- -
- 100%
- +
»Welche beiden meinen Sie?«, fragte der Mann, der seine Sturmhaube nun so weit heruntergezogen hatte, dass Sabine sein junges, freundliches Gesicht erkennen konnte. »Die oben im Flur oder die in Ihrem Streifenwagen?«
»Genau genommen alle vier. Ist ne lange Geschichte. Ich sehe mich hier gerade um und in diesem Raum war ich noch nicht.«
»Was glauben Sie denn, dort zu finden?«, rief eine Frauenstimme von der Kellertreppe. Eine Frau um die 40 in Zivil stieg die Stufen hinunter und zwängte sich an den SEK-Beamten vorbei. Es war Melanie Gierke von der bei Verbrechen dieser Größenordnung zuständigen Polizeidirektion in Lüneburg. Eine legendäre Polizistin. Jeder kannte sie. Sabine hatte in ihrer Lüneburger Zeit nie mit Morden zu tun gehabt, deshalb war sie ihr nur einmal eher zufällig begegnet. Die Gierke erinnerte sich bestimmt nicht an Sabine. EmGe, wie sie hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, eilte der Ruf voraus, genial, effizient und verdammt unfreundlich zu sein.
»Äh, guten Abend, Frau Gierke«, stammelte Sabine, die sich augenblicklich fühlte wie eine Schülerin, die unerlaubt den Pausenhof verlassen hatte. »Es deutet einiges darauf hin, dass ein Kind in diesem Haus lebt. Vielleicht versteckt es sich irgendwo.«
»Hinter Türen, die man aufschießen muss?«, fragte EmGe und lachte höhnisch. Sie war so groß wie Sabine, etwas fülliger und hatte sehr kurze wasserstoffblonde Haare. Sie war ungeschminkt. Bekleidet war die Gierke mit einem blaukarierten Flanellhemd, das nur am Bauch in der Hose steckte, und einer hellblauen Jeans. »Na, dann lassen Sie uns mal gucken, ob das Kind da drin ist«, sagte Melanie Gierke.
Sabine entfernte das zerschossene Schloss und schob den schweren Eisenriegel nach oben. Die Stahltür ging nach außen auf, sodass alle ein paar Schritte zurücktreten mussten. Dann leuchtete Sabine in den Raum.
»Ach du Scheiße«, entfuhr es Sabine und EmGe nach einigen Sekunden gleichzeitig.
Kapitel 6
»Ey, Kiste, das war doch schon wieder ein Schuss, haste das gehört?«
Olaf war fast eingeschlafen, als ihn der Knall erschreckt hatte. Es war warm und stickig im Streifenwagen, das Beifahrerfenster stand nur einen schmalen Spalt offen. Da kam nicht viel Luft herein.
»Ja, klar habe ich das gehört. Was ballert die da rum? Meinste, die braucht Hilfe?« Karsten versuchte, die Autotür aufzumachen, doch die war natürlich verriegelt.
»Du willst der Polizei helfen? Da muss ich aber lachen, Kiste, echt jetzt.«
»Wieso schießt die da rum? Da war doch keiner mehr. Jedenfalls keiner, auf den man noch schießen muss.« Nach einer kurzen Pause rief er: »Scheiße, ich brauch ne Kippe.«
Der Kerl ging Olaf auf die Nerven. Sie saßen schon zu lange zusammengepfercht in diesem Streifenwagen. Das war heute entschieden zu viel Kiste für Olafs Geschmack. Vor allem, wenn es nichts zu saufen gab. Kistes Gelaber war auf Dauer nur mit Alkohol zu ertragen. Ebenso genervt war Olaf von dieser durch und durch misslungenen Aktion. Sie hatten keinen Wolf geschossen und saßen trotzdem in einem Polizeiwagen. Die 5.000 Euro waren zum Teufel. Eine zweite Chance würde der Bauer ihnen nicht geben. Außerdem würden ihm die Bullen sicher die Flinte abnehmen. Eine satte Geldstrafe stand ihm auch bevor. So ein Mist. Er war total pleite.
In diesem Moment wurde es laut. Eine Menge Fahrzeuge mit Blaulicht kamen auf den Hof gerast, über ihnen ratterte ein Hubschrauber. Der würde hier nicht landen können, dachte Olaf.
