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»Okay, Sie haben wieder einmal recht. Keine Sorge, ich bin verärgert, das ist wohl wahr, aber ich neige nicht zu Selbstmordgedanken.«
»Fein, dann ist es ja gut. Ich habe Ihnen eine weitere App freigeschaltet und möchte, dass Sie sich diese runterladen. Das gibt weitere Bonuspunkte. Im Übrigen hat sich etwas getan. Ihr Fall ist nun der übergeordneten Instanz zugestellt worden. Wir können also bald mit einer Entscheidung rechnen, ob Anklage erhoben wird.«
»Das ist ein Witz oder?«
Er lächelte süßsauer. »Ich weiß, dass es Ihnen nicht gefällt...«
»Was ist das für eine Justiz, die nicht die Täter, sondern die Opfer bestraft?«
»Das ist leider bei der Terrorismusfrage nicht immer einfach zu beantworten. Sie wissen, dass davon viel mehr als ein Einzelschicksal abhängen kann.«
»Sie wollen, dass ich für meine Inhaftierung noch dankbar bin?«, fauchte ich.
»Ich will gar nichts, sondern bin lediglich zu Ihrer Unterstützung da, das ist mein Job. Ihr persönliches Schicksal geht mir ehrlich gesagt am Arsch vorbei. Guten Tag.«
Damit schaltete er sich ab. Eine Weile starrte ich sprachlos auf den Bildschirm, der jetzt den Download einer neuen App signalisierte, um die ich nicht gebeten hatte.
»Sie haben nun die Möglichkeit, sich 15 PC-Quians gutschreiben zu lassen, wenn Sie den Code, der im Laufe der Sendung eingeblendet wird, bestätigen. Viel Vergnügen!«, signalisierte eine virtuelle Sprecherin. Ich fragte mich, ob bei Frauen vielleicht ein attraktiver männlicher Sprecher eingeblendet würde. Musste ich mal bei Gelegenheit jemanden fragen. Bevor ich auf den Startknopf drückte, beschloss ich jedoch erst einmal meine häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, denn mein Entschluss stand fest, dass ich die Initiative nun wieder selbst ergreifen musste.
Auf dem Weg zum Schmutzwäschebehälter orderte ich ein Standardmenü vom Imbiss, das mir heute die Softwarefirma ‚Interglobal‘ offerierte, um gleichzeitig auf eine neue Spielkonsole hinzuweisen. Der Startknopf des Wäschebehälters leuchtete blau, was bedeutet, dass neues Waschpulver geordert werden musste. Hier konnte ich mich zwischen drei Angeboten verschiedener Konzerne entscheiden. Ich nahm den, bei dem es die meisten PC-Payback-Quians gab. Der Behälter entleerte sich in die Waschanlage, die sich sofort mit einer Bestätigung der Waschmittelfirma über den Kauf einer Sechsmonatspackung ihres Waschmittels bedankte, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass auch weitere interessante Angebote in ihrem Programm seien. Durch die Wahl der Taste. »Später anzeigen« sprang das Waschprogramm dann endgültig an. Im Sanitärbereich meldete sich die Toilette mit der Meldung, dass ein neuer WC-duft zur Verfügung stünde. Sofern ich die Restbestände, vier Packungen einer anderen Firma, umtauschen wolle, könne ein Sonderpreis mit mir vereinbart werden. Ich cancelte, denn Duft erzeugte ich bereits selbst genug. Der Handtuchspender zeigte an, dass noch genügend saubere Handtücher für mindestens zwölf Wäschen vorhanden seien, was mich beruhigte. Auch der Wasserspülkasten der Toilette meldete, dass ich für noch über vier Monate Restlaufzeit des Abonnements von biologisch gereinigtem Recyclingwasser verfügen dürfte, allerdings könne mir ein Frühbucherrabett von 3 % gewährt werden, wenn ich jetzt bereits einer Verlängerung zustimmte. Ich tat ihnen den Gefallen, was mir mit einigen weiteren Payback Quians zusätzlich honoriert wurde. Dermaßen geläutert öffnete ich den Serviceschacht, wo ein garantiert schweinefleischfreier, weil ohnehin nur aus synthetischem Fleisch bestehender Döner serviert wurde. Seit mit der massenhaften Einwanderung arabisch und afrikanisch stämmiger Menschen, die die zahlenmäßig angestammte Bevölkerung schnell überwogen, auch teilweise deren Sitten und Gebräuche übernommen wurden, war die Speisekarte üblicherweise bereinigt worden. Zwar konnte sich die islamische Religion nur etwa 50 Jahre halten, bis di. »China National Chemical Corp (ChemChi)«, die weltweit die dominierende Rolle bei der Nahrungsmittel- und Saatgutkontrolle übernommen hatte, die Staatsgeschäfte führte, aber einige Überreste fanden sich immer noch im alltäglichen Umgang. Als das synthetische Fleisch aufgrund der Nahrungsknappheit die früher übliche Masttierhaltung ersetzte, erledigten sich allerdings auch die neuen Ernährungsvorschriften sehr schnell. Richtiges Tierfleisch war eine Rarität und sehr teuer. Insofern war es schon ein Wunder, es in einem so heruntergekommenen Restaurant wie dem ‚Fleur‘ damals angeboten bekommen zu haben. Es gab wohl einen florierenden Schwarzmarkt für so etwas.
