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Die Verabschiedung aus meinem Krankenhausgefängnis verlief hingegen unerwartet unspektakulär. Nach bereits zwei weiteren Tagen fühlte ich mich soweit wiederhergestellt, dass mein Kreislauf sogar die stehende Position einigermaßen aushalten konnte. In Ermangelung eines Chips und eines Arm-Pads hatte ich beides in Form eines vorläufigen Applets au. »Knastbasis« erhalten, sprich mit eingeschränkten Funktionen.
Der Sozialstaat ist bis heute insoweit intakt, dass er noch nicht rechtskräftig verurteilten Verdächtigen ein Mindestmaß an sozialem Komfort zugesteht, insbesondere wenn es sich um bisher unbescholtene Bürger mit höherem sozialen Status wie mich handelt. Insofern war die Haft erträglich, konnte sie doch weitgehend von zuhause erledigt werden. Ich hatte jedoch auch den Verdacht, dass meine erfreuliche Bewegungsfreiheit, die man mir trotz des Terrorverdachtes zugestand, nicht ganz uneigennützig sein könnte, weil man vielleicht hoffte, ich könnte die Sicherheitskräfte eventuell zu wichtigen Kontakten führen, die ich bislang nur heimtückischerweise erfolgreich verschwiegen hätte.
Nur Erwin war nicht abzuschütteln. Er verfolgte mich wirklich auf Schritt und Tritt, wenn auch nur virtuell. Seine unrasierte Visage gratulierte mir zur Haftentlassung ebenso wie beim Verlassen des Sicherheitstraktes. Er war der Ansprechpartner, als ich ein AuTaX nach Hause bestellen wollte, er oder sein ebenso unrasiert wirkendes virtuelles Abbild gab die Freigabe bei der Eingabe der Zielkoordinaten des Gefährts, sendete das Okay bei der Abbuchung der Transaktionsgebühr für den Fahrpreis, protokollierte den Eingangscode in mein Appartement und loggte sich auch beim Gebrauch des Netzcomputers mit ein. Mit einem Wort, er war nach kurzer Zeit für mich ein noch größeres Übel als Dr. Dr. habil. Arschloch Eschner. Er wurde zu einer ernsten seelischen Bedrohung für meinen ohnehin bereits angeknacksten seelischen Zustand. Ich begann mich nach dem Tag meiner Gerichtsverhandlung zu sehnen und mir sogar ernsthaft meine Verurteilung zu wünschen. Paradiesisch stellte ich mir die Einsamkeit meiner dunklen Einzelzelle vor. Allerdings war ich mir durchaus bewusst, dass dies ein Zerrbild der Wirklichkeit war, denn bei meinen beruflichen Besuchen in derartigen Hafteinrichtungen erlebte ich, dass von Romantik dort keine Spur zu finden war. Im Gegenteil wurden die Häftlinge, soweit sie psychisch dazu noch in der Lage waren, zu den stupidesten Tätigkeiten gezwungen, die der Reintegration in die Gesellschaft dienen sollten, meist aber in die Abgeschiedenheit des Wahnsinns mündeten.
Schon wenige Stunden nach meinem Wiedereintritt in den häuslichen Orbit erwartete mich auf meinem Mail-Server die Mitteilung, dass ich bis auf Weiteres von meinen beruflichen Tätigkeiten entbunden sei und ich sogar das Verbot zur Kenntnis nehmen müsse, dass ich das Amt bis zur Aufklärung meiner Angelegenheit nicht aufsuchen dürfe.
