenwelt.
Dazu bedurfte es natürlich neuer Befragungsmethoden, damit die betreffenden Personen sich nicht stigmatisiert fühlten und sich lauthals protestierend an die Medien wendeten. Nicht, dass diese begierig darauf gewesen wären, derartige Protestschreiben abzudrucken, aber um die allgemeine Lage, die bereits durch die andauernde Terrorgefahr belastet war, nicht noch mehr zu eskalieren, kehrte man derartige Dinge lieber unter den Teppich.
Es wurde daher in den letzten Jahren zunehmend notwendig, Menschen aufzusuchen, die glaubten, sich wider besseres Wissen der notwendigen Massenimpfung gegen die seit einigen Jahren grassierende Zoga-Virusepidemie entziehen zu müssen, und deren geistigen Zustand festzustellen, wie auch Menschen, die sich aggressiv in Blogs oder Kommentaren im Netz zu Wort gemeldet hatten. Das machte wenig Spaß, da man als Gutachter ode. »Controller«, wie man verächtlich im Volksmund betitelt wird, weniger soziale Anerkennung erhielt, als vielmehr auf unverhohlene Ablehnung stieß und schlecht unterdrückte Aggressionen aushalten und seelisch wegstecken musste. Man musste sich also ein dickes Fell anschaffen.
Ganz anders verhielt es sich jedoch in diesem Fall, bei dieser Suzanne Montenièr. Hier lag offensichtlich ein deutliches Missverhältnis vor im Vorgehen zwischen der offensichtlichen psychiatrischen Erkrankung, die eine Wahnerkrankung nun einmal ist, und der Art und Weise, wie dieser Fall eingetaktet worden war.
Noch mysteriöser wurde es, als von ihm, kaum war ich wenige Minuten vor meinem PC, eine dringliche Anfrage mi. »höchster Priorität«, rotes Ausrufezeichen, per Netz kam, in der er sich tatsächlich herabließ, mich zu duzen.
»Lieber Kollege Levi, komm doch mal bitte kurz zu einer Besprechung der Sonderakte Montenièr zu mir rüber. Die Sache eilt etwas!«
Ich gebe zu, dass ich es langsam angehen ließ. Mit einem Mal entdeckte ich den Reiz alter, verstaubter Aktendeckel aus dem letzten Jahrhundert in meinem antiken Aktenschrank wieder. Auch schienen mir die Aktenordner in meinen Regalen ungebührend unordentlich aufgereiht zu sein. Dies korrigierte ich, indem ich die Fronten millimetergenau zueinander ausrichtete, bis ein einheitliches Bild der Oberflächen entstand. Auch fand ich hinter den Akten größere Staubschichten, die ich wegen fehlender Arbeitsmittel mittels eines Papiertaschentuches beseitigte. Ich habe viele Aktenschränke! Hier und da entdeckte ich sogar jahrelang verschollen geglaubte Vorgänge wieder oder welche, die von der alphabetischen Ordnung so sehr abwichen, dass sie erst zurücksortiert werden mussten.
Erst als die dritte Eilmeldung im PC mit eine. »Pling« ihre Anwesenheit bekannt gab, schlenderte ich langsam zu Eschners Büro rüber, klopfte flüchtig und trat sofort mit einem vor meinem Spiegel sorgfältig einstudierten kameradschaftlichen Lächeln ein.
»Was gibt's altes Haus?«
Immerhin hatte sic. »mein lieber Kollege Konrad Eschner«, nachdem ihm zuerst kurz die Gesichtszüge entgleist waren, als hätte ihm ein Schlaganfall das Kleinhirn ausgeschaltet, relativ schnell wieder im Griff und wies mir mit säuerlicher Miene einen Platz auf seinem Besucherstuhl zu.
Was er darauf folgend eröffnete, gab mir noch einige Stunden später reichlich Stoff zum Nachdenken. Erst einmal stellte er fest, dass es keinen geeigneteren Menschen im ganzen Amt gebe als mich, diese Begutachtung durchzuführen. Da hätten bei mir schon alle Alarmglocken klingeln sollen! Ich stand allerdings zu sehr unter Anspannung, als dass ich entspannt hätte nachdenken können.