Das Getränk, welches dem Menü gratis beigefügt war, ein isotonischer Drink namen. »Blue fish« oder so, ließ sich erst öffnen, nachdem man das Einverständnis zur Verwendung der IP Nummer zu Werbezwecken mittels Chip bestätigt hatte, schmeckte aber genauso fad wie alle anderen derartigen vollsynthetischen Gebräue.
Dennoch ließ ich es mir schmecken, denn ich merkte, dass ich ausgehungert war. Dann erst lehnte ich mich in meinen Liegesessel zurück und drückte den Startknopf der App.
Im Einzelnen weiß ich gar nicht mehr, was der Inhalt der App war. Ich folgte nur, beinahe automatisch, den immer wieder zwischengeschalteten Anweisungen, auf den Bildschirm zu schauen, weil das Programm mittels Pupillenkontrolle meinen Interesselevel überprüfen wollte, der meist im gelben Bereich lag. Das ergab zwar weniger PC -Payback Quians, aber ich wollte die Zeit nutzen, um über mein weiteres Vorgehen nachzudenken, muss dann aber eingeschlafen sein.
Ich erwachte einige Zeit später erfrischt und beschloss, Tennis zu spielen.
Wieso Tennis?
Ich hatte noch nie Gefallen an diesem Spiel gefunden. Dennoch meldete sich in mir unaufhörlich der Gedanke, ich könne es doch einmal versuchen. Der Monitor merkte offensichtlich, dass ich wieder aufgewacht war und fragte nach meinen Wünschen. Es waren verschiedene Möglichkeiten aufgeführt, mit denen ich die Freizeit ‚würzen‘ könnte. Ganz oben und gelb unterlegt blinkte die Eingab. »Tennis.« Warum sollte ich es nicht einmal versuchen? Ich betätigte den Button Probespiel, was einige Quians kostete, aber dafür einige Payback-Punkte gutschrieb. Die Order an das AuTaX setzte das Programm selbstständig ab. Ein grüner blinkender Punkt im Kontrollfenster zeigte mir, dass Erwin zugestimmt hatte. Wenig später befand ich mich in der Tennishalle, die bereits von außen durch eine gewaltige Leuchttafel auf sich hinwies. Lächelnde Tennis Champions auf animierten 3D-Monitoren wiesen den Besuchern den Weg ins Innere des Sportpalastes, der recht gut besucht schien. Über den Check in - Portalen waren die derzeitigen Punktstände der gegenwärtigen Spieler angegeben. An dem Empfangsterminal wurde, nachdem man sich mittels Chip und Irisscan identifiziert hatte, zuerst das Bewegungsprofil der letzten dreißig Tage aus meinem Arm-Pad ausgelesen, was ein Ergebnis im tiefroten Warnbereich erbrachte. Offenbar war der Computer der Meinung, dass ich den letzten Monat im katatonen Koma verbracht haben musste, was soviel bedeutete, dass sich sogar ein Stein mehr bewegt als ich.
