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»Tut mir leid, aber könnten Sie den Namen falsch ausgesprochen haben?«
»Raskovnik, nein absolut nicht! Ich habe sogar eine Nachricht in der Eingangsbox, warten Sie!« Ich war gerade im Begriff mein Handgelenks-Pad zu aktivieren, als mir einfiel, dass es nicht da war. In diesem Zusammenhang fielen mir plötzlichen wieder mein Auftrag und andere Dinge ein, das französische Restaurant, der Wirt und irgend so ein bulliger Boxer, der mich wohl ins Jenseits befördern wollte.
Erschöpft ließ ich mich wieder zurück sinken. »Könnte ich bitte eine Schmerztablette bekommen?«
Die Securitydame klingelte nach dem Pfleger, der wohl schon vor der Tür gestanden haben musste, dem Tempo nach zu urteilen, mit dem er gleich ins Zimmer stürmte.
Ich dachte über ihre Worte nach, während ich den Becher mit Wasser leerte, den er mir hinhielt, um die Tablette zu schlukken. Natürlich, durchzuckte es mich. »Er ist ein ‚Grauer‘!«
»Ein bitte was?«
»Ein Grauer, er ist nicht offiziell aufgeführt. Ein Geheimdienstler!«
Der Art, wie sie versuchte, ihre Augenbrauen hochzuziehen, was wegen einer Botoxliftung offenbar nur unvollständig gelingen mochte, entnahm ich, dass sie mir nicht glaubte.
Sie räusperte sich vernehmlich. »Wir werden das nachprüfen. Was wollten Sie denn nachts in diesem Viertel, Herr Krongold?«
Die Art, wie sie meinen Namen aussprach, als habe sie auf etwas Saures gebissen missfiel mir eindeutig. Dennoch beschloss ich, es mit einer wahrheitsgemäßen Antwort zu versuchen.
»Ich wollte etwas essen!«
»Nachdem Sie sich bereits etwas aus dem Nutri-Shop nach Hause bestellt hatten?«
»Woher...?«
»Wir haben Nachforschungen angestellt!«, antwortete sie triumphierend, als habe sie gerade einen berufsmäßigen Lügner überführt und erwartete deshalb eine Beförderung.
»Sie glauben mir nicht?«
»Sagen wir es einmal so, vielleicht fällt Ihnen noch eine bessere Antwort ein!«
Ich wurde langsam ungeduldig, was sich unangenehm auf meine Kopfschmerzen auswirkte.
Erschöpft ließ ich mich in mein Kopfkissen zurücksinken.
»Ich arbeite an einem Fall und habe versucht eine Klientin dort ausfindig zu machen«, versuchte ich es nochmals mit der Wahrheit.
»Eine Klientin? Dort? Nachts? Nach Dienstschluss?«, fragte sie, jedes Wort wie einen Pfeil auf mich abschießend.
»Ja!«, antwortete ich pampig.
»Finden Sie das nicht auch ein bisschen ... seltsam?«
Zugegeben, wenn ich es mir recht überlege, fand ich es auch ungewöhnlich, wenn nicht sogar eigentlich völlig meschugge. Wie hatte ich mich nur auf einen derartigen Quatsch einlassen können?
»Raskovnik hat mich darum gebeten ...«, versuchte ich eine Rechtfertigung, merkte aber, kaum dass ich die Worte ausgesprochen hatte, dass ich einen kapitalen strategischen Fehler gemacht hatte.
»Raskovnik? Ja? Der, wie sagten Sie noch, ‚Graue‘?« Sie sah mich mit demselben schrägen Blick an, den man geflissentlich aufsetzt, wenn man am Verstand seines Gegenübers ernsthaft zweifelt, dies jedoch aus taktischen Gründen nicht offen aussprechen möchte.
Wie um diesen Blick noch verbal zu unterstreichen setzte sie noch nach. »Raskovnik, den es in Ihrem Amt nicht zu geben scheint.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Sie sind Psychiater, nicht wahr?«, fuhr sie gnadenlos fort.