»Kenntnisnahme dieser Mitteilung durch Daumenabdruck und Irisscan bescheinigen!« Ich kann zwar nicht sagen, dass ich dies zuerst als einen tragischen Schicksalsschlag empfunden hätte, die Kränkung, die dies beinhaltete, nagte jedoch einige Tage an mir. Mit einem Mal wurde mir die Fragilität meiner bürgerlichen Existenz bewusst. Nur durch die tägliche Routine vom Selbstmord abgehalten, schlug jetzt die Tatenlosigkeit, zu der ich verurteilt war, umso härter auf mein Gemüt. Niemand, mit dem ich hätte mein Leid teilen können außer einem Psychoprogramm. Keine Person mit natürlicher Körperwärme in der Umgebung, mit der ich hätte zumindest streiten können. Nur die eigenen inneren Feinde, unausgelebte Dialoge mit den verhasstesten Personen, die nach kurzer Zeit begannen, ein munteres Eigenleben zu führen. Erschwerend kam hinzu, dass die Schuldenlast mir zunehmend Sorgen über meine Zukunft bereitete, auch wenn sie unverschuldet durch Ausrauben meines Kontos entstanden war. Der Überziehungskredit lag bleischwer auf dem Limit. So sind die Zahlen auf meinem Konto, auch wenn sie einen geringen taktilen Reiz haben, doch ein wichtiger Anker meines Selbstbewusstseins und meines Stolzes, ja integraler Bestandteil meiner gesellschaftlichen Rolle und Wertigkeit. Nach wenigen Tagen begann ich auf den Monitor zu stieren wie ein enthirnter Affe in der Hoffnung, einige PC-Payback-Quians anzusammeln und so teilweise in echtes Geld zu verwandeln, um meine Schuldenlast dadurch zu minimieren. Der soundsovielte Anruf bei meinem Rechtsverdreher, wann endlich mit einem Fortgang der Anklage gerechnet werden konnte, verhallte unbeantwortet, bis ich schließlich die leicht genervte Reaktion bekam, auch wenn ich persönlich zweimal täglich ins Anwaltsbüro käme, könne der Fortgang der Ermittlungen gegen mich nicht anwaltlich beschleunigt werden. Er riet mir, einfach abzuwarten. Außerdem müsse die Kostenfrage noch geklärt werden. Es folgten zwei Tage, an denen ich nicht einmal das Licht anschaltete, sondern es vorzog, bewegungslos in der Dämmerung zu sitzen, zumal auch die Fenstermonitore ausgeschaltet blieben. Ich wollte weder virtuelles Wellenrauschen, fröhliche Frühlingslandschaften noch andere irgendwie stimulierende Visionen der Wirklichkeit vorgespiegelt bekommen, ich wollte mich nur einfach bedauern können und mich so richtig mies fühlen.
Dann begann mit einem Mal mein Körper zu schmerzen. Erst war es ein feiner, ziehender Schmerz in einigen Muskeln der Arme und Beine, oder des Nackens und des Brustkorbs. In Ermangelung anderer Stimuli vertiefte ich mich in diesen Schmerz, bis er meine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch genommen hatte. Ich kam zu der Überzeugung, ein schweres Rheumaleiden sei zum Ausbruch gekommen. Jedes Gelenk, welches ich bewegte, erzeugte einen scharfen ziehenden Schmerz, der nur langsam wieder abklang. In meinem Kopf bewegten sich dann stundenlang nur wenige unsinnige Worte hin und her, wie auf einer Schiffsschaukel. »Geh da weg Suzanne!« Immer wieder dieser Satz, bis ich völlig erschöpft einschlief. Ich wusste nicht mehr, ob es Tag und Nacht war, wann ich zuletzt etwas gegessen oder getrunken hatte, als mich mein Arm-Pad unsanft aus meiner Lethargie weckte. Erwin war diesmal persönlich auf dem Screen zu sehen.
»Hallo Levi, wie geht es?«
Ich starrte die verhasste Visage an und konnte mir gerade noch verkneifen, ein ‚Leck mich‘ auszusprechen. »Ich bin krank!«, jammerte ich statt dessen.
»Können wir helfen, wir haben uns schon über deine Inaktivität gewundert.«
»Ich glaube, ich werde sterben«, jammerte ich weiter.
»Du hast eine Isolationskrise, Levi, das ist ganz normal in deiner Situation.«
»Das ist beruhigend.« Ja, das war es wirklich.
Irgendwo in meinem Inneren erwachte plötzlich der Mediziner wieder, der bestätigte, dass dieser bescheuerte Erwin tatsächlich recht haben könnte. Depressionen gehen recht häufig mit unerklärlichen körperlichen Schmerzzuständen einher. Und ich war knatschdepressiv, fürwahr.