Auch die Körperfett- und Muskelanalyse ergab nichts Aufbauenderes. Mein biologisches Körperalter wurde mit etwa 20 Jahren älter, als ich tatsächlich war, geschätzt, mit entsprechend verkürzter Lebenserwartung. Daraufhin erhöhte sich die Prämie meiner Krankenversicherung um ganze 10 Quians pro Monat ebenso wie die Raten meiner Lebensversicherung. Allerdings wurde mir tröstend mitgeteilt, dass ich durch regelmäßigen Besuch der Anlage auch zu einer Verminderung meines Risikoprofils beitragen könne mit dem Ergebnis geringerer monatlicher Raten. Ich habe nur nicht ausgerechnet, ob dies mit den Kosten des Besuches der Anlage wirklich zusammengenommen zu einer verminderten Gesamtbelastung führen würde.
An den weiteren Terminals konnte man sich verschiedene Spielvarianten aussuchen. Ich tippte auf Anfänger. Danach geleitete mich eine recht sportlich durchgestylte Servicedame zum Service Point, wo ich zwischen verschiedenen Modellen an Schuhen, sportgerechter Kleidung und Tennisschlägern auswählen sollte. Meine Wahl fiel wiederum auf den Anbieter, der die meisten Payback-Punkte versprach. So ausgerüstet fand ich mich bald in meinem Tennis Court wieder. Dies ist ein etwa 10 mal 10 Meter großer Raum, in dem ein mechanischer Schläger hinter einem Netz montiert, meine dilettantisch geschlagenen Bälle zurückschlägt. Nach etwa 10 Bällen schaltete er selbsttätig auf den Lernmodus um. Danach gelang es mir wenigstens einige der automatisch zurückgeschleuderten Bälle zu erreichen. Schon nach wenigen Minuten war ich in Schweiß gebadet, meine Lunge schmerzte und meine rechte Seite stach, so dass ich pausieren musste. Der Handtuchhalter bot mir gegen ein geringes Entgelt ein frisches Papierhandtuch an und ich nahm auch das Angebot des Getränkeautomaten an, der mir wiederum ein Abonnement für einen Sportdrin. »Tennis fit« unterbreitete, welches ich jedoch ausschlug. Ich setzte mich auf die Ruhebank außerhalb des Courts und fragte mich, was zum Teufel mich dazu getrieben hatte, Tennis zu spielen, während ich in die gläsernen Fronten einiger anderer Tennis Courts den Spielern und Spielerinnen zuschaute, die offenbar geübter waren als ich. Langsam wichen die Schmerzen in meinen Lungen und mein Puls beruhigte sich wieder. Ich beschloss, es für heute genug sein zu lassen und den Sportpalast ein wenig zu durchstreifen. Ein Monitor über den Courts zeigte verschiedene Betätigungsmöglichkeiten. Neben Golf, das man auf einem virtuellen Feld spielte, konnten noch Pferderennen auf mechanischen Pferden, Laufbänder und natürlich Fitnessgeräte benutzt werden. Im Swim and Diving Room war es sogar möglich, mittels einer Tauchausrüstung gegen einen Tauchroboter im Strömungskanal anzuschwimmen. Eine Sportart, die im chinesisch dominierten Fitnessgeschäft nicht fehlen durfte, war das Tischtennis. Auch hier schien dasselbe Prinzip wie beim Tennis realisiert zu sein. Aber der automatische Schläger war mir schon beim einfachen Hinschauen zu schnell, so beschloss ich, dies gar nicht erst zu versuchen. Ich würde mich einmal beim Golf umschauen, diese Sportart schien wie geschaffen für mich. Ich wandte mich einem der Laufbänder zu, die zu den oberen Etagen führten, wo es recht belebt war. Sportlich gekleidete Besucher kamen mir entgegen oder betraten hinter mir das Band. Wie in der Öffentlichkeit üblich, fand man es unhöflich, andere Besucher direkt anzusprechen. So versuchte man den Blicken derjenigen, die den eigenen Weg kreuzten, höflich auszuweichen. Für Kontaktanfragen kann man das Arm-Pad, wie auch sonst üblich, benutzen, da die Chips der Vorbeigehenden sich automatisch melden, wenn Gesprächsbereitschaft besteht. Ich wurde nicht angepingt und ich wollte auch niemanden sprechen. Allerdings verweigerte mir der Türautomat am Golfplatz den Zutritt mit der Begründung, dass mein Fitnesslevel noch zu gering sei und erst der gelbe Basisbereich zum Eintritt berechtige. Gegebenenfalls könne ein Aufpreis den Zugang ermöglichen. Dieser war jedoch in meinem Fall astronomisch hoch und Erwin verweigerte bei einer probeweisen Anfrage seine Zustimmung.