Die Art und Weise, wie er mir Honig ums Maul strich, strafte er allerdings durch seinen das genaue Gegenteil ausdrückenden Gesichtsausdruck wiederum Lügen.
»Wie kommt denn diese Akte auf meinen Schreibtisch?«, fragte ich nach. »Sie ist offenbar nicht auf dem normalen Dienstweg bei mir abgelegt worden.«
Eschner lehnte sich gewichtig zurück, betrachtete eine Weile seine Fingernägel und erhob sich dann.
»Sie kommt eigentlich aus dem Referat Sicherheit«, hob er an. Auf meinen verwunderten Blick hin fügte er schnell hinzu. »Das bleibt natürlich alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Ich hoffe, dass ich auf deine Diskretion vertrauen kann?!«
»Diskretion, weshalb?«
»Die Dame steht unter Beobachtung und man fragte mich, wen ich für geeignet hielte, Kontakt mit ihr aufzunehmen.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Und da fielst du mir natürlich ein!«
»Aus alter Verbundenheit!«, setzte ich ironisch hinzu.
Er lächelte ein malignes Lächeln. »Aus alter Verbundenheit, selbstverständlich!«
Ich spürte, wie bei mir alle Wahnlämpchen anfingen zu leuchten.
Noch merkwürdiger erschien mir die Herangehensweise an den Fall. Es wurde Wert darauf gelegt, dass die Annäherung an die Klientin in mehreren Phasen verlaufen sollte. So eine Art zufälliges Zusammentreffen, das von mal zu mal vertieft werden sollte, damit die Dame nicht misstrauisch wurde.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte ich ihn verblüfft. »Es ist eine Schizophrene, da muss man doch nicht mit geheimdienstlicher Beflissenheit vorgehen!«
Er gab zu, dass ihn das auch ein wenig gewundert habe, allerdings habe er Andeutungen vo. »ganz oben« erhalten, dass nicht die Frau selber, sondern ihr Umfeld Probleme bereiten könnte.
Wer das sein soll. »ganz oben?«, fragte ich. »Ich verstehe nicht, was diese Andeutungen sollen? Was heißt das Umfeld könnte Probleme machen? Sind das Rocker, Terroristen, Radikale oder Pestkranke?«
Er verzog seine Miene derart gekünstelt in Richtung Mitgefühl, dass ich ihm hätte spontan auf die hochglanzpolierten Schuhe kotzen können.
»Wenn ich nicht an völlige Geheimhaltung gebunden wäre, würde ich dir liebend gerne Auskunft darüber geben, aber leider ....« Er vollendete den Satz nicht, sondern setze sich wieder bequem in seinen Chefsessel. »Zum dortigen Referat haben nur wenige Zutritt, musst du wissen.«
»So wie du!«, ergänzte ich, bemüht ruhig zu klingen.
Er unterdrückte ein selbstgefälliges Grinsen, lehnte sich verschwörerisch nach vorne und flüsterte mit gesenkter Stimme. »Also hör zu. Es scheint, dass einige Abteilungen sehr beunruhigt sind, weil die Klientin nicht nur schizophren sein soll, sondern sich auch auf eine eigenartige Art und Weise der Überwachung entzieht.«
»Überwachung?«, fragte ich verwundert nach.
»Naja, du weißt schon. Eigentlich sollte sie irgendwo wohnen. Offiziell tut sie das auch, aber dort ist sie nie anzutreffen. Daraufhin wurde man aufmerksam auf diese Person und begann sie zu überwachen, Terrorgefahr, du verstehst?«
»Eine Verrückte?«, gab ich ungläubig zurück.
»Warum nicht, meinst du, die Terroristen wären alle ganz klar im Oberstübchen?«, konterte er.
Das deckte sich auch mit meiner Einschätzung. »Und weiter?«, forschte ich.
»Es stellte sich heraus, dass auch die im öffentlichen Raum zulässigen Mittel und auch die weniger offiziellen Mittel, wie Arm-Pad-Überwachung, nicht dazu führten, lückenlos heraus zu bekommen, wo sich diese Person aufhält. Sie scheint sich immer wieder in Luft aufzulösen.«
»Echt?«, fragte ich erstaunt. Es war mir natürlich bereits klar, dass die inoffizielle Überwachung entgegen aller offiziellen Versionen breite Anwendung findet, insbesondere als ich durch einen Zufall herausbekam, dass jedes Handy zwei Leitungen gleichzeitig benutzen kann, eine offizielle Gesprächsleitung und eben eine weitere, die ohne Wissen des Teilnehmers funktioniert.