»Wir haben einen Ferncheck deiner Vitalfunktionen vorgenommen. Du leidest etwas an Wassermangel, aber sonst scheint alles okay zu sein.«
»Danke Doktor«, murmelte ich.
»Hör zu Levi, ich bin nicht dein Feind, ich bin Sozialarbeiter und es ist nicht meine Aufgabe, dich zu foltern, sondern dich zu betreuen. Für die Auflagen, die man dir auferlegt hat, bin ich nicht verantwortlich...«
»Sprich mich nicht immer mit ‚du‘ an!«, schrie ich auf einmal los und schlug mit der flachen Hand auf den Monitor. Erwin blieb einige Sekunden stumm. Selbst auf dem kleinen Monitor war zu erkennen, dass er etwas aus der Fassung geraten war. Dann kam ein zögerliches, fast fragendes. »Okay?!«
Ich machte eine erschöpfte Pause. Es war ja auch schließlich egal. Alles war egal. »Ach, scheiß drauf!«, ließ ich mich vernehmen.
»Nein, nein, ist schon okay. Wir können es so machen«, stimmt er zu. »Ich sage, Herr Krongold und Sie. Ist völlig okay.«
Plötzlich stiegen meine Sympathiewerte für ihn ein wenig an.
»Aber ich bestehe darauf, dass Sie mich Erwin nennen.«
»Warum?«
Er grinste schmal. »Erwin ist mein Pseudonym, darum.«
Ich schluckte, was völlig überflüssig war, da sich meine Kehle völlig ausgetrocknet und rau anfühlte. Ich hatte mich wiederum zum Affen gemacht.
»Also, Herr Krongold, wir sehen, dass Sie Unterstützung benötigen.«
»Wir?«
»Natürlich, ich bin Mitarbeiter eines Teams und mit der Analyse Ihrer Daten beauftragt, neben Ihrer Betreuung.«
Scheiße.
»Ich soll Sie fragen, ob Sie zu Ihren Verbindungen mit dem fraglichen Personenkreis noch Angaben machen möchten? Wohlgemerkt, ich soll Sie fragen!«
Daher wehte also der Wind! Zuerst wollte man mich durch Isolierung mürbe machen, um dann um so leichter noch Informationen aus mir rauszuquetschen. Eine feine Gesellschaft.
»Dann sagen Sie ihrem Team, dass ich bereits alles gesagt habe, mich völlig unschuldig fühle, weder mit Terroristen oder sonst noch mit anderen -isten zu tun habe und die Herrschaften mich am Arsch lecken können!«
»Ist es recht, wenn ich den letzten Teil Ihrer Aussage weglassen?«, meinte er fein säuerlich.
»Tun Sie, was Sie wollen«, knurrte ich.
Es folgte eine kleine Pause, während der er wohl in seinen Monitor starrte und ich ebenso bemüht war, nicht auf das Pad zu schauen.
»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«
»Nur zu«, knurrte ich.
»Ich schicke Ihnen eine Relaxations-App auf den Heimmonitor und Sie lassen mal ein wenig locker?«
Als ich nicht sogleich antwortete, fügte er etwas leiser hinzu. . »Gibt einige Bonuspunkte bei der Beurteilung Ihres Verhaltens während der Haft.«
»Danke«, gab ich nun etwas weniger giftig zurück. Im Grunde genommen war meine Haltung ziemlich pubertär, entschied ich. Ich sollte mich zusammennehmen.
»Sorry! Ich werde sie mir anschauen«, fügte ich etwas versöhnlicher hinzu.
»Fein. Das freut mich. Wirklich.« Er schaltete ab. Vielleicht war er ja doch nicht so ein übler Kerl.
