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Olaf hatte in der Zeitung gelesen, dass es inzwischen wieder viele Wölfe in der Gegend gab. Man sprach von zehn Wolfsrudeln allein im östlichen Niedersachsen. Sie wurden zu einer echten Plage für die Schaf- und Rinderzüchter und erschießen durfte man sie nicht. Bis zu fünf Jahre Gefängnis und 50.000 Euro Strafe drohten beim Abschuss eines Wolfes. Olaf konnte verstehen, dass die Bauern das nicht einsahen. Warum sollte man ihnen verbieten, ihr Eigentum zu schützen? Aber so war das heute. Da haben die Ökos aus der Stadt mehr zu sagen als die Leute, die jeden Tag mit harter Arbeit auf dem Land ihr Geld verdienen müssen. Zum Kotzen.
Olaf hob langsam die Büchse und legte an. Er zitterte. Seit fast 24 Stunden hatte er keinen Tropfen getrunken. Das war er nicht gewohnt. Und aufgeregt war er. Nur einen guten Schuss entfernt von 4.000 Euro Cash. Es musste klappen.
Er spannte den Hahn. Das Klicken dröhnte in seinem rechten Ohr wie eine Bombenexplosion. Nun drehte der Wolf seinen Kopf, schaute in Olafs Richtung und spitzte die Ohren – für den Bruchteil einer Sekunde. Dann sprang er von dem Hügel und verschwand zwischen den Bäumen.
Scheiße, weg. Keine Chance mehr, ihn zu erwischen. Mit diesem Gedanken zog Olaf den Abzug. Ein fürchterlicher Knall und im grellen Feuerschein der Büchse bemerkte Olaf noch etwas. Etwas Kleines, Helles huschte hinter dem Wolf her. Ein Junges? Ein Welpe? Nein, dafür war es zu groß. War es ein Mensch, ein kleiner Mensch? Oder irrte er sich? Er pinkelte sich fast ein vor Aufregung.
»Kiste, hast du das gesehen?«, zischte er dem Komplizen zu, der zehn Meter entfernt hinter einem Baum kauerte.
»Ja, habe ich. Du hast danebengeschossen, Old Shatterhand.« Er kicherte leise.
»Ach Quatsch, ich meine das Kind. Da war doch ein Kind, oder ein kleiner Erwachsener, irgendwas.« Olaf bemühte sich nicht länger, leise zu sein. Der Wolf war weg.
»Nee, da war nix. Nur der Wolf. Bis er nicht mehr da war.«
»Du bist ja total blind«, schimpfte Olaf und ging vorsichtig zu der Stelle, an der vorher der Wolf gestanden hatte. Er hatte Angst. Wenn da nun wirklich ein Mensch gewesen war und er ihn getroffen hatte? Nicht auszudenken. Dann wäre er geliefert. Er suchte den Waldboden ab. Schließlich auch mit der Taschenlampe, die er in seiner Weste bei sich trug. Er leuchtete in Büsche, in Farne.
»Was machst du?«, fragte Kiste, der ihm gefolgt war. »So verjagst du das Vieh auf jeden Fall.«
Olaf antwortete nicht. Langsam machte er ein paar Schritte in die Richtung, in die der Wolf und die andere Gestalt gelaufen waren, und leuchtete auf den Boden vor seinen Füßen. Er war darauf vorbereitet, jeden Moment auf etwas Schockierendes zu stoßen. Blut. Oder vielleicht sogar einen Menschen. Verletzt. Tot. Warum rennt da mitten in der Nacht einer im Wald rum? Verdammter Mist.
Doch er entdeckte nichts Schockierendes. Olaf und Kiste irrten planlos durch den Wald, dem schmalen Lichtschein von Olafs Taschenlampe folgend. Sie hatten sich verlaufen. Irgendwann standen sie vor dem Haus, dessen Licht sie vermutlich schon zu Beginn ihrer Jagd von Weitem gesehen hatten.