»Und?«, regte ich ihn zu einer weiteren Erklärung an, da er mich abwartend anschaute.
»Es scheint in ihrem Umfeld Leute zu geben, die eine Technik anwenden, die sie vor Überwachung wirksam schützt. Das ist natürlich für die Abwehr von potentiellen Gefährdern ein großes Problem.«
Das verstand ich.
»Aber was habe ich damit zu tun?«, versuchte ich, nun langsam Licht in die Angelegenheit zu bringen.
»Man war der Ansicht, es wäre am unauffälligsten den üblichen Routineweg zu gehen. Einen Gutachter erwartet man ja in solchen Fällen und daher erregt dieser bei einem eventuell gefährlichen Umfeld am wenigsten Verdacht.«
Mir wurde ein wenig mulmig. Was aber, wenn das möglicherweise gefährliche Umfeld nun auf die Idee kam, mich einfach wegzubomben?
»Dafür bin ich zu deinem Schutzpatron ernannt worden«, gab er grinsend von sich.
»Ich kann dir auch nur versichern,« nickte er. »dass ich dich so gut wie möglich mit Rat und Tat unterstützen werde, wenn du nicht zurechtkommen solltest.«
»Firma dankt!«, erwiderte ich frostig.
Im Rausgehen rief er mir noch nach. »Ich kann mich auf dich verlassen, ja? Denk dran, die Sache eilt!«
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich an Einzelheiten bezüglich des Rückweges zu meinem Zimmer wirklich erinnern kann. Ich war damit beschäftigt, über die vielen Ungereimtheiten nachzudenken, als mein Arm-Pad angeplingt wurde. Raskovnik, einer meiner wenigen Bekannten im Amt, lud mich ein, kurz einmal in der Cafeteria vorbeizuschauen. Erfreut drehte ich auf dem Absatz um und erlaubte mir den kleinen Umweg durch das Erdgeschoss.
Raskovnik ist ein merkwürdiger Mitmensch. Er passt so gar nicht ins Amt. Offenbar ist er jedoch genauso hier gestrandet wie ich. Sein Vater soll ein hohes Tier bei der Uno gewesen sein. Das war, bevor die Eurasische Union zwischen Russland und China, Tuanti Sojus, kurz TUS, die militärische und wirtschaftliche Schwäche der USA nach deren strategischer Niederlage im Nahen Osten ausnutzte und die Hebel der Macht an sich riss. Zurück blieb eine ausgebombte, radioaktiv verseuchte und unbewohnbare vorderasiatische Region, mit der wirklich niemand mehr etwas anfangen kann und eine durch innere Konflikte auseinanderfallende Rest-USA, die Western Union, die im Weltgeschehen praktisch bedeutungslos geworden ist.
In diesem Verlauf wurde die UNO als nutzlos und zu kostspielig aufgelöst. Raskovnik's Vater floh offensichtlich in die TUS, wo er jedoch keine wesentliche Funktion mehr innehatte und sein Sohn, Vladic Raskovnik, versumpfte hier im Amt ohne Aussicht auf eine nennenswerte Karriere. Dennoch hatte er bei der besagten Abteilung für Gefährdung und Sicherheit eine unbedeutende, jedoch gesicherte Tätigkeit als Dolmetscher erstreiten können, auch wenn er unter ihrer Leitung nicht ganz glücklich zu sein schien.
Er wirkt ein wenig phlegmatisch, trotz des Stiernackens und seines fast quadratischen Körperbaus, was einem Ringer mehr entspräche als einem Sesselpfurzer. Allein die senkrechte Falte über seiner Nasenwurzel und sein verschlossenes, wortkarges Auftreten lassen den geschulten Psychiater die mühsam beherrschte Wut ahnen, die diese Seele peinigen muss. Dennoch, Raskovnik sprach gleich von Anfang an eine Seite in mir an, die ihm meine Zuneigung sicherte. Ihn traf ich häufiger in der Cafeteria. Auch wenn es nie zu einem tiefer gehenden Gespräch kam, so plingte er mich des Öfteren an, nur um mir ein paar belanglose Worte zu simsen.