Eine Weile ließ ich noch die Dunkelheit in mir nachwirken. Immerhin hatte diese Auseinandersetzung meine Lebensgeister wieder etwas geweckt. Ich musste mich zusammenreißen, wenn ich nicht völlig versumpfen wollte. Initiative ergreifen. Ich schaltete den Monitor im Wohnraum wieder ein, auf dem die Nachricht aufblinkte, dass eine neue Applikation auf den Download wartete. Ich gab das okay, ging zum Kühlschrank und entnahm dort mit dem Chip einen isotonischen Drink aus dem Vorratsfach. Der Kühlschrank meldete, dass der Vorrat auf eine verbleibende Einheit geschrumpft war und bat darum, eine Neubestellung absetzen zu dürfen. Bei Abnahme des praktischen Einführungsangebots zusammen mit einem neu eingeführten Erfrischungsgetränk könne mir auf die Erstbestellung ein 10%iger Rabatt gewährt werden. Bei Gefallen wäre auch zum einmaligen Werbepreis das Jahresabonnement für 30 Dosen im Monat zum Vorzugspreis. »Zahle 11 bekomme 12 Monate«, möglich. Da ich davon ausging, dass der Staat dies bezahlen würde, drückte ich ausnahmsweise di. »Jetzt kaufen«-Taste. Leider klappte sofort danach eine Meldebox auf, die mir anzeigte, dass diese Order im Moment nicht möglich sei. Brummend schleppte ich mich auf meinen Liegesessel und startete die App.
Es erwartete mich eine kitschige tropische Strandlandschaft, mit Meeresrauschen, nur selten unterbrochen von einigen wohlgemeinten Motivationssätzen und Entspannungsformeln. »Bitte schauen Sie ganz ruhig und entspannt auf den Monitor und denken Sie einfach einmal an nichts. Lassen Sie alle Sorgen los. Lassen Sie alle Gedanken ziehen, wie die Wolken am Himmel.« Der Monitor zeigte träge dahinziehende Schönwetterwolken über endlosem türkisblauem Meer. »Lassen Sie die Muskulatur ihres Kiefers und der Wangen locker, atmen Sie tief ein.« Merkwürdigerweise begann ich mich nach und nach trotz der mich langweiligenden Autosuggestionen langsam etwas besser zu fühlen. Als Erstes verschwanden allmählich die merkwürdigen Muskelschmerzen, was ich eigentlich erst bemerkte, als ich mir eine zweite Dose Iso-Drink genehmigen wollte und das Aufstehen aus der Liege ohne den erwarteten reißenden Gelenkschmerz vonstattenging. Unsicher testete ich alle Bewegungen, die ich eine Stunde vorher noch sorgfältig vermieden hatte. Es blieb dabei, der Schmerz zog sich freiwillig aus den Tiefen meines Bewusstseins zurück. Erfreut nahm ich einen neuen Anlauf. Die App zeigte inzwischen eine blühende Almwiese, so eine, die es heute nirgendwo anders mehr gibt als in alten Kinderbüchern oder Dokumentarfilmen von vor hundert Jahren. Aber der Psychiater C. G. Jung hatte wohl recht, dass derartige Bilder als gemeinsame Archetypen im menschlichen Bewusstsein tief verankert sind. Eine angenehm seidige Frauenstimme flüsterte mir zu, ich solle doch das Leben genießen und einfach nur da sein. Suzanne.
»Entspannen, konsumieren.« Einatmen, ausatmen.
Suzanne.
»Den Atem kommen lassen, sich führen lassen«. Einatmen, ausatmen.
Suzanne, Suzanne.
Plötzlich fuhr ich wie vom Blitz getroffen ruckartig auf. Natürlich, das war es! Ich hatte die Montenièr schon getroffen, oder vielmehr sie mich. Ich war plötzlich davon überzeugt, die Zusammenhänge zu verstehen, die ich irgendwie bereits geahnt hatte. Die Montenièr hatte mich in der Gasse liegend gesehen und jemanden gefragt, was mit mir sei. Auch die merkwürdige Reaktion des schmierigen Wirtes im Fleur machte plötzlich Sinn. Er kannte die Montenièr, aber wollte dies aus irgendeinem Grunde nicht zugeben! Nicht nur das. Ich hatte mit meiner Frage den Falschen erwischt, mich zu weit vorgetraut. War zu neugierig geworden und hatte dies mit einer kräftigen Tracht Prügel bezahlt. Aber wenn er sie gedeckt hatte, warum? Sollte sie versteckt bleiben? Und wenn, weshalb? Was sollte dort verborgen werden? Hatte ich in ein Terroristennest gestochen? Mein Hirn begann auf Hochtouren zu arbeiten und gleichzeitig fühlte ich neue Lebensenergie durch mich fluten. Meine Neugierde erwachte. Da war aber noch mehr! Diese angenehme Frauenstimme, sie hatte fast dieselbe Stimmlage, die Montenièr. Ich versuchte, mich wieder zu entspannen. Ruhig bleiben. Nachdenken. Es gab da viel zu viele Unbekannte in der Gleichung. Was war mit Raskovnik? Wer wollte mich in diese Falle schicken und warum? Ich musste vorsichtig sein. Ich würde es langsam angehen müssen. Aber eins wusste ich damals, ich würde sie suchen, die Montenièr!
3.*
So in Gedanken versunken schaue ich die Montenièr an, die wie ein Schatten vor der milchweißen Fentsersilouette steht.
»Niemand versteht, weil niemand verstehen will!«, murmelt sie in die dimensionslose Leere der Welt hinter der Glasfensterfront.
»Wie bitte?«, fahre ich aus meinen Gedanken auf.
Sie antwortet nicht, dreht sich nur zu mir um und schaut mich mit ihren großen dunklen Augen ausdruckslos an.. »Was werden Sie jetzt tun?«, fragt sie mich.
»Setzen wir uns erst einmal«, antworte ich ohne auf ihre Frage einzugehen, denn genau dieselbe Frage stelle ich mir auch. Unschlüssig schaue ich mich im Raum um. Mein Gott, wie konnte sie hier nur leben? Die Wohnung, wenn man einen leerstehenden Büroraum eines Abrisshauses so nennen konnte, bot nichts, was einen längeren Aufenthalt möglich gemacht hätte. Außer dem Sofa, ein paar Packkartons mit notdürftig zusammengeworfenem Hausrat sowie diesem merkwürdigen Gerät mit der großen Metallspule entdecke ich nichts, was mir Anlass gegeben hätte, hier länger als einen Augenblick zu verweilen.
»Gibt es einen Anschluss hier, einen Zugang zum Netz?«. Sie stößt scharf und empört die Luft aus. »Wo denken Sie hin? Meinen Sie, ich will sie direkt hierher locken?« Ich schaue auf mein Arm-Pad, auf dessen Monitor nur ein weißes Rauschen zu sehen ist.
»Sie sind völlig isoliert hier?«
Sie nickt und ich meine, einen feuchten Glanz in ihren Augen zu entdecken. Das rührt mich zutiefst. Am liebsten wäre ich zu ihr hingegangen und hätte sie einfach nur getröstet. Aber erstens geht man seit Langem nicht mehr einfach zu einer Frau und berührt sie, ohne vorher eine Kontaktanfrage gesendet zu haben und zweitens begann ein Notprogramm in mir zu arbeiten, dass mich auch vor mir selbst schützen sollte.
»Ich bin Psychiater, wissen Sie?«
Sie lacht schrill und kurz auf und ich meine, die Spur eines Anzeichens ihres Wahnsinns erkennen zu können.
»Sie meinen, Sie waren Psychiater!«
Ich schlucke. Es ist, als wäre plötzlich alle Energie aus mir gewichen und ich fühle, wie meine Beine weich werden.
»Ja, ich fürchte, Sie haben recht. Ich, ich muss mich setzen.«
Bis eben zu dem Moment war ich Psychiater gewesen. Auch dieses letzte Teilstück meiner Existenz zerbröselte nun zu feinem illusionären Staub. Was eigentlich blieb übrig, wenn alle Illusionen zerstört waren, mit denen man seine Existenz notdürftig gefüllt hatte?
Ich spüre ihren Arm um meine Schulter. Als ich aufblicke, stelle ich fest, dass wir auf dem Sofa sitzen und sie mich sanft berührt. Wie wir dahin gekommen waren, kann ich nicht sagen, doch auch mir laufen die Tränen über die Wangen. Meint Gott, wie lange habe ich nicht mehr geweint?
Sie will ihren Arm zurückziehen, doch ich fasse schnell nach ihrer Hand auf meiner Schulter. »Nein, nicht, bitte, es tut so gut, bitte lassen Sie ihre Hand dort liegen!«
Ich schließe die Augen und spüre die Berührung des fremden Körpers. Es ist, als wenn aus ihrer Hand ein Strom von Wärme in mich fließen würde.