»Wie Sie wissen.«
»Sie sind mit der Untersuchung der geistigen Zurechnungsfähigkeit von Menschen beschäftigt, die eine Gefahr für die Allgemeinheit sein könnten, nicht wahr?«
Ich zog es vor, nicht zu reagieren, sondern starrte statt dessen trotzig auf den Monitor an der Wand.
»Wann war denn ihr letzter Gesundheits-Check up, ihre letzte Personaluntersuchung?«
»Was soll das heißen?«, fuhr ich hoch.
»Wann?«, wiederholte sie und ihr Blick bekam etwas Lauerndes.
»Soweit ich mich erinnere vor einem Jahr ...«, versuchte ich mich zu erinnern.
»Vor 13 Monaten«, korrigierte sie mich.
»Wenn Sie es wissen, warum fragen Sie dann?«
»Ich stelle hier die Fragen!«, herrschte sie mich an.
»Wou«, entgegnete ich. »ich liebe dominante Frauen!«
»Die Scherze werden Ihnen gleich vergehen, Herr Krongold! Wann war ihre letzte Impfung gegen das Zoga Virus?«
»Sagen Sie es mir?«
»Es hätte vor zwei Monaten sein sollen. Warum sind Sie nicht hingegangen?«
Ehrlich gesagt, mochte ich dieses Impfgedöns nicht besonders. Es regte sich, aller medizinischen Einsicht zum Trotz, bei mir immer Widerstand, wenn etwas zwangsweise durchgeführt wurde. Natürlich kannte ich die Statistiken zu Genüge. Eine hundertprozentige Sicherheit, nicht an diesem heimtückischen Virus zu erkranken, gab es nicht, aber eine Durchimpfung der Bevölkerung um die 80 Prozent garantierte zumindest, dass Epidemien, wie die vor einigen Jahren in Südamerika, wenn es auch nur der brasilianische Dschungel war, nicht mehr vorkommen würden.
Damals waren mehr als zwei Millionen Menschen von der Seuche befallen, litten an diesen Symptomen, die ein Absterben der Hirnsubstanz zur Ursache hatten, sowie völliger geistiger Verblödung, schließlich Ausfall aller vegetativen Zentren im Körper und grauenhafter qualvoller Tod infolge stetigen Verfalls des Nervensystems. Damals wurde befürchtet, dass die Seuche sich explosionsartig über die ganze Welt ausbreiten würde, was nur dadurch verhindert werden konnte, dass man die gesamte brasilianische Bevölkerung durch den glücklicherweise eilig erzeugten Impfstoff immunisierte und entsprechende Impfzentren an Bahnhöfen und Flughäfen einrichtete. Ein Riesengeschäft für den Pharmakonzern.
Seither herrschte staatlich angeordneter Impfzwang in fast allen Ländern der Erde. Bürger aus Ländern, die nicht mitmachen konnten, erhielten keine Reiseerlaubnis oder wurden teils mittels drakonischer Strafen zur Impfung gezwungen. Obwohl die Datenlage über die Ausbreitung der Seuche, die punktuell immer wieder an verschiedenen Punkten auftrat, mehr als dürftig war, galten die Impfgegner als staatsgefährdend und wurden mit Entzug der Bürgerrechte bestraft. So konnte Kritik erst gar nicht in größerem Maße entstehen. Dummerweise hielt die Impfung lediglich maximal zwei Jahre und musste dann aufgefrischt werden.
Ich selbst hatte zwar in meinem Studium und meiner späteren Klinikzeit noch nie einen am Zoga-Virus Erkrankten gesehen, konnte aber alle Aspekte der Erkrankung theoretisch runterbeten. Und die Symptome waren alles andere als angenehm. Ich hätte also bereits der ersten Aufforderung zur Auffrischimpfung nachkommen sollen, hatte es aber bewusst oder unbewusst ‚vergessen‘, bis heute.
»Sie wissen, dass Ihnen dies nicht nur den Job kosten könnte?«
»Ich werde es nachholen«, seufzte ich ergeben.