Mir reichte es nun langsam, insbesondere, da ich inzwischen an der ordnungsgemäßen Funktion meines Verstandes zweifelte, ein solches Etablissement überhaupt aufgesucht zu haben. Nachdem ich mich aller Utensilien wieder entledigt hatte, zog ich es vor, statt einen Regenerationsdrink mit Muskelaufbauproteinen an der Sportsbar zu mir zu nehmen, ein AuTaX zurück zu bestellen. Ich sehnte mich nach dem Schutz meiner heimischen Abgeschiedenheit.
Während das AuTaX gemächlich durch die nächtliche Stadt trieb, fragte ich mich, über was ich eigentlich hätte nachdenken wollen, bevor ich vor der App eingeschlafen war? Ich konnte mich ums Verrecken nicht mehr daran erinnern, wusste jedoch noch, dass es etwas von äußerster Wichtigkeit gewesen sein musste.
Nachdenklich ließ ich die Stadteindrücke an mir vorbeigleiten. Die wenigen Menschen, die sich in diesem Bezirk bewegten, waren meistens Sicherheitskräfte auf Elektro-Scootern. Jeder Bezirk ist streng abgeriegelt gegen andere Bezirke. Der Durchgang von einem in den anderen Bezirk geschieht über Check-Points, die eine persönliche Identifizierung erfordern, was jedoch von den AuTaX automatisch geschieht. Andere individuell gesteuerte Fahrzeuge werden an Mautpunkten vorbeigeleitet, die die Chipdaten des Fahrers und aller Insassen aufnehmen. Bezirke, die nur den besser gestellten Sozialschichten vorbehalten sind, können auch von AuTaX nur mit einer Sondergenehmigung befahren werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass Einwohner dieser Bezirke nicht durch Angehörige niedriger Sozialschichten belästigt werden. Das stellt für mich insofern keine Schwierigkeit dar, als ich selbst in einem Bezirk der Mittelschicht wohne, wo auch das Amt liegt, ebenso wie der Sportpalast, so dass ich die Bezirksgrenze praktisch niemals überqueren muss. In sozial niedrigere Bezirke zu fahren stellt an sich kein Problem dar, es wird jedoch auch nicht empfohlen, da die Sicherheit dort nicht hundertprozentig garantiert werden kann. Deshalb wunderte ich mich, dass das AuTaX plötzlich einen Weg einschlug, der offensichtlich nicht auf meinem berechneten Kurs lag, sondern in den 14. Bezirk einfuhr, der an der Grenze meines Bezirkes liegt, den übelsten Ruf genießt und an meiner jetzigen Situation Schuld war. Zuerst spekulierte ich, dass ein Verkehrshindernis auf der berechneten Route zu diesem Umweg zwang. Als die Gegend jedoch immer unwirtlicher wurde, die Fahrt nicht wieder in meinen Bezirk zurückgehen wollte, wurde ich langsam unruhig. Versuchsweise drückte ich die Stop-Taste, die normalerweise das Fahrzeug auf die Standspur lenkt.
Nichts geschah!
Nicht einmal ein Bestätigungssignal erschien. Ich begann Panik zu bekommen. Mein Versuch, über mein Arm-Pad Kontakt mit Erwin aufzunehmen scheiterte ebenfalls, da keine Verbindung zum Hauptserver aufgebaut wurde. Das Netzsymbol zeigte zwar Empfang, aber der Verbindungsmodus konnte nicht wieder hergestellt werden. Ein Knopfdruck auf die Türautomatik führte zu keinem Ergebnis, was insofern nicht weiter verwunderlich war, weil sich die Türen nur bei Stillstand des Fahrzeugs öffnen ließen. Ich schaute mich hektisch nach allen Seiten um.
In diesem Bezirk huschten einige Gestalten über die Gehwege und verschwanden im Schatten der Häuserfronten, sobald sich das AuTaX näherte. Von Sicherheitskräften war nicht viel zu sehen außer einigen Polizeidrohnen hier und da, die über den Straßen kreisten.