Es war ein einfaches Bauernhaus, wie es sie viele in der Gegend gab. Eineinhalb Stockwerke, ein Dach, das früher sicher mal mit Reet gedeckt war, nun aber mit vermoosten Ziegeln. Es war in schlechtem Zustand, auch das Fachwerk und die Ziegel der Wände des Hauses schienen nicht gepflegt. Von den hölzernen Fensterrahmen blätterte der weiße Lack. Das Haus war mittelgroß, kein fetter Gutshof, aber auch keine Kate. Olaf schätzte sechs Räume im Erdgeschoss und ebenso viele im Dachgeschoss, vielleicht ein Keller.
»Wo willst du hin?«, fragte Kiste, als Olaf langsam an dem Haus vorbei auf den Hof schlich. »Meinst du, der Wolf hat sich da verschanzt und nimmt erst mal ne warme Dusche, oder was?«
Olaf schüttelte genervt den Kopf und ging weiter. Erst jetzt bemerkte er, dass er die ganze Zeit die Büchse fast schussbereit unter dem Arm trug. Eine Patrone steckte noch im Lauf. Der Wolf würde sich sicher nicht auf diesen Hof flüchten. Aber vielleicht der Mensch, den Olaf glaubte, gesehen zu haben.
Mitten auf dem Hof blieb er stehen. Neben dem Hauptgebäude gab es einen kleinen Schuppen, dessen Tor offenstand, es befand sich kein Fahrzeug darin. Gegenüber dem Haupthaus und ein wenig abseits entdeckte er eine etwas größere Scheune. Der Vollmond stand nun so, dass er alles gut erkennen konnte. Die Scheune war in noch schlechterem Zustand als das Haupthaus. In dem zweiflügeligen Holztor fehlten einige Latten. Das Tor hing schief in seinen Angeln. Im Dach klafften große Löcher. Was auch immer in dieser Scheune gelagert wurde, es konnte nicht mehr viel taugen.
Der Hof war bewohnt. Davon zeugten Gartengeräte und verblichene Liegestühle, die an der Hauswand lehnten, eine überquellende Mülltonne und eine leere, eingestaubte Colakiste, die neben der dreistufigen Treppe zum Haupteingang stand. Rechts neben dem Haus meinte Olaf einen Garten zu erkennen, mit Bohnenstangen und Tomatenstauden. Die Haustür war einen Spaltbreit geöffnet. Olaf ging darauf zu. Kiste trippelte hinter ihm her.
»Was hast du vor, Alter?«, raunte er. »Lass uns abhauen. Hier ist der Scheißwolf nicht. Wir kriegen nur Ärger.«
Olaf blieb stehen.
»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte er und blickte Kiste an.
»Was meinst du? Du machst mir Angst, Mann.« Er kicherte verlegen.
»Die Tür steht offen, mitten in der Nacht. Und drinnen brennt Licht, aber es ist niemand zu sehen«, sagte Olaf.
»Ja. Weil alle schlafen. Die Tür haben sie vergessen. Ist ja auch egal«, sagte Kiste hastig, »hierher verirrt sich sowieso kein Schwein. Ist ja der Arsch der Welt. Guck mal dahinten.« Kiste deutete auf die Zufahrt zum Hof. »Soll das ne Straße sein? Das ist ein verdammter Dschungel. Wer in dieser Bruchbude wohnt, will keinen Besuch. Lass uns abhauen.«
Karsten drehte sich, um in der Richtung zu verschwinden, aus der sie gekommen waren. Doch Olaf ging auf das Haus zu. Er fühlte sich wie magisch angezogen von der offenen Tür. Er sah auf sein Handy. Mitternacht.
Karsten folgte Olaf ganz dicht. »Was willst du da?«, jammerte er.
Olaf stieg die drei Stufen zum Wohnhaus hoch. Es war sicher noch dieselbe Tür wie vor mindestens hundert Jahren, als es gebaut worden war. Der grüne Lack blätterte ab, darunter kam blauer Lack zum Vorschein. Das Schloss war nicht so alt. Es war mit einem vertikalen Sperrriegel im Innern verbunden. Ein guter Einbruchschutz, soweit Olaf das beurteilen konnte. Wieso war die Tür dann nicht abgeschlossen?
Langsam schob er sie auf. Das Gewehr hatte er immer noch unter dem Arm und die ausgeschaltete Taschenlampe in der linken Hand.
Direkt hinter der ausgetretenen hölzernen Türschwelle begann ein schwarz-weiß-karierter Fliesenboden. Einige Fliesen waren zerbrochen. Olaf spähte in den dunklen Hausflur. An der Wand zog sich bis auf Brusthöhe eine schäbige Holzverkleidung hoch, die sich über den gesamten Flur zu erstrecken schien. Schemenhaft erkannte Olaf Möbel, einen Leuchter mit Wachskerzen anstelle von Glühbirnen unter der Decke, ein kleines Tischchen, darauf eine merkwürdige Skulptur mit einem bunten Elefantenkopf und ein Kerzenleuchter mit drei Kerzen. Im hinteren Bereich lag etwas auf dem Boden, von dem Olaf nicht wusste, was es war. Er schaltete die Taschenlampe ein. Dann stockte ihm der Atem.
»Scheiße, Kiste«, sagte Olaf, als er wieder Luft bekam. »Siehst du das? Da liegt einer. Und dahinter noch einer. Und Blut, überall Blut. Oh, Mann.«
Doch Kiste war längst weg. In großen Schritten war der sonst so behäbige Kerl über den Hof getürmt und steuerte den Zufahrtsweg an, den er vorher noch so geringschätzig bewertet hatte.
Olaf konnte seinen Blick nicht von den beiden Menschen wenden, die regungslos im Halbdunkel lagen. Sie waren offensichtlich tot. Fliegen schwirrten umher. Der vordere Tote war ein Mann mit hellem Vollbart und mittellangen blonden Haaren, die an Stroh erinnerten. Er war jünger als Olaf. 40 vielleicht. Er trug nur eine verwaschene Unterhose und ein rotes T-Shirt. Seine weit geöffneten Augen starrten zur Decke, von seinem Hinterkopf hatte sich eine große, inzwischen angetrocknete Blutlache über die Fliesen ergossen. Die Person dahinter lag auf der Seite und von Olaf abgewandt. Er konnte weder erkennen, wie alt sie war, noch ob Mann oder Frau. Intensiv nahm er den metallischen Geruch von Blut wahr. Kurz war Olaf versucht, zu den Körpern zu gehen, sie sich genauer anzusehen.
Doch Kiste rief über den Hof: »Olaf, komm, wir müssen weg hier. Die Bullen rufen. Schnell!«
Olaf zögerte noch einen Moment, lief dann aber hinter Kiste her in den Zufahrtsweg. Er sah auf sein Handy. »Scheiße, kein Empfang, wir können die Bullen nicht rufen«, stöhnte er, während sie den zugewachsenen Weg hinunterrannten, wobei sie sich durch dichte Mückenschwärme kämpften. Das Gewehr baumelte am Trageriemen um Olafs rechte Schulter und schlug ihm schmerzhaft gegen das Knie.
»Ich habe doch gesagt, dass da was nicht stimmt«, sagte Olaf, als sie auf einen schmalen, nicht asphaltierten Waldweg einbogen. Nun rannten sie nicht mehr. Nach Luft schnappend gingen sie, so schnell sie konnten. Der Mond war hinter Wolken verschwunden. Es war wieder stockdunkel. Beide schwitzten aufgrund der körperlichen Anstrengung, aber auch, weil es in dieser Sommernacht sicher noch 24 Grad hatte. Handyempfang hatten sie nach wie vor keinen.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Kiste. »Ich meine, unser Wagen steht irgendwo da hinten.« Er deutete unbestimmt in den Wald.
»Ja, glaub schon, das ist die richtige Richtung. Aber man kommt ja völlig durcheinander hier. Nur Bäume.« Olaf zog den Kompass aus der Tasche und sah ratlos darauf. Natürlich sagte ihm das Gerät nicht, wo sie den Golf geparkt hatten.
»Hast du den Standort des Autos nicht in deinem Handy markiert, auf Google Maps?«, fragte Kiste, der seine Panik nicht verbergen konnte.
»Nein, du Klugscheißer«, rief Olaf, »das wäre doch dein Job als Fahrer, oder?«
Kiste zuckte mit den Schultern. Eine Zeitlang gingen sie schweigend den dunklen Weg entlang durch den Wald. Kiste rauchte seine letzte Zigarette. Ein Handynetz hatten sie immer noch nicht.
»Ey, Olaf, meinst du, der Kerl, der das gemacht hat, ist hier noch irgendwo?«, fragte Kiste.
»Glaube ich nicht«, sagte Olaf. »Der ist weg. Das ist schon ein paar Stunden her.«
»Ach echt? Bist du jetzt ein verfickter Rechtsmediziner, oder was?«, sagte Kiste.
»Mal was anderes, Kiste«, sagte Olaf und bemühte sich, beim Sprechen die wirren Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. »Wenn wir die Bullen rufen, was erzählen wir denen denn, warum wir mitten in der Nacht auf diesem Hof waren? Mit einem Gewehr.«
»Äh, ja, wir waren auf der Jagd. Schwarzwild. Das hat Saison, glaube ich.«
Olaf blieb stehen und sah Kiste verwundert an: »Ach, bist du jetzt hier der Oberförster? Dann vergiss aber nicht, dass wir beide weder einen Jagdschein noch eine Besitzkarte für die Wumme haben.«
Sie gingen weiter die Straße entlang. Beide dachten nach. Es schien nun wichtiger, die richtige Geschichte zu finden als das Auto.
»Das Gewehr verstecken wir irgendwo«, sagte Kiste schließlich. »Und wir sagen einfach, dass wir spazieren waren. Schöne lauschige Sommernacht. Weißt schon.«
»Als schwules Pärchen, oder was? Du spinnst doch, Kiste.«
»Nein, wir haben uns verlaufen. Beim Wandern, als es dunkel wurde.«
»Vergiss es. Das glaubt uns niemand. Am besten, wir sehen zu, dass wir den nächsten Ort erreichen und rufen dort von einer Telefonzelle aus anonym die Polizei an.«
In einiger Entfernung kreuzte eine Landstraße. Das erkannten sie daran, dass schon zwei Autos mit hoher Geschwindigkeit vorbeigefahren waren. Es war sicher nicht die Straße, an der ihr Golf stand. Aber vielleicht konnten sie von dort ein Stück trampen.
An der Landstraße angekommen, waren sie erneut ratlos. Links oder rechts? Sie entschieden sich für rechts, denn Olaf war sicher, dass es dort nach Gartow ging, einem Kaff, dessen Namen er auf dem Hinweg auf einem Schild gelesen hatte.
»Eine Telefonzelle«, murmelte Kiste vor sich hin, »wo gibt es denn im verfickten Handyzeitalter noch eine Telefonzelle?«
In diesem Moment näherte sich von hinten ein Fahrzeug. Ohne lange nachzudenken, streckte Olaf den Daumen raus. Als das Auto näher kam, erkannte er, dass es die Polizei war. Zu spät. Der Streifenwagen hielt an.
Kapitel 3
Sabine Langkafel war hundemüde. Stunden nach Feierabend war ein Notruf eingegangen, und weil sie die Einzige war, die in der Nähe der Polizeistation Gartow wohnte, musste sie raus. Genau genommen lebte auch ihr Vorgesetzter Jakob Metzger im Ort, sogar in der kleinen Wohnung über der Wache in dem hübschen Rotklinker-Fachwerkhaus, aber Metzger war an einem Freitagabend nach 24 Uhr nicht mehr fahrtüchtig. Eigentlich an keinem Abend der Woche.
Also hatte Sabine sich entgegen den Gepflogenheiten alleine aufgemacht. Ein richtiger Notruf war es sowieso nicht. In Trebel lief offenbar eine Gartenparty aus dem Ruder, und mehrere Nachbarn hatten die 110 gewählt und die Beamten beschimpft, die darauf hingewiesen hatten, dass das für solchen Kleinkram die falsche Nummer sei.
Die zehn Kilometer über die schnurgerade B493 durch den Wald bis Trebel legte Sabine mit dem Streifenwagen um diese Nachtzeit in weniger als zehn Minuten zurück. Als sie in die Straße einbog, die als Herd der Unruhe gemeldet worden war, drang der Partylärm durch das offene Fenster zu ihr. Überall am Straßenrand waren Autos geparkt. Kennzeichen aus der Gegend, aber auch aus Hamburg und Celle.
Vor einem großen, modernen Einfamilienhaus hielt sie an. Eine Handvoll junger Leute stand und saß im Vorgarten, Flaschen und Gläser in den Händen, einige tanzten. Durch die geöffnete Eingangstür und die beleuchteten Fenster sah Sabine noch mehr Menschen. Das Haus war regelrecht vollgestopft mit Partygästen. Und sie vermutete, dass es dahinter im Garten weiterging. Technomusik dröhnte zu ihr herüber, begleitet vom Lachen und Kreischen der Feiernden.
Sabine stieg aus dem Streifenwagen, verschloss ihn, setzte die Dienstmütze auf und ging auf das Gebäude zu. Es war immer noch sehr warm, deshalb trug sie nur Uniformhemd und -hose, keine Jacke. Zwei junge Kerle, 20 vielleicht, bemerkten sie und musterten sie von oben bis unten.
»Du hast dich aber originell verkleidet, Süße«, sagte einer von ihnen. Er war offensichtlich völlig betrunken. »Bist du die Stripperin, die Emil uns versprochen hat?«
»Ganz vorsichtig«, entgegnete Sabine und sah den Burschen böse an. »Sonst können Sie gleich im Wagen Platz nehmen.«
»Ist ja schon gut«, sagte er verschreckt.
»Wo finde ich denn den Veranstalter dieses exklusiven Events?«, fragte sie die beiden.
»Der Emil? Der ist sicher im Garten. Am Pool. Oder so.«
»Emil weiter?«
»Emil Möller«, sagte nun der andere Junge, der nicht ganz so betrunken schien wie sein Freund.
Sabine ging ums Haus und gelangte in einen großen Garten, der von einem offenen Swimmingpool beherrscht wurde. Neben dem Pool standen auf Stativen riesige Boxen. Bunte Scheinwerfer tauchten das Geschehen in eine discoartige Beleuchtung. In einer Feuerschale brannten dicke Holzscheite. Sabine schätzte, dass sich ungefähr 40 Leute im Garten aufhielten. Viele im Pool. Manche in voller Bekleidung, andere in Badesachen, ein Junge und ein Mädchen ganz nackt. Auf der Wiese lagen engumschlungene Paare, auf der Terrasse wurde getanzt. Niemand hier war über 25. Auf den zahlreichen Gartenmöbeln saßen die Menschen, lachten, tranken, rauchten und schliefen. Ein leichter Hauch von Marihuana wehte zu Sabine herüber.
Die meisten der Feiernden nahmen keine Notiz von der Polizistin, die da mitten unter ihnen stand und ganz offensichtlich keine Stripperin war, sondern echt und bewaffnet.
»Suchen Sie mich?«, fragte eine Stimme hinter ihr plötzlich. Sabine drehte sich um. Ein junger Mann lächelte sie herausfordernd an. Er war blond, groß, schlank, gutaussehend. Er trug eine kurze helle Leinenhose, sonst nichts. Sein trainierter Oberkörper war braungebrannt. Falls er so betrunken war wie seine Gäste, konnte er das gut verbergen.
»Wenn Sie Emil Möller sind, dann ja.«
»Haben sich meine Dorfdeppennachbarn wieder beschwert?«, fragte er und nahm einen Schluck aus der Bierflasche, die er lässig in der Hand hielt. Eine junge Frau kam aus dem Dunkel des Gartens. Sie rückte sich ihren kurzen Rock und das knappe Top zurecht und stellte sich dicht neben Emil.
»Man darf doch einmal im Jahr laut sein, oder, Emil?«, lallte sie und hielt sich an seiner Schulter fest. Sie sah Sabine aus glasigen Augen an.
»Nein, meine Liebe«, sagte Sabine betont kräftig. Man hatte ihr in der Ausbildung gesagt, dass sie dazu neige, mit Kleinmädchenstimme zu sprechen, besonders bei Leuten, die ihr sympathisch wären. Das schränke die Autorität ein, hatte es geheißen.
»Das ist ein Gerücht. Sie dürfen Ihre Mitmenschen nicht belästigen. Nie.« Und an Emil gewandt sagte sie: »Ich nehme an, das ist das Haus Ihrer Eltern.«
Emil nickte.
»Und sind die da oder kommen die demnächst?«
»Nee«, sagte Emil und grinste wieder frech, »die sind in Thailand.«
Sabine war einigermaßen verwundert darüber, dass die Party trotz eines Streifenwagens vor der Tür und einer Polizistin im Garten mit unverminderter Heftigkeit weiterging. Hatten diese Rich Kids keinerlei Respekt vor der Polizei? Es lag ihr nicht, den harten Bullen rauszukehren, aber sie durfte sich auch nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Wie würde es ablaufen, wenn ihr Chef Metzger hier erschiene? Er war fast doppelt so alt wie sie, dick, hatte eine brutale Visage, wenn er wollte, obwohl er eigentlich ein eher weicher Kerl war. Würden diese kleinen Angeber vor Jakob strammstehen?
Hatte Sabines Vater recht, der mal gesagt hatte, dass sie für eine Polizistin viel zu attraktiv sei, da die bösen Buben eine schöne Frau nicht ernst nahmen? Und zu jung für einen solchen Einsatz war sie vermutlich ebenfalls. Sie war ja nur wenige Jahre älter als die Feiernden.
Egal. Sie hatte das Recht auf ihrer Seite, und das musste durchgesetzt werden.
»Okay«, sagte sie und sah Emil, wie sie hoffte, entschlossen an, »wir können das nun auf zwei Arten machen. Entweder Sie schalten sofort die Musik aus und verziehen sich mit Ihren Gästen ins Haus, oder ich rufe ein paar Kollegen hinzu, wir stellen Ihnen den Strom ab und schauen mal, was wir hier sonst noch so finden. Vielleicht reicht es ja für mehr Ärger als nur wegen Ruhestörung.«
»Ups«, rutschte der jungen Frau raus und auch Emil schaute überrascht.
»Okay, okay«, sagte er und wedelte beschwichtigend mit den Händen. »Wir sind jetzt leise, versprochen.«
Er nahm sein Handy aus der Hosentasche, rief eine App auf und berührte ein Symbol. Augenblicklich wurde es still. Einige Partygäste jammerten, maulten herum. Doch Emil gelang es, sie alle ins Haus zu scheuchen.
»Übrigens«, sagte Sabine, als sie sich von Emil begleitet auf den Weg zu ihrem Streifenwagen machte, »wenn Ihre besonders gut gelaunten Gäste heute noch Auto fahren wollen, sollten sie wissen, dass wir an der nächsten Ecke auf sie warten.«
»Ja, ist klar«, sagte Emil, »ich passe auf. Und Frau …«, er fixierte das Namensschild auf Sabines Uniformhemd, »Langkafel, ich würde mich freuen, wenn Sie zu meiner nächsten Party ganz privat kämen.« Er sah sie mit einem Hundeblick an, mit dem er bei Mädchen seines Alters sicher erfolgreich war.
»Übernimm dich nicht, Kleiner«, sagte Sabine und stieg in den Wagen.
Sie war mit sich zufrieden. Emil hatte verstanden und würde es für diese Nacht gut sein lassen. Die Bürgerkinder waren eben doch nur in gewissen Grenzen rebellisch. Sicher studierte der Junge in Hamburg oder Berlin irgendetwas Bedeutsames und würde es selbst mal zu einem hübschen Häuschen bringen. Bis dahin nutzte er die sturmfreie Bude, um etwas über die Stränge zu schlagen. Das war kein Kapitalverbrechen. Und für ein paar Gramm Gras würde Sabine kein SEK aus Lüneburg anfordern. Das Zeug hatten die doch längst im Klo runtergespült.
Ein halbes Jahr war Sabine nun auf ihrem Posten im Polizeirevier der Samtgemeinde Gartow, hinter dem großen Wald, am östlichen Rand des Landkreises Lüchow-Dannenberg. Sie hatte bei der Polizeidirektion in Lüneburg um die Versetzung in das 4.000-Seelen-Dorf im Wendland gebeten. »Du wirst dich zu Tode langweilen«, hatten die Kollegen sie gewarnt, und ihr Vorgesetzter hatte nach zwei Gläsern Sekt bei ihrer Abschiedsfeier auf sie eingeredet, dass sie ein großes kriminalistisches Talent sei, das er am Arsch der Welt nicht fördern könne.
Aber ihre Entscheidung war gut abgewogen und unumstößlich gewesen. Sie wollte bei ihrem Vater sein, dem einzigen Menschen auf der Welt, den sie nach dem zu frühen Tod ihrer Mutter vor drei Jahren noch hatte. Johannes Langkafel war im letzten Jahr 80 geworden. Sabine war seit frühester Kindheit daran gewöhnt, dass fremde Leute ihn für ihren Großvater hielten. Papa war auch Polizist gewesen. Er hatte in Sabine die Leidenschaft für diesen Beruf geweckt, Sabine wollte nie etwas anderes sein. Schon in der Grundschule, wo sie von zukünftigen Prinzessinnen und Filmstars umgeben war, beharrte sie auf dieser Wahl.
In der ersten Zeit nach Mamas Tod war Sabine alle paar Tage von Lüneburg aus zu Papa gefahren. Je nach Verkehr dauerte die Fahrt eineinhalb Stunden. Aber mit der Zeit wurde Papa immer tüdeliger. Weniger im Kopf, da war er nach wie vor ziemlich fit, eher in seinen Bewegungen. Mehrmals war er gefallen, einmal hatte er danach zwei Stunden im Haus gelegen, bis ihn jemand gefunden hatte. Das wollte Sabine nicht noch mal zulassen. Ein Umzug kam für Vater, der das kleine Häuschen in Gartow zusammen mit Kollegen fast vollständig selbst gebaut hatte, nicht infrage. Mein Vater wird nicht ewig leben, hatte sie zu ihrem Chef in Lüneburg gesagt. Karriere kann ich auch mit 35 oder 40 noch machen.
Sabine steuerte den blau-weißen Polizei-Passat aus Trebel hinaus auf die Bundesstraße Richtung Gartow. Sie war gut drauf. Zu Hause noch ein Bier mit Papa, der war um diese Zeit meistens noch wach. Morgen war Samstag, da hatte sie frei.
Es war nichts los auf der Bundesstraße, allerdings musste man um diese Jahreszeit immer mit Wild rechnen. Wildschweine, Rehe, der Wald war voller Gefahren für den Straßenverkehr. Im Radio lief ein Song von Billie Eilish, Sabine drehte lauter.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Da vorne, am Straßenrand, da war etwas. Sabine verringerte das Tempo und stellte das Radio aus. Es konnte passieren, dass eine Rotte Wildschweine erst unentschlossen im Graben kauerte, um genau in dem Moment loszurennen, wenn das Auto kam. Warum auch immer sie das taten, aber es waren eben nur Schweine.
Die beiden dunklen Gestalten, die da im Lichtkegel über den breiten Radweg tippelten, waren jedoch keine Wildschweine. Es waren zwei Männer. Sie trugen T-Shirts und kurze Hosen, der eine außerdem eine Weste mit Taschen. Nun winkte er. Sabine hielt den Wagen an.
Zwei Männer, mitten in der Nacht, weit weg vom nächsten Dorf, bewaffnet. Das hatte in diesem friedlichen Winkel der Welt nicht unbedingt Gefahr zu bedeuten, Vorsicht war trotzdem geboten. Mit einem Griff an den Gürtel versicherte sich Sabine, dass sie ihre Dienstwaffe dabeihatte. Dann fuhr sie das Beifahrerfenster ein Stück herunter.
»’n Abend die Herren«, sagte sie freundlich, »warum so spät in der Wildnis unterwegs? Gibt’s ein Problem?«
Einer der Männer beugte sich zu ihr herunter und sah durchs Fenster. Er war Anfang 50, fast kahlköpfig und glattrasiert. Sie hatte ihn noch nie gesehen, obwohl sie in Gartow und Umgebung fast jeden kannte. Sie war hier aufgewachsen und mit 14 aufs Internat nach Schleswig-Holstein gekommen. Der Fremde lächelte und entblößte ein lückenhaftes Gebiss. »Ja, danke, dass Sie anhalten. Wir haben uns verlaufen.«
»Verlaufen? Hier?«, sie lachte. »Das ist nicht leicht. Waren Sie auf der Jagd? Schwarzwild?«
»Ja, genau«, sagte der Mann, und Sabine wusste, wenn sie ihn nach einer Jagderlaubnis fragen würde, wäre er geliefert. Oder sie, denn noch hatte er die Waffe an der Schulter baumeln.
»Und was kann ich für Sie tun?«, fragte Sabine.