»Sie Armer!«, flüstert sie, entzieht mir dann aber doch sanft ihre Hand. Ich kann nicht mehr an mich halten und breche in ein verzweifeltes Weinen aus, krümme mich zusammen und verberge mein Gesicht in meinen Händen. Als ich wieder zu mir komme, sehe ich sie wie vorher wieder in der Nähe des Fensters stehen und mit verschränkten Armen hinaus in die Leere sehen.
»Sie sind ein Controller, nicht wahr?«
Ihre Stimme hat einen harten, verbitterten Klang angenommen.
»So sagt man wohl«, nicke ich.
»Sie haben ihn getötet!«, flüstert sie.
»Ich?«
Sie stößt einen spitzen Lacher aus. »Nein, die!«
»Die?«, frage ich verständnislos.
Sie schweigt. »Sie haben ihn einfach umgebracht«, fährt sie fort, ohne auf mich zu achten. »Kaltblütig abgeschlachtet.«
Ich warte auf eine Erklärung, die nicht zu kommen scheint.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragt sie mich nochmals.
»Ich kann nicht mehr zurück, nicht wahr?«, frage ich, weil mir dies langsam klar wird.
»Vermutlich nicht.«
Ratlos schaue ich mich nochmals im Raum um. »Wie kommt das hier her?«, frage ich sie mit dem Blick auf das technische Ungetüm in der Mitte des Raumes.
»Schweigen Sie!«, fährt sie mich an, geht dann mit einigen entschlossenen Schritten auf mich zu, hält mir drohend ihren Zeigefinger vor das Gesicht und stößt mit vor Wut verzerrtem Mund zischend aus. »Niemand, verstehen Sie, niemand darf erfahren, dass es so etwas überhaupt gibt! Verstehen Sie? Niemand!« Sie verharrt in dieser Geste, bis sie aus meiner Reaktion herauslesen kann, dass ich sie verstanden habe.
Ich nicke, erschrocken über die Gewalt ihres plötzlichen Ausbruches. Ich bin beeindruckt, weil ich eine derartige Energie bei ihr gar nicht vermutet hätte.
»Was also werden Sie jetzt tun?«, fragt sie mich nochmals fast zischend.
»Wir sind zu weit gegangen, nicht wahr?«, entgegne ich ratlos.
Sie nickt. »Ich bin zu weit gegangen. Mein Gott wie konnte ich nur so töricht sein? Ein Controller!!«
»Von mir haben Sie nichts zu befürchten«, versuche ich es.
Sie fährt herum. »Mann, begreifen Sie es denn nicht? Es sind nicht Sie, den ich fürchte. Es sind die Leute, die Sie zu mir geführt haben!«
»Ich bin nicht zu Ihnen geführt worden!«
»Mein, Gott, wie naiv kann man denn sein?«, fährt sie auf.. »Glauben Sie etwa, Sie könnten auch nur einen Schritt tun, ohne dass Sie manipuliert werden?«
»Glauben Sie mir«, entgegne ich entschieden. »Ich wollte Sie treffen und ich habe alles unternommen, um ihnen zu entkommen!«
4.*
Der Plan reifte damals langsam in mir heran. Ja, ich hatte beschlossen, die Montenièr dennoch aufzusuchen! Doch zuerst musste ich einige Vorbereitungen treffen.
Zunächst einmal musste ich mir über meine eigenen Motive klar werden, schließlich war ich offiziell nicht mehr mit dem Fall betraut, solange ich das Hausverbot im Amt hatte. Wenn ich mir über meine Motive nicht klar war, konnte ich auch nicht einschätzen, welches Risiko ich eingehen wollte. Denn ein Risiko würde ich eingehen, das war mir klar. Oder besser gesagt, ein Risiko würde ich eingehen wollen, es drängte mich geradezu nach dem Risiko. Ich würde es ihnen schon zeigen! Rache! Ja, es war der pure Rachegedanke, der mich trieb. Rache für die erlittene Schmach, für die Demütigungen. Rache für die monatelangen Frustrationen, wenn ich aus meiner Bürotür trat und diese Tür gegenüber sah. Rache für die schlaflosen Nächte, in denen ich in meiner Fantasie alle meine Vorgesetzten niedergekämpft hatte, um dann, sobald der Monitor meldete, dass es Zeit sei aufzustehen, dass es Zeit sei unter die Ultraschalldusche zu gehen, das Frühstück aus dem Küchenautomaten zu ordern, die Vergeblichkeit meiner Wut zu erkennen. Den Monitor anzuschalten, um den täglichen Stand der PC-Quians zu prüfen, nicht an die gescheiterte Ehe zu denken, nicht an die Zeit nach Dienstschluss zu denken. Wut und Rache für alles einschließlich mich selbst und meiner Unfähigkeit, jetzt selbst stellvertretender Referatsleiter zu sein!