»Worauf Sie sich verlassen können!«, zischte sie. »Was wollten Sie also wirklich in dem Viertel?«
Mir war klar, dass ich mit der Wahrheit nicht weiterkam. Aber welche Ausrede fiel mir ein, die die Dicke zufrieden stellen konnte?
Statt dessen sprach sie weiter. »Ich sag Ihnen, was Sie dort wollten! Sie wollten mit einem terroristischen Netzwerk Kontakt aufnehmen..!«
»Ich bitte Sie, das ist absurd!« Meine Empörung war echt.
»Wie erklären Sie es dann, dass mit dem Guthaben Ihres Kontos offenbar Waffen und Munition angeschafft wurden!«
»Wie bitte?«, fuhr ich hoch, was mein Kopf mir trotz der Schmerztablette sehr übel nahm.
»Wir haben den Weg Ihrer Quians durch das Netz verfolgt, obwohl versucht wurde, es durch vielfältige Umbuchungen über Deckadressen zu waschen. Es landete, Sie dürfen raten wo..!«
Ich war viel zu schockiert, um antworten zu können.
»Im Sudan, bei einer Rebellengruppe.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«, stotterte ich fassungslos.
Sie war aufgesprungen und schrie mich an. »Es ist mein verdammter Ernst! Und wenn Sie Bürschchen mir weiter solche Märchen auftischen wollen, dann werden Sie mich kennenlernen!«
Damit entschwand sie aus dem Raum und der Knall der zufliegenden Tür schoss mir fast ein Loch ins Hirn.
Ich kann nicht behaupten, dass mich diese Szene kalt gelassen hätte. Eine dumpfe Vorahnung von den übelsten Komplikationen keimte in mir auf, die sich später nur zu sehr bestätigen sollten. Vorerst tanzte vor meinen inneren Augen nur ein überdimensionale. »0 Quians« einen wilden Tango auf meinem geistigen Display. Wenn sich tatsächlich jemand meiner Chips bedient hatte, um Geld von meinem Konto abzuheben, dann musste er seltsamerweise auch den Übermittlungsschlüssel außer Kraft gesetzt haben, was bei der heutigen Technologie, die auf der Quantensicherung und einem Gen-Code beruht, eigentlich komplett unmöglich wäre. Und dass ich selbst in einem umnachteten Zustand Geld an Rebellengruppen im Sudan überwiesen haben sollte, war komplett ausgeschlossen. In was für eine Schweinerei war ich da hineingeraten? Aber es sollte noch dicker kommen, viel dicker!
Später, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit die Zimmerdecke angestarrt hatte, meldete sich der Screen mit einer Videonachricht. Eine Krankenschwester kündigte den Impftermin an, ich solle mich bereit halten. In der Zwischenzeit sollte ich die Kontaktdaten von meinem Rechtsanwalt herausfinden, um eine juristische Vertretung für meinen Fall zu beauftragen. Fü. »meinen Fall«? Jetzt war ich von einem medizinischen Fall schon zu einem juristischen Fall upgegradet worden? Das war wohl ein schlechter Scherz!
War es nicht.
Es half auch nicht, dass ich an die Vernunft meines Gegenübers in Form eines weiteren und wohl ranghöheren Sicherheitsbeamten, der mich noch vor der angedrohten Nachimpfung aufsuchte, appellierte. So meine Argumentation: Wieso sollte ich mich einer sudanesischen Rebellentruppe anvertraut haben und mich als Belohnung anschließend verprügeln lassen?
Er antwortete mit einer traurig ernsten Miene, die jedoch nicht mir galt, sondern offenbar Bestandteil seines Gesichtes war, ‚Das sei zwar alles sehr unschön, er müsse nun einmal von den Fakten ausgehen und die sprächen eindeutig gegen mich‘.
Welche Fakten bitte?