Ich war ein Gefangener in einem wild gewordenen AuTaX!
Entschlossen drückte ich den Not-Haltknopf, wieder ohne Ergebnis. Verzweiflung packte mich. Ich versuchte, die Tür mit Gewalt zu öffnen, indem ich mich mit aller Kraft dagegen lehnte. Sie rührte sich keinen Millimeter. Auch der Versuch die Frontscheibe mit den Füßen herauszudrücken, indem ich mich halb liegend dagegen stemmte, fruchtete nicht. Die Straßen, durch die ich fuhr, waren mir völlig unbekannt, die Gebäude in einem immer desolateren Zustand je weiter die Fahrt ging. Schließlich bog das AuTaX in eine finstere Seitenstraße ein, in der ein riesiger Abrissbagger den Weg versperrte. Die gewaltige Maschine, deren Kettenräder allein die Höhe des AuTaX mehr als zweimal überragten, stand drohend dort wie ein in Agonie erstarrtes Monster, das soeben im Begriff war, mit seinem gewaltigen Metallarm ein mehrstöckiges Gebäude in Schutt und Asche zu zerlegen, und versperrte den Weg. Ich schrie vor Schreck auf, den sicheren Aufprall und Tod vor Augen, als das AuTaX plötzlich mit einem so scharfen Ruck zum Stehen kam, dass ich unsanft gegen die Frontscheibe geschleudert wurde. Immerhin schien noch irgendetwas an dem Fahrzeug zu funktionieren! Erleichtert rieb ich mir den gestauchten Ellenbogen und wartete darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Die Tür des AuTaX öffnete sich mit dem bekannten kleinen zischenden Geräusch der Hydraulik, dann rührte sich nichts mehr. Kühle Abendluft strömte in die Kabine.Was mir als erstes bewusst wurde, war das völlig Fehlen von Geräuschen. Nichts regte sich!
Vorsichtig schaute ich durch die geöffnete Tür, wie eine Maus, die jeden Augenblick fürchtet, eine Katze könne auftauchen. Ich war wohl in einem Abrissviertel gestrandet. Derer gab es in den älteren Bezirken viele. Die marode alte Bausubstanz musste dem erhöhten Raumbedarf einer wachsenden Großstadt weichen. Obwohl die Metropole bereits gut ein Zehntel der gesamten Republik umfasste, war Wohnraum immer noch knapp und noch knapper war Büroraum. Ein Hochhaus unter 20 Stockwerken galt als unwirtschaftlich und wurde nach der neuen Agenda von ‚ChemChi‘ zum Sanierungs- oder Abrissobjekt erklärt. Ganze Viertel wurden aus der Architekturgeschichte gestrichen. Die Neubaugebiete erhielten die neue Straßen- und Sicherheitsarchitektur nach den Vorgaben des 86. Planungsbeschlusses. Dieser beinhaltete, dass in den neuen Vierteln ausschließlich das AVS, das Automatisierte Verkehrssystem, erlaubt war und ein Fahrverbot für individuell gesteuerte Fahrzeuge bestehen würde. Das AVS hatte unbestreitbar einige Vorteile, die nicht wegzudiskutieren waren. Da es ausschließlich auf automatisierten, verkehrsgesteuerten Fahrkabinen wie den AuTaX beruht, konnte die jeweils notwendige Fahrzeuggröße dem Transportbedarf angepasst angefordert werden. Der Raumbedarf auf den Straßen verringerte sich seitdem enorm. Die besondere Verkehrsführung, ein System, das den menschlichen Blutkreislauf zum Vorbild hat, beruht auf einem ausgeklügelten Einbahnstraßensystem, bei dem jede Kreuzung vermieden wird. Die Straßen verzweigen sich lediglich, kreuzen sich jedoch nie. Die Automatik lässt daher einen reibungslosen Verkehr zu, der ein Unterbrechen des Verkehrsflusses an Ampeln oder Vorfahrtstraßen vermeidet. Parkplatzraum gibt es nicht mehr, unnötig herumstehende, weil ungenutzte Fahrzeuge ebenfalls nicht, da alle Kabinen in ständiger Nutzung zu neuen Fahrzielen mit anderen Personen sind. Als Neuheit ist lediglich eine Haltespur hinzugekommen, die allerdings auch von Rettungsfahrzeugen benutzt wird. Der einzige Grund, warum dies System nicht bereits überall verwirklicht ist, sind die Eitelkeiten, die auch heute noch mit dem individuell gesteuerten Pkw verbunden sind. Aber auch dies ist nur eine Frage der Zeit. Die neue Regierung ist extrem kompromisslos, was unökonomische Prozessabläufe betrifft. Eine an sich lobenswerte Eigenschaft, die nur in Ämtern und Behörden wenig geschätzt wird, damals wie heute.