Außerdem erinnerte ich mich an die Zeit meiner kindlichen Katz-und-Maus-Spiele mit meinen Schulkameraden. Geschwister hatte ich nicht, genauso wie die meisten anderen Kinder. Es war bereits die Zeit, als es schwer wurde, überhaupt eine Partnerschaft einzugehen. Die Zeit, in der bereits die plumpe Frage nach dem Weg oder ähnlichen Alltäglichkeiten an eine Frau für einen Mann zu einer juristischen Verwicklung wegen versuchter sexueller Nötigung führen konnte. Die Zeit, als unsere Eltern glücklich sein konnten, wenn sie es schafften, die Familie mit dem Zweit- oder Drittjob über Wasser zu halten, weil durch die Automatisierung maximal schlecht bezahlte Halbtags- oder Stundenjobs zur Verfügung standen. An Kinder war da gar nicht wirklich zu denken. Trotzdem spielten wir Katz und Maus miteinander, indem wir versuchten, einander mittels GPS-Peilung aufzuspüren. Ich würde es mit einer Neuauflage versuchen und ihnen entwischen. Ich würde...
Der Monitor plingte und zeigte ein eingehendes Videochat von Erwin an. Das ließ mich augenblicklich wieder zu mir kommen. Mürrisch klickte ich au. »Zustimmen«.
Erwins zerzauste Visage erschien auf dem Monitor.
»Hallo, Krongold.«
»Herr Krongold, wenn ich bitten darf!«
Er räusperte sich. »Äh, ja, Herr Krongold. Ich möchte mich nach Ihrem Befinden erkundigen. Geht es besser?«
»Ja, besser. Glänzend, ja glänzend!«
»Glänzend? Oh fein, ja fein. Weil...«
»Ja?«, forschte ich und verspürte eine leise Warnung in mir aufsteigen. »Weil...?«
»Nun ja, wir haben einige respektable Piks in ihrem Aggressions-Score festgestellt. Sie machen doch keine Dummheiten?«
»In meinem was?«, fragte ich verblüfft nach.
»Aggressions-Score«, wiederholte er, als sei dies die größte Selbstverständlichkeit der Welt.
»Was soll das bedeuten?«
»Ihre Werte, Ihre Werte gehen signifikant aus dem Normalbereich.«
»Wie kommen Sie an... meine ‚Werte‘?«
»Ach so«, er hüstelte. »Nun ja, ich dachte Sie seien vom Fach. Über Ihr Pad natürlich. Es ist Teil Ihrer Auflage. Wir kontrollieren einige Ihrer Parameter, um Sie zu schützen!«
»Zu schützen, wovor?«
»Äh, vor Gefährdungen.«
»Gefährdungen!«, echote ich. »Gefährdungen!«
Er machte eine unwirsche Bewegung. »Ich habe leider keine Zeit, dies mit Ihnen zu diskutieren. Sie sollten als Psychiater wissen, dass Menschen in Isolation zu depressiven Kurzschlusshandlungen neigen können. Das brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Ich wollte mich einfach davon überzeugen, dass Sie nicht gefährdet sind, weil Ihre Erregungsparameter auf erhöhte Werte gestiegen sind.«
»Dann wären Sie mich und das Problem doch los!«, maulte ich, obwohl mir bewusst wurde, dass ich mich wie ein Trottel verhielt. ‚Nimm dich zusammen! Nimm dich zusammen!‘ ermahnte ich mich, hielt kurz die Luft an und atmete dann langsam wieder aus.