Erstens, so zählte er an seinen Fingern auf, sei ich unmotiviert nach meiner beruflichen Tätigkeit angeblich zufällig in diese berüchtigte Gegend gekommen, um angeblich zu speisen, obwohl ich nachweislich bereits Essen für den Abend geordert hatte. Noch dazu, weil, zweitens, ein angeblicher Geheimdienstmitarbeiter, der nachweislich nicht existierte, mich dazu aufgefordert habe. Drittens sei mit dem Geld, und zwar nicht nur dem Guthaben auf meinem Konto, sondern bis zur Ausschöpfung des gesamten Überziehungsrahmens, über verschleierte Umwege Geld an Rebellen zwecks deren Bewaffnung geflossen. Und das eindeutig mit meinem Gen-Code und unter Verwendung des modernsten Sicherheitsschlüssels, so dass eine unbeabsichtigte oder durch Dritte verbrecherisch durchgeführte Transaktion undenkbar sei. Viertens weise meine Impfverweigerung darauf hin, dass ich das Gemeinwohl nicht sehr ernst nehme und möglicherweise sogar sabotieren wolle. Das seien die Fakten. Warum und weshalb es zu den anschließenden Verletzungen bei mir gekommen sei, sei trotz meiner engagierten Aussage, die überprüft werde, in den Bereich der Spekulation einzuordnen und leider ohne jeglichen Belang.
Angesichts dieser erdrückenden Beweislage zog ich es beinahe vor, die Waffen zu strecken. Es fiel mir schwer, ihm nicht eine gewisse Logik in seiner Sichtweise zu bescheinigen.
»Halt, Moment mal! Warum fragen Sie nicht unseren Dienststellenleiter, der wird ihnen wohl alles erläutern können!«, hoffte ich ihn überzeugen zu können.
»Das haben wir bereits veranlasst, obwohl derzeit nur sein Vertreter Herr Dr. Eschner zu erreichen ist. Er gab an, dass er sich ihr Verhalten auch nicht erklären könne und einen Mitarbeiter namens Raskovnik kenne er auch nicht.«
An dieser Stelle fiel mir der Unterkiefer runter. Dieser Kotzbrocken! Dieser Widerling, dieser, dieser...! Erschöpft ließ ich mich auf mein Kissen zurücksinken. De. »Oberwachtmeister« verabschiedete sich traurig, nachdem er mir mitgeteilt hatte, ich müsse verstehen, dass ich zur Zeit unter Haft stehe und das Krankenzimmer nicht verlassen dürfe, bis ein Richter über mein weiteres Schicksal entschieden habe.
Er notierte eifrig den Namen meines Anwaltes in sein Pad und verließ das Zimmer, nicht ohne mir einen Blick zuzuwerfen, mit dem man üblicherweise nur seinen todkranken Dackel beerdigt.
In meinem Kopf spielten die Gedanken ‚Fang mich‘. Man sollte doch besser auf sein Bauchgefühl hören. Das hatte mich eindeutig vor dem ganzen Fall gewarnt! Ich dachte über meine momentanen Möglichkeiten nach und konnte sie ohne große statistische Überlegungen überschlagsmäßig als null bezeichnen. Das Bild von Frau Montenièr fiel mir wieder ein bzw. ihre Augen. Genau diese Augen waren es wohl, die mich in das ganze Schlamassel gerissen hatten, neben meinen übermäßigen Gefühlen der Rachsucht gegenüber Dr. Dr. habil Arschloch Eschner.
Buddha hat wohl doch recht gehabt vor über zweieinhalbtausend Jahren, dass nur die Beherrschung der Leidenschaften und üblen menschlichen Neigungen ins Land der Glückseligkeit führt. Da klopfte ganz zaghaft die leise Stimme einer Erinnerung an mein gestauchtes Hirn. »Geh da weg, Suzanne!«, tönte ein feines Stimmchen in meinem Ohr. Wie hieß die Montenièr noch mit Vornamen?
Suzanne?
Suzanne!
Sollte das ein Zufall sein?
Ein Gedanke begann von verschiedenen Enden meiner Hirnwindungen ein eigenartiges Netz zu spinnen, dessen Fäden ich noch nicht genau sortieren konnte. Leider unterbrach das Geräusch einer sich öffnenden Tür die Suche nach einem Sinn gerade in dem Moment, als ich das Gefühl hatte, kurz vor einer Erleuchtung zu stehen.
Herein kam die Kollegin aus der Seuchenabteilung unseres Amtes mit dem Injektionsapparat in der Hand und beide riefen wir synchron die Worte. »Sie hier?« aus.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie verblüfft und bemüht, nicht allzu entsetzt auszusehen.
»Ich bin Terrorist, Impfverweigerer und Häftling...«, grinste ich sie bösartig an. Ihre Gesichtszüge gefroren einen Moment, als sie versuchte, die Situation zu erfassen. Humor war wohl nicht ihre Stärke. Allerdings war der meine auch mehr von Verzweiflung geprägt als von echter Freude.
»Und Sie?«
Ihre Hand zitterte leicht, doch sie versuchte ihre Anspannung tapfer zu verbergen.
»Ich, ich habe Notdienst heute.«
Ach ja, die armen Kollegen von der Seuchenabteilung mussten ja tatsächlich ärztlichen Notdienst schieben. Das hieß allerdings, dass jetzt sowohl nach Dienstschluss als auch Wochenende sein musste. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich weder die genaue Uhrzeit noch den Wochentag wusste, den die Welt außerhalb dieses Zimmers beging. Immerhin zeigte mein wiedererwachtes Interesse an Ort und Zeit meinem geschulten Geist an, dass ich langsam aus der Agonie aufzutauchen begann und wieder am aktuellen Leben Anteil nehmen wollte. Sie trat zögerlich an mich heran, als fürchte sie, gleich Opfer eines tödlichen Überfalls meinerseits werden zu können.
»War nur ein Scherz, Frau Kollegin. Ich hab einfach den Impftermin verschwitzt. Zu viel unerledigte Akten, wissen Sie?«, beruhigte ich sie. Das mit den unerledigten Akten schien sie zu kennen, denn ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht.
»Ach so, und ich dachte schon...«
»Nein, nein, aber ehrlich gesagt, genau das wirft man mir hier vor.«
Sie zögerte wieder, etwas unsicher geworden.
»Haben Sie denn die Impfcharge schon individualisiert?«, fragte ich sie, um sie ein wenig abzulenken.
»Oh, ja, natürlich, sonst wäre sie ja nutzlos.«
Die Zeiten der ungezielten Massenimpfungen waren ein für allemal vorbei, als sich endlich herausstellte, dass die bis daher vertuschten Impfzwischenfälle meist an einer ungünstigen Genkombination beim Impfling mit dem Impfstoff lagen. Das Immunsystem reagiert nämlich sehr individuell auf den Impfschaden, der durch eine Impfung immer gesetzt wird. Bei ungünstigem Zusammenwirken bestimmter Gen-Typen mit dem abgetöteten Impferreger kommt es eben mitunter zu individuellen Überreaktionen mit einer Schädigung des Impflings, teilweise mit tödlichen oder auch lebenslangen Nebenwirkungen. Daher wurde der Zoga-Impfstoff mittels Gen-Check individualisiert, bevor er verabreicht wurde. Das heißt, bestimmte Komponenten wurden weggelassen oder verändert. Die Zahl der schwersten Nebenwirkungen konnte auf diese Weise deutlich reduziert werden und die Industrie war nicht mehr genötigt, ungünstige Impfreaktionen zu verheimlichen. Anhand des Gen-Codes, der auf jedem Chip hinterlegt war, war dieses Verfahren inzwischen reine Routine.
»Woher haben Sie denn meinen Gen-Code, mein Chip ist mir leider entwendet worden?«, fragte ich daher vorsichtshalber. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke, dies wurde bereits aufgrund Ihrer Daten vorgenommen. Dr. Eschner hat ihn persönlich freigegeben.«
Ich zuckte zusammen. »Eschner?«
Sie nickte ganz selbstverständlich. »Natürlich, er ist doch der Abteilungsleiter. Der Impfstoff steht doch unter Verschluss.«
»Ach, ja?«
»Natürlich, er muss doch individualisiert werden.«
»Aber haben Sie das auch überprüft?«, fragte ich sie. Diese Frage löst in ihr eine Kette bürokratischer Überlegungen aus. Ihre langjährige Erfahrung sagte ihr wohl, dass sie jeden Schritt der Impfung peinlich genau im Protokoll hinterlegen und kontrollieren musste. Sollte ihr ein Versehen unterlaufen, konnte dass für ihre eigene Karriere unangenehme Folgen haben. Deshalb achteten alle Mitarbeiter des Amtes darauf, zumindest die Krankenakte formal in Ordnung zu halten, was nichts anderes heißt, als die notwendigen Eintragungen vor oder nach einem peinlichen Zwischenfall vorzunehmen. Für den Richter zählte nur das, was auf dem Papier stand, in positiver wie negativer Auslegung.
»Ich habe es abgezeichnet«, antwortete sie ein wenig zu schnell.
»Frau Kollegin, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber wie Sie wissen, arbeiten wir im selben Metier. Haben Sie es auch überprüft?«
Aus der Rötung, die ihr Gesicht annahm, entnahm ich, dass dies wohl nicht der Fall war.
»Natürlich, aber Ihnen zuliebe mache ich es gerne nochmal!«, versuchte sie ihr Gewissen zu bereinigen.
»Ja, tun Sie das bitte«, forderte ich sie auf. Da ich ihr seelisches Gleichgewicht nun schon einmal erschüttert hatte, wagte ich mich zum zweiten Schritt vor.
»Sagen Sie mal, Frau Kollegin, Sie kennen doch auch den Kollegen von der Sicherheit, der immer in der Cafeteria sitzt, dieser leicht phlegmatische, wissen Sie, wen ich meine?«
Sie schaute mich einen Moment fragend an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich gehe eigentlich nie dorthin.«
»Einen Raskovnik?«, versuchte ich es weiter. »Er ist von der Sicherheitsabteilung.«
Sie überlegte. »Meinen Sie vielleicht Herrn Svatousek? Marek Svatousek? Der kam neulich mit Eschner zu uns runter. Er wirkte irgendwie auch so zurückhaltend. Er hat kein Wort von sich gegeben, nur immer so merkwürdig geschaut.«
»Nein, ich meine Raskovnik, Vladic Raskovnik!«
»Nein, nie gehört, tut mir leid.«
Ich legte mich in mein Bett zurück und starrte sie fassungslos an.
»Nie gehört?«, fragte ich nach.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sie sich. »Sie sind plötzlich so blass geworden.«
»Ach, wissen Sie, ich habe gestern einen üblen Überfall erlebt, deshalb liege ich jetzt auch hier.«
»Gestern? Sie liegen doch schon drei Tage hier, soweit ich weiß«, sagte sie erstaunt.
»Drei Tage? Welcher Tag ist denn heute?«
»Sonntag, wissen Sie das denn nicht?«
Irgendwie hatte ich wohl jetzt die Reste ihres ärztlichen Mitgefühls geweckt. »Na, Sie scheinen ja ordentlich was abbekommen zu haben?«
»Scheint so!«, antwortete ich und fasste mir unwillkürlich an die verbundene Stirn.
»Ich werde noch mal den Impfstoff überprüfen. Ihnen zuliebe!«, beruhigte sie mich. Während sie die Chargenummer und den Gencode auf der Impfampulle mit den Angaben im Screen verglich, versuchte ich, das innere Gleichgewicht wieder zu erlangen. Wie war das möglich, dass sich Vladic plötzlich in Luft aufgelöst zu haben schien?
Erleichtert, wie mir schien, meldete sie die völlige Übereinstimmung beider Nummern.
»Darf ich?«, fragte sie höflich, bevor sie die Impfpistole an meinen Arm ansetzte.
»Nur zu, ich hab ja nichts dagegen, ich hab es nur verschwitzt.« Es zischte kurz und ein dumpfer Schmerz zeigte an, dass die Mikrokapsel mit dem Depotimpfstoff unter der Haut appliziert worden war. »Den Arm jetzt zwei Stunden nicht stark belasten, keinen Sport und keine berauschenden Getränke...«, begann sie ihren Routinetext abzuspulen. Kicherte dann jedoch selbst ein wenig, als sie sich des Widersinns dieser Bemerkungen bewusst wurde.
»Versprochen!«, gab ich müde lächelnd zurück und schaute ihr sinnend nach, als sie sich schnell verabschiedete.
Ich war völlig geplättet, und das lag nicht nur an der Immunreaktion, die der Impfstoff in den ersten Minuten seiner Inkorporation auslöst, ein grippeähnliches Gefühl mit Gliederschmerzen und allgemeiner Mattigkeit.
Daher wunderte es mich auch nicht, als ein routinemäßig herbei beorderter, übellaunig gestimmter Richter in Zivil mir mitteilte, dass ich vorerst in Haft bliebe, deshalb mit den üblichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zurechtkommen müsse, als da wären digitale Fußfessel, Einschränkung des persönlichen Kontos, Meldepflicht bei Beauftragung eines AuTaX und Aufhebung des kryptographischen Schutzes meiner Netzaktivitäten bzw. ohnehin Einschränkung des Zuganges und so weiter blablabla.
Ich unterzeichnete digital, die juristische Aufklärung verinnerlicht zu haben und mit drakonischen Strafen einverstanden zu sein, sollte ich mich eines Verstoßes gegen die Auflagen schuldig machen.
Und es wunderte mich auch nicht weiter, als am nächsten Tag der von mir angegebene Rechtsanwalt ohne rechtes Engagement nochmals die vorliegenden Beschuldigungen und meine Aussagen dazu zu Protokoll nahm, mir hoch und heilig versprach, sein Bestes zu tun, um mich aus der misslichen Lage zu befreien und etwas verstimmt das Krankenzimmer wieder verließ, als ich ihm andeuten musste, dass in diesem Fall meine Rechtsschutzversicherung wohl nicht eintreten würde, was sie eigentlich nie tut, wenn es sich um Fälle handelt, die üblicherweise vorkamen und eigentlich der Sinn solcher Versicherungen sein sollten. Auch besserte sich seine Stimmung nicht gerade, als ich ihm eröffnen musste, dass ich, wie die Dinge so standen, derzeit als zahlungsunfähig angesehen werden musste.
Meine eigene Stimmung verbesserte sich dadurch jedoch auch nicht. Denn eigentlich fühlte ich mich nackt und in einem Maß aus dem Sozialleben gerissen, wie ich es nie zuvor erlebt hatte.
Immerhin wies ein Sozialarbeiter, der in diesen Fällen hinzugezogen werden muss und den ungewöhnlich altmodischen Namen Erwin trug. »Hallo ich bin Erwin, wir können uns duzen!«, darauf hin, dass die PC-Punkte, die ich sammelte, wenn ich fleißig online sei, auf mein persönliches Konto übertragen werden könnten. Besonders, fügte er verschwörerisch hinzu. »Wenn du die Werbeblocks nicht vorzeitig wegklickst, sammelst du sowas von Punkte, ganz im Vertrauen. Brauchst ja nicht die ganze Zeit hinzuschauen.«
Der Typ ging mir eindeutig auf die Nerven, zumal es ihm nicht einging, dass ich nicht vom ihm geduzt werden wollte und somit der letzte Rest meiner Würde vor die Hunde ging.
»Die Gesichtserkennung?«, gab ich zu bedenken. »Was ist mit der Gesichtserkennung, die kontrolliert, ob du in den Bildschirm schaust oder woanders hin guckst?«
Da hatte er mir unter dem Siegel der Vertraulichkeit zu verstehen gegeben, dass man einfach ein zweites Programm in einem parallelen Frame aufmachen muss, in dem das läuft, das man eigentlich sehen möchte, das würde dann nicht stören.
Ich dankte ihm herzlich, weil ich ihn loswerden wollte.
Sei. »Ich werde dich alle zwei Tage aufsuchen, damit wir die Auflagen erfüllen, allerdings meist über den Screen. Wir können dann alles weitere besprechen!«, löste bei mir Mordlust aus.
»Ich freu mich drauf!«, log ich, insbesondere weil ich seinen Tipp mit den zwei Fenstern gedachte bei ihm direkt selbst auszuprobieren. So verabschiedeten wir uns vordergründig herzlich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.