Allein hatte ich in der Situation, in der ich mich unerwartet wiederfand, wenig Sinn für derartige Überlegungen. Mich beschäftigte eher die Frage, wie ich von hier wegkommen konnte!
Langsam, nachdem ich mich nochmals davon überzeugt hatte, niemanden zu sehen, setzte ich einen Fuß aus dem Fahrzeug und schwang mich auf die Straße. Dies wäre normalerweise völlig unmöglich gewesen, ohne ein größeres Verkehrschaos mit Gefahr für Leib und Leben anzurichten, hier aber endete die Straße und außer meinem war kein weiteres Fahrzeug in Sicht oder hier gestrandet. Meine Schritte hallten an den Gebäudewänden wieder, als ich vorsichtig um das AuTaX herum ging, unentschlossen, wohin ich mich wenden sollte. Das Arm-Pad war eindeutig nutzlos, da es unerklärlicherweise keine Verbindung zum Server aufnehmen konnte. Aber ohne das Pad konnte ich keine Orientierung anfordern. Einfach so drauflos zu gehen hielt ich für zu riskant.
Ich lehnte mich an das AuTaX und schaute mir die Gebäuderuinen um mich herum an. Eingeworfene oder zersplitterte Fensterscheiben, zu großen Bergen aufgetürmte Trümmerhaufen bereits abgerissener Gebäudeteile, Rollen von Kabeln und Schläuchen.
Irgend etwas stimmte hier nicht! Es war das völlige Fehlen von Geräuschen, genau das! Dann fiel es mir ein. Wieso eigentlich war der Abrissbagger nicht in Betrieb? Wieso wurde der Schutt nicht abtransportiert? Wieso kamen und fuhren keine Lastwagen auf die Baustelle? Seit der Automatisierung waren Menschen zur Kontrolle der Arbeiten nur noch vereinzelt notwendig. Die Maschinen hätten Tag und Nacht ohne Pause arbeiten müssen. Nichts tat sich jedoch hier! Das war mehr als seltsam! Plötzlich schrak ich zusammen. War da nicht gerade ein Schatten hinter einem der Schuttberge weggehuscht? Ich drehte mich vorsichtig um. Und da, der Schatten einer geduckt laufenden Gestalt verschwand schnell hinter einem Betonhaufen. Ich blinzelte durch meine zusammengekniffenen Augenlider, um besser sehen zu können, denn die Strahler, die die Baustelle beleuchteten, blendeten so sehr, dass es mir schwer fiel, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Aber je länger ich in die Dunkelheit starrte, desto sicherer war ich mir, Schemen versteckter Gestalten erkennen zu können. Vorsichtig tastete ich mich zum AuTaX in der vagen Hoffnung zurück, darin Schutz zu finden. Vielleicht ließ sich die Tür doch wieder schließen. Ich tastete nach dem Türschalter, ohne den Winkel aus den Augen zu lassen, in dem ich die Gestalten zu erkennen glaubte. Die Tür rührte sich nicht. Als ich mich panisch umblickte, sah ich sie! Von allen Seiten lösten sich zerlumpte Gestalten aus der Dunkelheit der Ruineneingänge. Zuerst schienen sie nur unschlüssig dazustehen und zu schauen. Doch dann begannen sie, sich vorsichtig dem AuTaX zu nähern. Es waren vielleicht zehn, nein, zwanzig Gestalten. Einige trugen Metallstangen oder andere Gegenstände in den Händen, die sie aus dem Bauschutt geborgen haben mochten. Verzweifelt versuchte ich, die Tür des AuTaX mit den Händen zuzuziehen, doch sie rührte sich keinen Millimeter. Ich schaute mich nach einem Fluchtweg um. Noch waren die Gestalten weit genug entfernt, so dass eine Chance bestand zu entkommen. Daran, dass sie offensichtlich Gewalt gegen mich anwenden würden, zweifelte ich keinen Moment, obwohl die zusammengekrümmten Gestalten nicht gerade einen wohlgenährten Eindruck machten. Im Gegenteil meinte ich hier und da sogar alte faltige Gesichter erkennen zu können. Vielleicht sollte ich versuchen, sie anzusprechen? Bevor ich jedoch diese Idee in die Tat umsetzen konnte, ertönte plötzlich ein scharfer Pfiff aus der Dunkelheit. Die Gestalten blieben abrupt stehen und schauten in den Himmel. Mit einem Mal war Lärm um mich herum, Motorenlärm!