Eine Gruppe bewaffneter und mit schusssicheren Westen, Helmen und Helmlampen ausgestatteter Männer, wie sie Olaf nur aus dem Fernsehen kannte, rannte auf das Haus zu. Einige der Männer glotzten im Vorbeilaufen in den Streifenwagen.
»Wir müssen ihnen das von dem Kind erzählen«, sagte Olaf schließlich. Er war so durcheinander gewesen, dass er der Polizistin seine Beobachtung verschwiegen hatte.
»Was für ein Kind?«, fragte Karsten.
»Na, diese Gestalt, die da war, als ich auf den Wolf geschossen habe. Haste doch auch gesehen.«
»Nee, Olaf, habe ich nicht. Da war nix. Du säufst zu viel, das ist alles. Da sieht man schon mal kleine grüne Männchen.« Er lachte.
»Da war was, echt, glaub mir«, sagte Olaf.
»Ach ja, und wie willst du der Süßen das erzählen?«, Kiste verstellte die Stimme, um möglichst lächerlich zu klingen. »Hey, Frau Kommissarin, als wir da vorhin einen Wolf abknallen wollten, da lief da noch so ein Hobbit rum …«
»Von dem Wolf muss ich ja nichts sagen. Ich kann ja einfach von dem Kind erzählen.«
»Die glaubt dir doch kein Wort. Vergiss es. Wir halten schön die Klappe. Dann sind wir ganz schnell raus aus der Nummer, glaub mir.«
Olaf war nicht einverstanden mit Kistes Sicht der Dinge. Kiste war einfach zu blöd. Das war das Problem. Olaf würde eine Gelegenheit finden, der Polizistin einen Tipp zu geben.
Sein Blick fiel auf eine Frau mit kurzen blonden Haaren, die schnell auf das Haus zuging. Sie hatte ein Funkgerät oder so was am Ohr. Sie sah recht scharf aus, hatte einen geilen fetten Arsch. Olaf sah ihr nach. Kiste bemerkte das und sagte nur: »Total lesbisch, glaub mir.« Kiste war einfach zu blöd.
Kapitel 7
Melanie Gierke fand als Erste die Sprache wieder. »Na, das ist ja eine schöne Bescherung«, sagte sie und betrat vorsichtig den Raum. Sabine folgte ihr. Zwei SEK-Beamte tauchten die Umgebung mit ihren Helmlampen in ein gespenstisches Licht.
Vier Stockbetten standen mit ihren Breitseiten an den Wänden, wie in einer großen Gefängniszelle. Auf den dünnen Matratzen ohne Laken lagen schmuddelige, zerknüllte Decken. Auf drei der Betten entdeckten sie Körper: Drei Frauen, eine um die 30, die anderen beiden deutlich älter, lagen auf dem Rücken und hatten die Augen nach oben gerichtet. Jede von ihnen hatte ein Einschussloch in der Stirn. Die Frauen trugen einfache, alte Schlafanzüge und hatten selbstgestrickte Wollsocken an den Füßen.
Der Kellerraum war nicht besonders hoch, kaum mehr als zwei Meter, und etwa 25 Quadratmeter groß, schätzte Sabine. Er hatte kein Fenster, sondern nur ein paar Lüftungsschlitze an einer Seite unter der Decke. Die Wände waren vor langer Zeit mal weiß gestrichen worden, doch die Farbe war von Feuchtigkeit und Schimmel durchsetzt. Es roch muffig.
Der Lichtstrahl einer Helmlampe fiel auf einen Tisch in einer Ecke mit vier Stühlen. Auf dem Tisch standen benutzte Plastikschälchen mit Löffeln. Es gab ein schmutziges Waschbecken und daneben ein Campingklo, von dem ein leichter, chemischer Geruch ausging. An einer Wand befand sich ein Regal mit Keks- und Cornflakes-Packungen, daneben sicher ein Dutzend Tetrapacks mit H-Milch. Auch in diesem Raum konnte man einige Zeit überleben, dachte Sabine.
Schweigend gingen Sabine und die Gierke von Leiche zu Leiche. Die SEK-Männer standen als reglose Lichtmasten mitten im Raum.
»Im Schlaf erschossen«, murmelte die Gierke schließlich, ohne Sabine anzusehen, »darum liegen sie so friedlich da.«
»So scheint es«, sagte Sabine und war sich nicht sicher, ob ihre Meinung überhaupt gefragt war. »Eine Frau kann der Täter vielleicht noch im Schlaf erschießen, spätestens dann werden die anderen aber wach und bleiben sicher nicht brav im Bett liegen.«
»Genau, Kollegin«, sagte Melanie Gierke und deutete auf den Tisch in der Ecke, »und darum werden wir in diesen Schüsseln dort Reste des Mittels finden, das die Damen in Tiefschlaf versetzt hat.«
Mit Hinweis auf die Spurensicherung scheuchte die Kommissarin alle aus dem Raum und schloss die Tür. Zusammen gingen sie ins Erdgeschoss, wo eine Rechtsmedizinerin mit einem Assistenten bei den Leichen hockte.
»Im Keller könnt ihr dann weitermachen«, sagte Frau Gierke im Vorbeigehen. »Da sind noch drei.« Die beiden Beamten sahen der Kommissarin erstaunt nach.
Die Polizisten mussten sich vorsichtig im Flur bewegen, der nun von einer Lichtanlage grell ausgeleuchtet war. Die Spurensicherung hatte Schilder mit Zahlen aufgestellt. Ein Projektil lag auf den Fliesen, das mit einem Kreidekringel markiert war. Sicher meins, dachte Sabine.
Sie trat mit Melanie Gierke hinaus auf den Hof. Es war immer noch stockdunkel. Die Sonne würde erst in zwei oder drei Stunden aufgehen. Eine Menge Fahrzeuge standen herum. Streifenwagen, ein Zivil-PKW, ein Rüstwagen der Feuerwehr, ein Mannschaftswagen des SEK. An einigen Fahrzeugen hingen abgerissene Zweige, die sie bestimmt in der engen Zufahrt erwischt hatten. Ein Rettungswagen verließ gerade den Hof, hier gab es nichts mehr zu retten. Gleich würden Leichenwagen kommen, um die Opfer in die Rechtsmedizin nach Hannover zu bringen. Sabine blickte auf ihren Streifenwagen. Hohmann und Koslowski saßen zusammengesunken auf der Rückbank. Sie waren eingeschlafen. Ihr Jagdausflug war anstrengender verlaufen als erwartet.
Die Gierke unterhielt sich lange mit einem Mann in Sabines Alter, der wie sie in Zivil war und vermutlich zu ihrem Ermittlerteam gehörte. Dann wandte sie sich Sabine zu. »So, Frau …«, sagte Melanie Gierke.
»Sabine Langkafel.«
»Ja, Frau Langkafel, wie Sie sich heute verhalten haben, war in hohem Maße unprofessionell. Es steht Ihnen nicht zu, alleine über einen Tatort zu trampeln. Ihre Unvorsichtigkeit kann die Ermittlungen erheblich behindern. Ich bin fast geneigt, gegen Sie …«
Sabine unterbrach die Kollegin. Sie wollte sich nicht rundmachen lassen. Sie nahm allen Mut zusammen. »Ich weiß, Frau Gierke, wie man sich an einem Tatort zu verhalten hat. Aber es schien mir in diesem Fall geboten, keine Zeit zu verlieren. Es war ja nicht ausgeschlossen, dass das Kind noch im Haus ist und irgendwo in einem Versteck hockt oder eingesperrt ist.«
»Und? Haben Sie ein Kind gefunden? Nein. Das Kind kann lange weg sein, die paar Klamotten sagen gar nichts. In dem Haus sind, das Gefängnis im Keller mitgerechnet, 15 oder 16 Betten. Sollen wir jetzt nach zehn weiteren Menschen suchen? Einige der Zimmer da oben, sagte mir der Kollege gerade, sind vermutlich seit Jahren nicht mehr betreten worden. Da liegt der Staub zentimeterdick. Also machen Sie nicht alle verrückt wegen eines Kindes, das hier schon ewig nicht mehr wohnt.«
Sabine überzeugte diese Erklärung nicht, aber sie sah auch keine Chance, nachzuhaken. Ein Beamter kam vorbei und gab beiden Frauen unaufgefordert kleine Wasserflaschen. War dieser Fall für sie nun zu Ende?
Frau Gierke ließ sich von Sabine in Kürze erzählen, wie sie überhaupt auf diesen Tatort gestoßen war. Die Kommissarin blickte grinsend zum Streifenwagen. Als Sabine geendet hatte, blickte die Gierke sie streng an.
»Frau Langkafel, ich sage Ihnen jetzt, wie das hier weitergeht: Sie nehmen Ihre Wilddiebe dort und schaffen sie vom Hof. Stellen Sie die beiden bis morgen Vormittag unter Arrest, halten Sie die Personalien fest, das komplette Programm, Sie wissen schon. Wenn Sie mit Ihrer Einschätzung richtigliegen, dass es sich bei den Männern nicht um die Täter handelt, dann können sie gehen.«
»Meinen Sie nicht auch, dass wir es mit einem erweiterten Suizid zu tun haben?«, fragte Sabine. Sie wollte nicht ganz unbeteiligt an den Ermittlungen bleiben. »Schließlich hat eines der Opfer eine Waffe in der Hand, mit der es sich offensichtlich in den Mund geschossen …«
»Ja, offensichtlich. Überlassen Sie mir das Spekulieren. Da wird sich auch noch das LKA einmischen, das reicht mir dann an geballter Kompetenz. Halten Sie sich zur Verfügung. Das ist alles, was Sie tun können. Und bitte: Kein Wort über diese Sache. Zu niemandem. Okay?«
»Okay«, sagte Sabine und ging auf ihren Streifenwagen zu.
»Moment«, rief die Gierke und lief hinter ihr her. »Sie sind doch aus der Gegend. Kennen Sie die Opfer? Wissen Sie, wer in dem Haus wohnt?«
»Nein«, sagte Sabine, »die sind mir alle unbekannt. Und das wundert mich. Man kennt sich hier eigentlich. Ich wusste gar nicht, dass so tief im Wald überhaupt ein Hof liegt.«
In diesem Moment kam ein PKW durch die Zufahrt gefahren. Es war ein rostiger brauner Mercedes mit Dannenberger Kennzeichen. Jakob Metzgers Privatwagen. Aber am Steuer saß nicht der Polizeihauptmeister selbst, sondern Anwärter Attila Yilmaz. Er parkte hinter Sabines Streifenwagen. Metzger öffnete die Tür und brauchte einige Zeit, bis er sich vom Beifahrersitz aus in die Senkrechte hochgearbeitet hatte. Er trug keine Uniform, sondern ein zu enges grünes Poloshirt, eine dreiviertellange beige Hose und Flipflops, als käme er gerade von einer Grillparty. Attila blieb hinter dem Steuer sitzen. Metzger hatte das sicher so angeordnet. Der alte Polizist bewegte sich auf die beiden Frauen zu.
»Wer ist das denn?«, raunte die Gierke Sabine zu.
»PHM Metzger, mein Vorgesetzter«, murmelte Sabine und verdrehte die Augen.
»Sabine, was machst du hier?«, dröhnte Metzger. »Da lässt man dich mal einen Moment allein und schon gibt’s zwei Leichen.«
Er reichte den Frauen die Hand. Seine Alkoholfahne blieb sicher auch der Gierke nicht verborgen.
»Fünf Leichen, Herr Metzger«, sagte Sabine und sah ihn ernst an, »wir haben im Keller noch drei gefunden.«
»Ach du Scheiße«, stöhnte Metzger und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Glatze.
»Wissen Sie, wer auf dem Hof wohnt?«, fragte Frau Gierke den Alten.
Metzger schüttelte langsam den Kopf. Er dachte nach.
»Nee. Ich bin ja nicht der Briefträger. Ich komme nur zu den Leuten, wenn was passiert ist. Hier ist offenbar die letzten Jahre nichts passiert. Vielleicht fällt mir was ein, wenn ich die Namen höre. Aber ich bin nie auf diesem Hof gewesen.«
»Gut, Herr Metzger«, sagte die Gierke, und es war offensichtlich, dass sie ihn loswerden wollte. »Dann danke ich für Ihren Besuch. Wir müssen weitermachen. Sie hören von uns.«
Metzger wollte protestieren, doch Sabine nahm ihren Chef beiseite und schob ihn zu seinem Auto. Er fluchte vor sich hin, stieg aber in den Wagen.
»Attila«, sagte Sabine zu dem jungen Kollegen, »wenn du den Chef sowieso nach Hause fährst, kannst du mir dann mit meinem Fang ja noch etwas zu Hand gehen, oder?« Die Festgenommenen schliefen auf dem Rücksitz wie Babys. Das war auch besser so.
»Klar, Sabine, mach ich«, sagte Yilmaz und startete den Mercedes.
Als sie mit beiden Fahrzeugen die Bundesstraße erreicht hatten, kamen ihnen drei Leichenwagen entgegen. Erst jetzt wurde Sabine die ganze Dimension des Grauens bewusst, das sich dort in diesem Haus abgespielt haben muss.
Kapitel 8
Es war nun schön warm und über den Bäumen sah man den blauen Himmel. Der Wolf hatte sich in ein Gebüsch verkrochen und Sahas saß in seiner Nähe. Eine ganze Zeit hatte der Wolf geschlafen, während Sahas vor sich hin döste. Ihm war langweilig und er hatte Hunger. Im Haus gab es viel zu essen, aber da konnte er nicht hin, oder?
In der Ferne hörte Sahas Geräusche. Autos. Die hörte man im Wald sonst nie. Das laute Ding über den Baumspitzen war nicht mehr aufgetaucht. Sahas war es gewohnt, dass Garima und Udgam, vor allem jedoch Kamini, ihm sagten, was er tun soll. Aber die waren nicht da. Er musste sich das nun selbst sagen. Er wühlte mit der Hand auf dem Waldboden herum. Ob es hier etwas gab, das man essen konnte? Im Garten hinter dem Haus wuchsen ja auch Büsche mit leckeren Sachen dran. Himbeeren, Brombeeren und ein Baum mit Kirschen, aber die waren noch nicht reif. Im Boden steckten Möhren, es gab Bohnen und Kohl, auch Kartoffeln. Das alles hatte er hier im Wald nirgendwo gesehen.
Plötzlich sprang der Wolf auf, er machte einen Satz nach vorne, tiefer ins Gebüsch und war halb verschwunden. Dann kam er wieder hervor und ging langsam auf Sahas zu. Er hatte etwas im Maul, das er nun vor Sahas ablegte. Eine Maus. Sie bewegte sich nicht. Der Wolf sah Sahas an. Sahas sah die Maus an. Sie war tot. Sollte er sie etwa essen? Hatte der Wolf sie für ihn gefangen? Sahas fasste die Maus mit spitzen Fingern am Schwanz, hielt sie sich vors Gesicht und schnupperte daran. Sie roch nach gar nichts. Sahas hatte schon viele Mäuse gesehen, tote und lebendige. Die hier war wie alle anderen. Der Wolf hatte sie mit seinen großen Zähnen kaum verletzt. Wenn sie im Haus Tiere aßen, zogen ihnen Udgam oder Om vorher das Fell ab. Sahas war schon mal dabei gewesen. Eine Maus einfach so zu essen, wie es Katzen taten und Wölfe vermutlich auch, das schaffte Sahas nicht. Kamini schimpfte immer, wenn Om und Udgam tote Tiere mitbrachten. Sie sagte dann, dass es Sünde sei, Fleisch zu essen und es die Menschen krank mache. Doch die Männer lachten nur. Sahas legte die Maus zurück auf den Waldboden.
»Nimm du sie, Wolf«, sagte er. »Du hast doch auch Hunger.« Der Wolf stieß mit der Nase gegen die Maus und schob sie zu Sahas. Der musste lachen. »Nein, du. Nicht ich.« Sahas nahm die Maus an der Schwanzspitze und hielt sie dem Wolf vor die Nase. Der schnupperte daran, sah Sahas an, dann wieder die Maus und plötzlich schnappte er zu. Mit einem Happs hatte er die Maus im Maul und würgte sie runter. »Siehst du«, sagte Sahas, der beim Zuschnappen des Wolfsmauls mit den großen weißen Zähnen sehr erschrocken war, »das hat dir doch bestimmt gut geschmeckt.« Er hätte den Wolf jetzt gerne gestreichelt, aber das traute er sich nicht.
Sahas hatte lange in der Wärme geschlafen. Der Wolf auch. Aber dann war er erneut vom Hunger geweckt worden.
»Hey, Wolf«, flüsterte er und der Wolf hob den Kopf. »Ich gehe in unser Haus und hole uns was zu essen. Okay?«
Natürlich verstand ihn der Wolf wieder nicht. Sahas zeigt mit dem Finger auf den Boden und sagte: »Warte hier, Wolf. Ich komme gleich wieder.«
Er stand auf und ging in die Richtung, in der er sein Haus vermutete. Genau wusste er es nicht. Die Flucht vor den Männern mit dem Gewehr durch den dunklen Wald hatte ihn verwirrt. Sahas presste sich an einen Baumstamm, dann lief er schnell zum nächsten, um sich dort zu verstecken. So konnte man ihn höchstens nur sehr kurz sehen. Immer wieder ließ er den Blick durch den Wald schweifen, ob irgendwo ein Mensch auftauchte. Schließlich bemerkte er, dass der Wolf ihm folgte. Er war ein großes Stück entfernt, drückte sich dicht an den Boden, aber wenn Sahas ein Stück weiterlief, tat der Wolf das auch. Irgendwie fand Sahas es beruhigend, dass der Wolf in seiner Nähe war.
Er war ziemlich lange von Baum zu Baum gelaufen, jedenfalls erschien es ihm so. War er so weit gekommen in der Nacht? Woher sollte er das wissen? Er war in seinem ganzen Leben noch nicht so weit vom Haus entfernt gewesen. Das war ein echtes Abenteuer, wie das von dem kleinen schwarzen Jungen, der mit einer Lokomotive um die Welt fuhr. Er hatte den Film auf Udgams Computer angeschaut.
Was war passiert? Warum war er plötzlich ganz allein? Sahas weinte. Nur ein bisschen und leise. Durch den Tränenschleier konnte er gar nicht mehr richtig sehen. Als er sich dann die Augen rieb, entdeckte er weit hinten zwischen den Bäumen etwas Dunkelrotes. Sein Haus.
Nun musste er sehr vorsichtig sein. Noch geduckter und noch schneller huschte er von Baum zu Baum. Der Wolf folgte ihm. Sahas kroch in ein Gebüsch, von dem er einen guten Blick auf sein Haus hatte. Was er beobachtete, machte ihm schreckliche Angst. Da waren Menschen, viele fremde Menschen. So viele Fremde kannte er nur aus Filmen, und Fremde waren gefährlich, das wusste er.
Es standen Autos auf dem Hof. Große Autos und die Menschen trugen Sachen aus dem Haus. Was taten sie da? Gehörten sie zu den Fremden, die gekommen waren, als Sahas noch im Haus war? Fremde kamen selten auf den Hof. Und Sahas hatte nie welche kennenlernen dürfen. Das wäre zu gefährlich, hatten ihm Kamini und Kala mal erklärt. Niemand außer Kamini und Om durfte mit Fremden sprechen. Auch Udgam und Garima nicht. Alle mussten in den Keller, wenn Fremde auftauchten, damit ihnen nichts passierte. Wenn sie dann dort unten waren, konnte man nie vorher wissen, wie lange sie dort bleiben mussten.
Die letzten Fremden hatten Unheil gebracht, an mehr erinnerte er sich nicht. Und er konnte sich auch nicht erklären, was plötzlich die ganzen Fremden in seinem Haus wollten. Er würde warten müssen, bis sie verschwunden waren. Und so lange hatte er eben Hunger. Das würde er schon aushalten. Der Wolf hielt es ja auch aus. Von der kleinen Maus war er bestimmt nicht satt geworden.
Kapitel 9
Sabine war abweichend von ihrem Dienstplan am Samstagmorgen um halb acht mit belegten Brötchen und hartgekochten Eiern in der Polizeistation erschienen. Frühstück für die Verdächtigen eins und zwei, Karsten Koslowski und Olaf Hohmann. Das hatte sie versprochen. Die beiden mutmaßlichen Wilderer saßen etwas zerknittert auf ihren Pritschen. Hohmann wirkte mutlos, Koslowski schaute sie herausfordernd an. Er ergriff auch sofort das Wort.
»Dürfen Sie uns eigentlich hier festhalten, so ohne Haftbefehl? Wir kennen unsere Rechte.«
»Mal cool bleiben«, sagte Sabine und stellte zwei Pappteller mit dem Essen und zwei Pappbecher mit Kaffee auf den kleinen Tisch in der Arrestzelle. Hohmann stürzte sich sofort auf das karge Buffet.
»Jetzt frühstücken Sie erst mal und dann sehen wir weiter. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, wir dürfen Sie festhalten. Wir haben da draußen ein paar Tote, sie wurden vermutlich ermordet. Sie beide waren vor Ort. Bewaffnet. Sonst noch Fragen?«
»Ein paar?«, bellte Hohmann und verschluckte sich fast am heißen Kaffee. »Da waren doch nur zwei.«
Sabine schwieg.
»Aber Sie glauben doch nicht«, Hohmann wischte sich die mit Kaffee bekleckerte Hand an der Hose ab, »dass wir was damit zu tun haben? Wieso sollten wir …?«
Sabine unterbrach ihn. »Was ich glaube, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Das wird alles von meiner superschlauen Kollegin aus Lüneburg ermittelt. Und die wird sicher schon bald von den noch viel schlaueren Kollegen vom LKA in Hannover an die Wand gedrückt.«
»Echt, Sabine, so siehst du das?« Die Stimme hinter ihr gehörte eindeutig Jakob Metzger. Das war seine geheime Superkraft: sich unbemerkt anschleichen und einmischen. »Ich hätte von dir etwas mehr Verständnis für unsere ausgeklügelten Dienstwege erwartet.« Er trat in die Arrestzelle. Er sah besser aus als in der Nacht. Frisch geduscht, rasiert, in Uniform mit gebügeltem Hemd und vermutlich halbwegs nüchtern. Vom ersten Tag an duzte der alte Mann Sabine. Sie sprach ihn nur mit »Herr Metzger« an. Vermutlich hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn sie ihn geduzt hätte. Hier auf dem Land war man nicht so förmlich. Aber sie schätzte ein wenig mehr Distanz zu ihren Vorgesetzten.
Metzger war erst zehn oder fünfzehn Jahre in Gartow. Darum hatte er Sabines Vater Johannes nicht mehr als Vorgesetzten gehabt. Zu dessen Kollegen hatte Sabine als Kind und als Jugendliche immer ein gutes Verhältnis gehabt. Das konnte ganz nützlich sein, wenn man am Wochenende in jugendlichem Irrsinn mit ein paar Freunden vom Scheunenfest im Nachbardorf kommend in eine Alkoholkontrolle geriet. Der Kumpel, der in einer solchen Situation gerade hinter dem Steuer saß, war Sabine auf ewig dankbar, wenn der Beamte im Auto die hübsche Tochter des Gartower Polizeichefs Langkafel erblickte und nur sagte: »Hallo, Sabine, dein Freund lässt den Wagen jetzt genau hier stehen und ihr geht zu Fuß weiter. Ich verlasse mich auf dich.« – »Ist klar, Dirk, danke.« Sie waren eine Familie.
Jakob Metzger gehörte nicht zu dieser Familie. Er war von einem größeren Revier aus Uelzen oder Celle hierher versetzt worden. Vermutlich wegen seiner Sauferei und ein paar unschönen Vorfällen. Seine Ehe hatte das wohl nicht überlebt. Sabines Papa hatte da mal so was angedeutet. Die Details behielt er für sich, denn er war kein Klatschmaul. Nun wohnte Metzger also seit Jahren in der kleinen Zweizimmerwohnung über der Wache und soff sich der Rente entgegen. Sabine mochte den alten Sturkopf irgendwie, ein enges Verhältnis wollte sie allerdings nicht zu ihm haben. »In zwei, drei Jahren«, hatte ihr Papa gesagt, als Sabine in Gartow anfing, »geht Metzger in Pension, wenn er sich nicht vorher totgesoffen hat, und dann übernimmst du den Laden, Mädchen.« Was für den Polizeiobermeister a. D. Langkafel vielleicht wie eine Karriereverheißung klang, war für Sabine ein Horrorszenario. Bis zur Rente in Gartow? Auf gar keinen Fall.
Metzger sah den beiden Männern beim Frühstück zu und grinste. »Dafür könnt ihr unserer Sabine danken. Bei mir hätte es keine Vollpension gegeben.«