Hinzu kam, dass auch Raskovnik als Mitarbeiter der Sicherheit ei. »Grauer« ist und dass er mir gegenüber im Laufe der Monate seinen Klarnamen erwähnte, was einen eklatanten Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen darstellt, zeigte mir, dass unsere Sympathien wechselseitig sein müssen. Kurz und gut, ich freute mich nach dem Gespräch mit Eschner vielleicht ein paar Hintergrundinformationen von ihm zu erhalten. Umso mehr wunderte es mich, dass er sich, wie ich mich erinnere, nur auf wenige Sätze beschränkte, nachdem ich ihm kurz die Zusammenhänge erläutert hatte.
»Levi, sei auf der Hut vor Eschner! Da scheint eine riesige Sauerei im Amt zu laufen. Ich versuche heraus zu bekommen, woher der Wind weht. Ich melde mich bei dir!« Damit verließ er die Cafeteria eilig, ohne sich noch einmal nach mir umzuschauen.
Ich verbrachte den Rest des Tages vergeblich damit, meinen Bearbeitungsrückstand bezüglich der offenen Fälle zu verringern. Schließlich gab ich es trotz blinkender Warnhinweise wegen der Bearbeitungsdauer längst überfälliger Akten und tiefrot im Minus verweilender PC- Zeiten auf und beschloss, für heute Schluss zu machen, zumal auch keine Termine zur persönlichen Begutachtung mehr eingetragen waren. Ich bestellte per App ein AuTaX, eine automatische Fahrkabine, die die Funktion früherer Taxis übernommen hat, zum Amt.
Nachdem ich am Ausgangsterminal meinen Daumenabdruck und meine Iris gescannt hatte und ich erfolgreich ausgeloggt war, umfing mich feuchtkühler Nachmittagsnebel. Das AuTaX wartete bereits in der Haltebucht, so dass ich es mit dem Chip am Fingerring aktivieren konnte.
Ich zögerte kurz, wählte dann aber nicht meine Wohnadresse, sondern das italienische Bistro im benachbarten Park am See und legte mich entspannt zurück, als das AuTaX lautlos seine Fahrt aufnahm. An mir floss der dichte Personenverkehr mit viel Lärm und Gestank vorbei, während ich auf meiner AuTaX-Spur problemlos das Chaos neben mir zurückließ.
Ich fragte mich, wann es wohl gelingen werde, das vor 20 Jahren begonnene AVS-System endlich zu realisieren. AVS ist die Abkürzung für ‚Automatisiertes Verkehrssystem‘. Die Idee war ja nicht schlecht, alle innerstädtischen Fahrzeuge automatisiert und vor allem elektrisiert und auf Mietbasis zu betreiben. Keine lästige Parkplatzsuche mehr, keine verstopften Straßen, keine Staus. Leider stehen zwischen einer Idee und deren Verwirklichung die Dämonen der Verwaltung und auch des Besitzstanddenkens. Nicht nur die Autoindustrie zeigte sich eher schwerfällig, denn es sollten ja letztendlich keine privaten Pkw mehr auf die Straße, sondern statt dessen automatisierte Fahrkabinen, die auf Anforderung das gewünschte Fahrziel ansteuern. Auch die Verkehrsbehörde hatte massive Bedenken und torpedierte das Projekt, wo sie konnte. Übrig blieb vorerst nur die AuTaX-Fahrspur für automatisierte Taxikabinen, die in allen größeren Straßen realisiert worden war, immerhin. So fließt denn der führerlose Taxiverkehr weitgehend ungestört neben intelligenten Autos, die dennoch ständig irgendwelche Unfälle verursachen, und dem herkömmlichen Personenverkehr dahin, mit dem Ergebnis größtmöglicher Ineffektivität. Ich verzichte gerne auf den Besitz eines prestigeträchtigen Pkws, wenn ich so für die Überbrückung einer normalen Fahrstrecke nur ein Drittel der sonst üblichen Zeit benötige. Ganz zu schweigen von den öffentlichen Verkehrsmitteln, die inzwischen zu reinen Sicherheitsrisiken geworden sind und nur noch vo. »Mobb« benutzt werden.
Als der Verkehr ruhiger wurde, in dem Maße wie ich mich dem westlichen Außenbezirk näherte, entspannte sich auch mein strapaziertes Gehirn etwas. Für mich gibt es immer noch nichts Erfreulicheres als in dem kleinen Bistro am See zu sitzen und meine Gedanken schweifen zu lassen. Heute am frühen Nachmittag war hier noch nicht viel los. Ich checkte mittels Chip ein und ließ mir vom Getränke-Bot einen altertümliche. »Cafe Latte« servieren, setzte mich bequem in den Liegesessel vor die Monitorwand und schaltete das sommerliche Seeambiente dazu, denn der reale See lag derzeit im vorwinterlichen Graubraun. Sogleich erblühten die kahlen Bäume in virtueller Blätterpracht, zwitscherten längst ausgestorbene Vogelarten und wehte ein angenehmer, nach frischem Grün riechender Duft heran.
Was für ein Tag!
Mit einem Seufzer setzte ich das Kaffeeglas ab und schaute mich nach den wenigen Anwesenden um. Einige saßen mit ihren Virtual-Reality-Brillen ruhig in ihren Sesseln, andere machten es wie ich und benutzten nur den Monitor. Der in die Sessellehne eingebaute Screen zeigte nur eine Person an, die gesprächsbereit gewesen wäre, aber ich beachtete diesen Hinweis nicht, sondern schaltete mich auf offline.
In Gedanken ließ ich die heutigen Ereignisse Revue passieren. Alles, aber auch alles war bislang an diesem Tag merkwürdig. Ich schien plötzlich in höchst beunruhigende Ereignisse verwickelt, die eine unangenehme Vorahnung in mir hinterlassen hatten, ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe in mir erzeugten, ohne dass ich hätte sagen können, wovor ich Angst bekommen hätte. Einerseits drängte es mich, den Fall Montenièr lieber zurückzugeben, andererseits spürte ich auch eine zunehmende Neugierde, geradezu eine Abenteuerlust, mich in dies Unternehmen zu stürzen. Denn abenteuerlich ließ es sich ja bereits an. Ich musste mit jemandem sprechen, nur leider war in meinem Privatleben auf fast allen Kanälen Sendepause. Meine Frau Iris hatte sich in ihren Beruf verabschiedet und dort eine neue Beziehung angefangen. Meine Tochter Clarissa schied ebenfalls aus, ich wollte sie nicht in die Probleme der Erwachsenenwelt hineinziehen. Sie saß derzeit zwischen allen Stühlen und zog es vor, tagsüber lieber in Ruhe ihr Telestudium zu absolvieren. Ohnehin wusste sie derzeit nicht, ob sie Fisch oder Fleisch sein sollte, da sowohl die Pubertät als auch die Trennung von meiner Frau sie in eine schwierige Situation gebracht hatten. Sie meldete sich so gut wie überhaupt nicht mehr bei mir, und wenn, dann nur um Forderungen an mich zu stellen. Das schmerzte.
Die Kyperbekanntschaften waren erwiesenermaßen genauso fleischlos wie unverbindlich, mein psychiatrischer Supervisor schied momentan aus, weil... weil... Er schied eben aus. Ein Psychobot tat es auch manchmal, wenn man die Erwartungen, die man an ein Gespräch mit einem Computerprogramm hatte, nicht zu hoch ansetzte. Ich schaltete die Musik ein, Vivaldi, das beruhigte mich sonst immer. Aber anstatt ruhiger zu werden, wurde ich immer nervöser, bis ich mich schließlich dabei ertappte, dass ich wie ein Maschinengewehr mit den Fingern auf das Terminal tackerte. Auf dem Screen öffnete sich ein Fenster, in dem das Gesicht einer hübschen Frau zu sehen war, die freundlich nach meinem Befinden fragte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, lächelte sie ein professionelles Lächeln. Leider weiß man nie, ob das Gesicht eine Computersimulation ist oder ein reales Abbild. Ich tat so, als wäre mir das im Moment egal. »Nicht dass ich wüsste, danke.«