Das dumpfe Brummen von Kampfdrohnen war mir aus den Videosimulationen zwar bekannt, doch das durchdringende Dröhnen ihrer Sonotronenwerfer war derartig schmerzhaft, dass ich mir nach kurzer Zeit die Hände an den Kopf presste, weil ich befürchtete, er könne platzen. Die Infraschallwellen, die die zwei Kampfdrohnen aussendeten, die plötzlich über der Baustelle erschienen waren, können sogar Gewebe zerreißen und es sind nicht wenige Todesfälle bekannt, die von platzenden Hirngefäßen herrührten oder der Zerreißung von Lungengewebe. Ich sah noch, wie einige der Gestalten, die nicht schnell genug zurückgewichen waren, um sich hinter Mauern abzuschirmen, sich auf der Straße vor Schmerz zusammenkrümmten. Dann erfolgte eine heftige Explosion, die das AuTaX ein Stück zur Seite riss. Eine der Kampfdrohnen stürzte unweit von mir mit einem Krachen und zerbrochenen Rotoren auf die Straße. Steine spritzten umher, die Frontscheibe des AuTaX ging zu Bruch. Ich wurde hinausgeschleudert und landete unsanft auf dem Schotter. Eine weitere etwas fernere Explosion war zu hören, dann sank ein Teil des halb abgerissenen Hauses gegenüber in sich zusammen. Eine riesige Staubwolke wälzte sich heran und nahm mir den Atem. Das Dröhnen des Sonotrons der übriggebliebenen Drohne, die über mir schwebte, raubte mir nahezu den Verstand vor Schmerz. Ich stöhnte laut auf und versuchte irgendwie den Druck von meinem Kopf fernzuhalten, indem in mich wie ein Embryo zusammen krümmte.
»Komm, komm schnell!« Eine Hand hatte mich an der Schulter gepackt und zog mir den Arm vom Ohr weg.. »Komm, weg hier!« Irgendwer hatte mich gepackt und schleifte mich über das Straßenpflaster. Ich bemühte mich, auf die Beine zu kommen, um nicht zu Tode geschleift zu werden. Kurz vor einem Hauseingang schaffte ich es, mich halbwegs aufzurichten. Eine weitere Explosion ganz in unserer Nähe schleuderte uns die letzten Meter an die Hauswand. Steine prasselten auf uns herab. Ich hörte ferne Schreie, dann das pfeifende Warnsignal mehrerer Securityfahrzeuge, die sich näherten. »Komm, weiter!«, rief die Gestalt, die mich noch immer am Arm gepackt hatte, obwohl wir beide am Boden lagen. Sie trug eine Art Helm, wie sie für Motorräder oder schnelle Elektroscooter vorgeschrieben sind. Der massige Körper war mit einem roten Schutzanzug bekleidet. Wir rappelten uns wieder auf und er zog mich weiter in die Dunkelheit. Aber anstatt in den nächsten Hauseingang zu fliehen, zog er mich fort und wandte sich einer kleinen Metalltür zu, die in das Souterrain eines Wohnhauses in der Nähe führte. Als die Tür hinter uns zufiel, nahm das Dröhnen schnell ab, doch er ging weiter. In einem weiteren Raum brannte eine altertümliche Deckenlampe. Es schien ein Kellerraum zu sein, dem Gerümpel nach zu urteilen, welches sich in baufälligen Regalen türmte. Die Gestalt wandte sich mir zu. »Warte hier, bis es vorbei ist!« Es war eindeutig eine männliche Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam.