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»Vielleicht können Sie uns in den nächsten Ort mitnehmen, das wäre wirklich nett.« Der andere Mann stand dicht hinter seinem Kollegen und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er schien ungewöhnlich nervös.
»Ist die Flinte geladen?«, fragte Sabine.
»Ja, äh«, stammelte der Kerl.
»Dann entladen Sie sie bitte«, sagte Sabine und legte zu ihrer eigenen Beruhigung die Hand auf ihre Pistole. Der Mann knickte den Lauf ab und nahm zwei Schrotpatronen aus den Läufen.
»Eine haben Sie abgefeuert, wie ich sehe«, sagte Sabine. »Und? Getroffen?«
»Nee, war zu schnell, die Sau«, sagte der Typ hinter dem Glatzkopf und kicherte gekünstelt.
»Haben Sie sonst noch Waffen dabei?«, fragte Sabine, ihr Misstrauen wuchs.
»Nein«, sagte der Glatzkopf. »Nur das Gewehr.«
»Kein Messer? Sie gehen ohne Jagdmesser auf Schwarzwild? Das ist nicht besonders waidmännisch.«
Der Mann begann wieder zu stammeln, er überlegte sich offensichtlich eine Lüge.
»Gut«, unterbrach ihn Sabine, und diesmal war sie sich sicher, dass es energisch klang. »Sie nehmen nun das Gewehr von der Schulter und legen es auf den Boden. Dann gehen Sie beide langsam vor mein Auto in den Lichtschein. Ich steige aus und Sie machen besser keine hektischen Bewegungen. Verstanden?«
Der Mann, der immer noch durchs Fenster glotzte, nickte. Er wirkte ängstlich. Der Glatzkopf folgte ihren Anweisungen und stolperte ohne Waffe vor den Streifenwagen. Sein Kollege folgte ihm auf Tuchfühlung. Nun sah Sabine die zwei Gestalten in voller Schönheit. Alte, verschossene Kleidung, blasse, kranke Gesichter. Wilderer, keine Frage. Aber keine Profis. Nicht von der Sorte, die die Beute unter der Hand an Restaurants verscheuerte, sondern arme Idioten, die sich einen Braten schießen wollten. Eher ungefährlich. Trotzdem blieb Wilderei eine Straftat. Sabine musste die beiden mitnehmen. Und zwar sie alleine. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis Kollegen aus der Umgebung hier wären. So lange wollte sie nicht warten.
Sabine stieg langsam aus und zog die Dienstwaffe, richtete sie jedoch nicht auf die Männer. Es reichte, wenn sie sie wahrnahmen.
»Ich werde Sie mitnehmen«, sagte sie, »und das funktioniert so: Ich lege Ihnen Handschellen an, oder besser, Sie legen sich gegenseitig Handschellen an. Dann steigen Sie hinten in den Streifenwagen und ich bringe Sie zur Wache. Dort klären wir, ob Sie Wilderer sind oder Jäger oder was auch immer. Klar so weit?«
Die Gestalten nickten, und Sabine reichte dem Glatzkopf das erste Paar Handschellen. Er legte sie seinem Kumpel an, wobei er sich ziemlich dämlich anstellte. Der Kumpel schien etwas jünger als der Glatzkopf zu sein, wirkte aber nicht weniger versoffen. Wenn diese Ganovengesichter in Gartow leben würden, wären sie Sabine sicher aufgefallen.
Nun gab sie dem Typen mit den langen grauen Haaren Handschellen. Der war damit weitaus geschickter, schien Erfahrung zu haben. Blitzschnell überprüfte Sabine den Sitz beider Handschellen und tastete die Verdächtigen nach weiteren Waffen ab. Die Kerle rochen muffig, ungeduscht, der eine nach Tabak. Sabine fand nur zwei Handys, einen Kompass und eine Taschenlampe.
»Haben Sie irgendwelche Papiere dabei?«, fragte Sabine, während die Männer auf der Rückbank Platz nahmen. Sie kannte die Antwort bereits.
»Nein, vergessen«, sagte der eine, der andere sagte nichts.
Damit war klar, dass sie die beiden über Nacht in ihrer kleinen Arrestzelle behalten würde, bis sie am nächsten Morgen mit Metzger die erkennungsdienstliche Erfassung und die Vernehmung durchführen würde. Tschüss, freier Samstag. Natürlich könnten die Kerle anschließend gehen, sie hatten offenbar nicht mal etwas geschossen. Erbärmlich, wie sie da nun auf der Rückbank saßen. Jede kriminelle Energie war verpufft.
»Dann sagen Sie mir wenigstens, wie Sie heißen.«
»Olaf Hohmann«, sagte der Glatzkopf.
»Karsten Koslowski«, sagte der Langhaarige.
»Woher?«
»Dannenberg.« Sabine war sicher, dass sie die Wahrheit sagten.
Sie startete den Wagen und fuhr langsam an. Im Rückspiegel beobachtete sie die Festgenommenen. Die Männer flüsterten. Der Langhaarige schien fast zu platzen vor Aufregung. Der Glatzkopf rang offenbar mit irgendeiner Entscheidung.
»Frau Wachtmeisterin«, stammelte er schließlich, »wir müssen da eine Aussage machen. Wir haben ein schreckliches Verbrechen entdeckt.«
Sabine schüttelte den Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein.
»Wirklich«, begann nun der Langhaarige, »da hinten, im Wald, da ist so ein entlegener Hof. Da haben wir zwei Leichen gefunden.«
Sabine fuhr rechts ran auf den Grasstreifen und stellte den Motor ab. Sie drehte sich zu den Gestalten um.
»Nur, dass wir uns richtig verstehen: Ich lass mich mitten in der Nacht nicht von zwei Schmalspurganoven wie euch verarschen. Was bezweckt ihr mit einer solchen Geschichte? Wollt ihr Zeit schinden? Wozu? Ich stecke euch in unser komfortables Doppelzimmer, und morgen könnt ihr gehen, wenn wir alles aufgeschrieben haben. Wenn ich gute Laune habe, bekommt ihr sogar noch ein Frühstück. Also?«
»Es stimmt«, sagte der Glatzkopf, er schien der Hellere der beiden zu sein, wenn ihn das auch nicht zu einem Hochbegabten machte. »Wir waren im Wald, wollten was schießen. Okay, das geben wir zu. Und dann haben wir da zufällig diesen Hof entdeckt. Da haben wir reingesehen.«
»Wieso?«, fragte Sabine, sie war gelangweilt von dem Quatsch.
»Es war irgendwie komisch«, sagte Karsten Koslowski, der Langhaarige, »die Tür stand offen, irgendwo brannte Licht.«
»Und was war daran komisch? Sie können doch nicht einfach in ein fremdes Haus gehen«, sagte Sabine.
»Ach, das ist doch jetzt egal«, sagte dieser Olaf ungeduldig, »wir sind auch gar nicht reingegangen. Wir haben nur reingeguckt, und da haben wir im Flur auf dem Boden diese zwei Leichen entdeckt – und ganz viel Blut.«
»Zwei Leichen?«, wiederholte Sabine ungläubig.
»Und ganz viel Blut«, ergänzte Koslowski.
Sabine startete den Wagen und drehte schwungvoll auf der Landstraße. Sie gab Gas. »Okay, Männer. Wir fahren da hin, und ich sehe mir das an. Wenn ihr mich verarscht, bringe ich euch wegen Wilderei und Behinderung von Vollstreckungsorganen für eine lange Zeit hinter Gitter, verlasst euch drauf.«
Natürlich war diese Drohung Bullshit, aber diese beiden verängstigten Vollpfosten glaubten im Moment sicher alles.
Koslowski und Hohmann dirigierten Sabine kurz hinter der Stelle, an der sie sie aufgegabelt hatte, links in den Wald hinein. Sie folgten eine Weile lang einem schmalen, unasphaltierten Weg, dann bogen sie noch mal ab. Vorher stritten sich die Männer noch, ob es schon dort war oder erst ein Stück weiter.
Sie waren richtig. Über eine unebene, überwucherte Zufahrt gelangten sie nach gut 500 Metern auf einen Hof. Sabine fuhr fast täglich in der Gegend herum zwischen Gartow, Prezelle, Trebel und wie die Käffer alle hießen. Dass sich in dieser Ecke ein Hof befand, hatte sie nicht auf dem Schirm gehabt. Der Hof war eher klein.
Wer lebte denn mitten im Wald? Papa würde das jetzt wissen. Aber der saß zu Hause vor dem Fernseher und trank sein Gute-Nacht-Bier alleine.
Sabine stellte den Motor ab und zog den Zündschlüssel. Sie stieg aus und sagte Richtung Rückbank: »Sie bleiben im Auto, und kommen Sie nicht auf dumme Ideen. Ich könnte sauer werden.« Der letzte Satz gefiel ihr, und er schien Eindruck zu machen. Olaf und Karsten kauerten stumm nebeneinander.
Mit gezogener Waffe in der einen Hand und der Taschenlampe in der anderen ging Sabine auf das Haus zu. Sie erwartete nicht wirklich, Leichen zu finden, und dachte darüber nach, wie sie es den beiden Vögeln in ihrem Streifenwagen heimzahlen würde. Sie wollte aber auch nicht die Dumme sein, wenn sich hinter dieser verwitterten Tür, die sie nun langsam aufschob, doch ein Verbrechen abgespielt hatte.
Was sie wenige Sekunden später sah, ließ sie erschaudern. Die Wilderer hatten nicht gelogen. Dort lagen zwei Menschen inmitten von Blut, viel Blut. Sie drehte um und rannte zum Auto.
»Na, wir haben recht gehabt, oder?«, fragte einer der Männer, doch Sabine antwortete nicht. Über Funk machte sie in der Leitstelle Meldung über ihren Fund. Dann näherte sie sich mit vorsichtigen Schritten wieder dem Haus, die Waffe im Anschlag.
Kapitel 4
Sahas war so schnell gelaufen, wie er konnte, nachdem er den fürchterlichen Knall gehört hatte. Das war sicher ein Schuss gewesen. Von einem Gewehr. Udgam hatte auch ein Gewehr, mit dem er manchmal Tiere im Wald schoss. Sahas durfte nicht mit, wenn er das tat. Zu Hause kochte Kala die Tiere dann. Sahas mochte dieses Essen nicht besonders gerne, aber er musste es essen, sonst wurde Udgam böse und sperrte Sahas ein.
Sahas war immer hinter dem Hund hergelaufen. Der Hund war schnell und der Junge konnte ihm in seinen Hausschuhen kaum folgen. Irgendwann hielt der Hund an und legte sich auf den Boden. Sahas tat es ihm nach. Es war nun kälter geworden und Sahas fror. Wie gerne wäre er jetzt in seinem Bett. Der Wald machte Geräusche, ganz leise, ungewohnte Geräusche. Manchmal huschte etwas über das trockene Laub. Irgendein Tier lief einen Baumstamm hoch. Es war alles fremd für Sahas, aber er hatte keine Angst. Sein Name bedeutete Mut, hatte Kamini ihm erklärt. Und darum war er besonders mutig.
Doch Sahas kannte auch Angst. Im dunklen Keller, wenn er mal wieder allein oder mit den anderen eingesperrt war. Er hatte Angst vor Udgams Wut und vor seinen Schlägen. Natürlich fürchtete er sich vor Om, der aber auch ihr aller Beschützer war. Und Sahas hatte Angst vor Fremden. Nie, nie im Leben würde er mit einem Fremden sprechen oder gar mit einem mitgehen, das hatten Kamini und Garima ihm eingeschärft. Er hatte auch Angst vor der Welt hinter dem Wald. Aber hier im Wald hatte er keine Angst.
Der Hund sah ihn an. Und plötzlich kam Sahas der Gedanke, dass dieses graue Tier dort gar kein Hund war. Es war ein Wolf. Kamini hatte ihm Geschichten mit Wölfen vorgelesen und ihm erklärt, dass Wölfe nicht wie Hunde bei Menschen leben, sondern alleine oder mit anderen Wölfen zusammen im Wald. Die Wölfe auf den Bildern zu den Geschichten waren schwarz und groß, und in den Geschichten waren sie böse. Sie fraßen Menschen. In einer Geschichte hatte ein Wolf eine ganze Frau verschluckt, ohne zu kauen. Hinterher, als der Wolf aufgeschnitten wurde, lebte die Frau noch. Sahas hielt das für Blödsinn und Kamini sagte, dass das ja nur eine Geschichte sei und da müsse nicht alles stimmen.
Aber vielleicht stimmte es ja, dass Wölfe Menschen fressen. Jetzt bekam Sahas doch schreckliche Angst. Würde dieser Wolf ihn fressen? Oder waren graue Wölfe nicht so gefährlich wie schwarze?
»Hey, Wolf«, rief er leise, »bist du mein Freund?« Der Wolf spitzte die Ohren und sah Sahas neugierig an. Er stand auf und es machte den Eindruck, als wolle er näher kommen, aber dann legte er sich wieder hin.
»Hab keine Angst, Wolf. Ich bin Sahas, ich bin dein Freund.« Doch der Wolf schien ihn nicht zu verstehen. Er legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Der Wolf ist müde, dachte Sahas, genau wie ich. Der Boden war weich, bald schlief der Junge ein, wobei er noch ein paarmal zuckte. Später, im Schlaf, vielleicht nur im Traum, spürte Sahas etwas Warmes, Weiches neben sich. Und in seiner Hand warme, feuchte Luft.
Sahas erwachte von schrecklichem Lärm. Sirenen, wie er sie aus den Filmen kannte, die Om ihm manchmal mitbrachte, tönten in der Ferne. War das ein Traum? Er hob den Kopf. Nein. Die Geräusche waren echt. Und auch der Wolf, der dicht neben ihm lag, war echt. Der Wolf hatte verstanden, dass Sahas sein Freund war. Auch der Wolf hatte den Kopf angehoben. Nun hörten sie direkt über sich einen fürchterlichen Lärm. Irgendetwas dröhnte am Himmel über den Bäumen. Lichtstreifen, wie von einer riesigen Taschenlampe, leuchteten von oben durch die Bäume auf den Boden. Der Lärm entfernte sich, die Lichtstreifen mit ihm.
Der Wolf sprang auf und lief los. Sahas folgte ihm.
Kapitel 5
Sabine hatte in der Leitstelle in Lüneburg richtig Druck gemacht und die Kollegen hatten verstanden, dass es nicht um Viehdiebstahl ging. Sie würden sich beeilen, aber sicher eine Dreiviertelstunde brauchen. Da Sabine in dieser Einöde keinen Handyempfang hatte, bat sie die Kollegen in der Leitstelle, zu versuchen, Jakob Metzger zu erreichen und auch den Anwärter Attila Yilmaz, der ein paar Wochen in Gartow Dienst schob und für diese Zeit in Gorleben bei einer Bekannten Metzgers ein Zimmer bewohnte. Sabine versprach sich allerdings nicht viel von diesem Hilferuf, denn Metzger lag sicher wie üblich im Koma und würde sein Telefon nicht hören und Attila hatte kein Auto.
Natürlich wäre es vernünftiger gewesen, im Streifenwagen auf das Einsatzkommando zu warten, aber Vernunft gehörte nicht unbedingt zu Sabines Kernkompetenzen. Musste sie damit rechnen, dass der Mörder, so es sich überhaupt um Mord handelte, noch im Haus war? Ziemlich unwahrscheinlich. Sollte er da gewesen sein, als die beiden Deppen hier vor einer Stunde herumliefen, so war er inzwischen sicher über alle Berge. Sie hatte Fragen an Koslowski und Hohmann. Hatte ein Fahrzeug auf dem Hof gestanden, das jetzt nicht mehr da war? Hatte sich in der Zwischenzeit sonst etwas verändert? War ein Schuppen geschlossen, der vorher offen war? Solche Sachen. Auch hätte sie fragen können, ob die Haustür vielleicht weiter oder weniger weit geöffnet gewesen war, als die beiden sich aus dem Staub gemacht hatten. Aber dafür hätte sie zurück zum Auto gemusst. Nun stand sie schon in dem dunklen Hausflur und bewegte sich langsam vorwärts.
Der Flur sah aus wie die meisten Flure in diesen Häusern. Lang, dunkel. Holzvertäfelung. Alte Möbel, alte Fliesen. Was fehlte, waren die üblichen Jagdtrophäen, Landschaftsbilder und frommen, gestickten Sprüche. Stattdessen hingen hier bunte Bilder mit indischen Motiven. Ein großes, gerahmtes Bild von einem alten Mann mit weißem Rauschebart. War das nicht dieser Guru, über den Sabine neulich mal eine Doku gesehen hatte?
Direkt neben den Leichen blieb Sabine stehen. Es waren nicht die ersten Toten, die sie sah, was nicht bedeutete, dass sie nicht schockiert war. Ein bärtiger Mann um die 40. Er hatte den Mund halb geöffnet. Sabine leuchtete ihm ins Gesicht. Der Mundraum war völlig zerstört, blutig. Ihr fiel eine Pistole in seiner rechten Hand auf, die halb von seinem Körper verdeckt wurde. Der hat sich selbst in den Mund geschossen, dachte Sabine. Und die Frau neben ihm, nur mit einem Schlafanzug bekleidet, hatte er vermutlich vorher getötet. In ihrem Hinterkopf klaffte ein blutverklebtes Einschussloch. Sie lag merkwürdig verrenkt auf dem Bauch, sodass Sabine ihr Gesicht nicht sehen und ihr Alter nicht schätzen konnte. Natürlich durfte sie die Leiche nicht umdrehen. Die Mordkommission aus Lüneburg würde sie sonst lynchen. Die Frau hatte brünette Haare, von grauen Strähnen durchzogen.
Erweiterter Selbstmord. Das würden die Ermittlungen der Scharen von Spezialisten, die hier jeden Moment eintreffen mussten, sicher schnell bestätigen. Dann musste nur noch die Identität der Toten festgestellt werden und die Sache wäre erledigt.
Sabine hätte gerne Papa angerufen, um ihn zu fragen, wer auf diesem Hof lebte. Aber es war inzwischen 1 Uhr. Da schlief der alte Mann längst. Außerdem hatte sie in dieser Gegend ja keinen Handyempfang. Es gab sicher Dokumente im Haus, mit denen sich die Identität der Toten klären ließe, doch danach durfte sie ohne Erlaubnis nicht suchen.
Direkt hinter den Toten führte eine alte, steile Holztreppe ins Obergeschoss. War die Frau von oben gekommen und dann von dem Mann erschossen worden? Nein. Er hatte sie von hinten erschossen. Also wollte sie die Treppe hinaufgehen. Vermutlich hatte sie zuvor schon im Bett gelegen oder war auf dem Weg dorthin gewesen, dafür sprach der Schlafanzug. Wann war das? Die Blutlache war fast vollständig getrocknet. Das dauerte bei der Hitze sicher nicht so lange, Sabine hatte damit keine Erfahrung. Der Mann, in Unterhose und T-Shirt, wollte auch ins Bett. Oder kam er von dort?
Die Schlafzimmer befinden sich sicher im Obergeschoss. Wer schlafen geht, zieht sich doch im Schlafzimmer um, geht ins Bad und dann ins Bett. Aber nicht mehr nach unten. Oder lag das Bad im Erdgeschoss? Sabine suchte mit der Taschenlampe die Türen ab. Die Küchentür war leicht zu erkennen, sie hatte ein Fenster. Im Raum dahinter brannte ein schwaches Licht. Eine Kerze? Eine andere Tür führte vermutlich ins Wohnzimmer, in die gute Stube. Weiter hinten, hinter der Treppe, erkannte Sabine noch zwei Türen. Möglich, dass sich dort ein Badezimmer befand.
Rechts neben der Treppe war eine Garderobe. Mäntel und Jacken hingen daran. Alte Sachen, nichts besonders Wertvolles oder Schönes. Eine Wetterjacke von Jack Wolfskin, ein dicker Filzmantel, wie Jäger ihn früher trugen. Unter der Garderobe standen Schuhe. Wanderschuhe, alt und abgelaufen. Größe 45, schätzte Sabine. Sie konnten dem toten Mann gehört haben. Außerdem ein Paar hässliche, grobe Wandersandalen, eher einer Frau zuzuordnen. Größe 38 etwa. In ähnlicher Größe Gummistiefel und daneben, Sabine richtete die Taschenlampe darauf, noch zwei weitere Gummistiefel. Bunt, in Regenbogenfarben und schätzungsweise Größe 32. Wie alt war ein Kind, das diese Größe trug? Sabine hatte keine Ahnung. Die Stiefel waren schmutzig und abgenutzt. Entweder das Kind trug sie jeden Tag oder die Schuhe wurden durch die Familie gereicht, wie das so üblich ist. Regenbogenstiefel: Sind die nur was für Mädchen oder tragen die auch Jungen? Sabine hatte auch davon keine Ahnung. Sie kannte genug Leute mit Kindern, achtete aber nicht auf solche Details. Viel drängender war die Frage: War das Kind noch im Haus? Das Kind der beiden Toten?
Sabine stieg vorsichtig über die Leichen. Kein Blut auf der Treppe. Sie sind also nicht nach den Schüssen aus dem ersten Stock hinuntergefallen. Die Stufen knarzten. Stickige Wärme, vom Blutgeruch geschwängert, stieg nach oben. Mit dem schmalen Strahl der Taschenlampe tastete Sabine den oberen Flur ab. Viele Türen, sechs oder acht. Bis auf eine waren alle geschlossen. Auf dem Boden lagen zerschlissene Webteppiche. An den Wänden hingen alte kitschige Poster mit offenbar indischen Göttern und wieder ein Bild von diesem Guru.
Sabine ging langsam zu der offen stehenden Tür und blickte in den Raum. Ein Kinderzimmer. Ein Kinderbett, ein kleiner Schreibtisch, ein Regal mit wenigen abgenutzten Spielsachen. In einem Pappkarton lag ein Haufen Wäsche. Kinderkleidung. Hosen, T-Shirts, Unterwäsche. Die Sachen waren verschlissen, hatten teilweise Löcher, waren aber offenbar gewaschen. An eine Wand hatte das Kind etwas geschrieben. Schriftzeichen, die an Buchstaben erinnerten, aber keine waren. Jedenfalls keine, die Sabine irgendwie bekannt vorkamen. Im Regal standen ein paar Bücher. Ein Bilderbuch mit Grimms Märchen. Ein Buch über einen Bauernhof. Eine vergilbte Ausgabe von »Der kleine Prinz«, eine Kinderbibel. Sabine hatte bei ihren Bekannten Kinderzimmer gesehen, die Spielwarengeschäften ähnelten, da hatten Achtjährige schon Laptops. Das Kind in diesem Haus besaß kaum das Nötigste. Aber wo war es? Sabine gab sich einen Ruck. Sie musste sich beeilen. Wenn dieses Kind sich irgendwo versteckt hatte, dann zählte jede Minute.
Sie öffnete die nächsten Türen, blickte in unordentliche, muffige Schlafzimmer. Wie viele Menschen lebten in diesem Haus? Mehr als die zwei im Flur waren es sicher. Mit etwas Zeit und System würde man deren Anzahl anhand der vielen Dinge hier sicher herausfinden.
In mehreren Räumen versuchte Sabine, das Licht einzuschalten, doch es blieb dunkel. Es gab keinen Strom. In den Zimmern, die sie hektisch durchkämmte, waren viele Betten. Kleidung lag auf dem Boden oder war unordentlich in offene Regale gestopft.
Wo waren die Bewohner des Hauses? So staubig, wie es in dessen Innern war, konnten sie auch schon länger weg sein. Sabine zählte mindestens acht Schlafplätze.
Sie öffnete Schränke, schaute unter Betten, hinter einen schimmligen Duschvorhang vor einer freistehenden Badewanne in einem heruntergekommenen Badezimmer. Ein Raum schien als eine Art Arbeitszimmer zu dienen. Auf einem einfachen Schreibtisch standen eine Tastatur und ein Flachbildschirm, der sicher bereits einige Jahre auf dem Buckel hatte. Der dazugehörige Computer oder ein Laptop waren nicht zu entdecken. Es gab auch keine Ordner mit Dokumenten, wie man sie sonst an solchen Plätzen hat. Auf einem kleinen Regal befand sich ein Fernsehgerät, sicher über 20 Jahre alt, daneben ein Videorekorder. Im Fach darunter stapelten sich vielleicht 50 CDs oder DVDs. Sogar ein paar Videokassetten im VHS-Format, wie Sabine sie aus ihrer Kindheit kannte, lagen im Regal. Sabine hätte sich diese Dinge gerne genauer angesehen, doch zuerst musste sie suchen. Was auch immer. Vielleicht ein Kind.
Der Keller. Dieses Haus hatte doch sicher einen Keller, vermutlich als Kühlkammer genutzt. Sabine stürmte die Treppe hinunter. Sie war wie besessen von dem Gedanken, hier noch eine lebende Seele zu finden. Am Ende des Flures im Erdgeschoss entdeckte sie, was sie suchte. Eine in den Boden eingelassene Klappe aus massivem Holz. Sie versuchte, die Klappe anzuheben, doch sie war mit einem Stahlbeschlag und einem Vorhängeschloss an der Wand versperrt. Sabine zögerte nicht lange, setzte die Pistole an und schoss. Es gab einen infernalischen Knall und das Schloss war gesprengt. Brocken von Putz und Holzsplitter verteilten sich auf dem Flurboden.
Die Klappe war schwer, und Sabine hatte Mühe, sie zu öffnen. Kalte, feuchte Luft wehte ihr entgegen. Es roch faulig, der typische Geruch alter Keller. Vorsichtig stieg Sabine die steile Treppe, eigentlich eher eine Leiter, hinunter. Wie erwartet erschien der Keller kleiner als das gesamte Haus. Der Gang endete nach wenigen Metern. Drei Türen befanden sich hier und eine frei zugängliche Öffnung. Darin war eine alte Ölheizungsanlage mit einem Tank untergebracht. Sie wirkte trocken und verstaubt. Es roch auch nicht nach Öl. Vermutlich war die Zentralheizung seit Langem kaputt. Das erklärte auch den Stapel mit Brennholz an der Wand. Hinter zwei der Türen fand Sabine Vorräte. Eingekochtes Obst und Gemüse, eine Kartoffelkiste mit wenigen ausgekeimten Kartoffeln, verstaubte Weinflaschen. In einem Regal waren Konservendosen aufgereiht. Sie waren nicht so verstaubt. Tomaten, Sauerkraut, rote Bohnen, grüne Bohnen und vieles mehr. Sechs Flaschen mit Speiseöl. Im Regal daneben stapelten sich gut 20 Papppackungen mit verschiedenen Nudeln. Außerdem große Plastikbeutel mit Reis. Mindestens zehn Stück mit je fünf Kilo Inhalt. Ein Sack mit getrockneten Kichererbsen, einer mit Linsen. Verhungern würde auf diesem Hof so schnell niemand, dachte Sabine.
Die letzte der Türen war aus Stahl und sicher lange nach der Errichtung des Bauernhauses eingebaut worden. Sie war mit einem dicken Riegel verschlossen, der ebenfalls mit einem Vorhängeschloss versperrt war. Wenn sich ein Kind, oder wer auch immer, in diesem Haus versteckte, dann sicher nicht dahinter. Es sei denn, der Mensch ist eingesperrt worden.
Sabine wollte dieses Geheimnis lüften, bevor die Kollegen eintrafen. Was war es, was sie da trieb? Der Minderwertigkeitskomplex einer Dorfpolizistin? Wollte sie mit am großen Rad drehen, obwohl das in ihrem Dienstplan nicht vorgesehen war? Ja. Vermutlich. Die Kollegen von der Polizeidirektion Lüneburg würden meckern, mehr aber auch nicht.
Hier im Keller war der Schuss noch lauter, und es klingelte Sabine in den Ohren. So hörte sie die Geräusche vor dem Haus erst spät. Motoren, Stimmen, Schritte. Der Lärm eines Hubschraubers, der über den Hof flog. Jemand polterte die Treppe hinunter.
Sabine blickte in die Mündung einer Maschinenpistole, die ein vermummter und behelmter Beamter ihr entgegenstreckte. Zwei weitere Männer im gleichen Outfit drängten sich hinter ihm. Als der SEK-Mann realisiert hatte, dass er es mit einer uniformierten Kollegin zu tun hatte, senkte er die Waffe.
»Was zum Teufel machen Sie hier?«, rief der Beamte wütend. Seine Stimme klang dumpf durch die Maske. »Ich hätte beinahe geschossen.«
»Haben Sie aber nicht, weil Sie ein erfahrener und besonnener Beamter sind. Danke dafür«, sagte Sabine und lächelte. »Ich bin Polizeiobermeisterin Sabine Langkafel von der Polizeistation in Gartow. Ich habe die beiden gefunden.«





