- -
- 100%
- +
Im Februar 2008 schaltete der Bayerische Rundfunk seinen Hörspiel Pool frei und bot das erste Hörspiel unter einem eigenen Label zum kostenlosen Hören und Downloaden an: Raoul Schrotts Die Erfindung der Poesie (BR, HR, ORF 1997). Die zwölfteilige akustische Anthologie musste nun nicht mehr als 3-CD-Hörbuch für 98 DM bei Eichborn gekauft werden, sie stand jetzt einige Tage kostenlos als Podcast zur Verfügung. »Wir versuchen Hörspiele anzubieten, die auf dem Hörbuchmarkt nie eine Chance hatten oder schon wieder vergriffen sind, die aber für die Hörspielästhetik eine Relevanz hatten«, sagte Hörspiel-Chef Herbert Kapfer 2008 vorsichtig (KAPFER 2008). Bald folgten auch ein Hörspielspeicher (WDR), eine Hörspielbox (NDR) und – zentralisiert – die ARD-Audiothek (2017). Hörspiele sind seither leicht auffindbar. Sie existieren eine gewisse Zeit unabhängig von der Hörfunkausstrahlung weiter. Und zunehmend auch neben dem linearen Hörfunk. ›Podcast first‹ ist gegenwärtig eine Devise der Hörspielmacher.
Das Hörspiel ist heute also multimedial, radiounabhängig, hoch differenziert und jederzeit zugänglich. Es ist eine sehr offene Form, für die selbst Andreas Ammers pragmatische Definition zu kurz greift: »Ein Hörspiel ist dann ein Hörspiel, wenn es eine Hörspielabteilung bezahlt« (AMMER 2002).
DIE ABGEBROCHENE HÖRSPIELGESCHICHTE
Der hier in der dritten Auflage vorgelegte Band versucht zu zeigen, was sich in mehr als neun Jahrzehnten in der Hörspielszene getan hat und wie aus einem flüchtigen Kind des Mittelwellenrundfunks ein vielfältig präsentes Audioprodukt geworden ist. Dennoch ist diese kleine Erzählung keine empirische, die sich an den geschätzt weit mehr als 100.000 Hörspieltiteln (BUGGERT 2004) und ihren akustischen Realisationen orientieren kann. Eine solche Programmgeschichte ist auch heute nicht einmal in Ansätzen möglich. Die Hörspiele lagern (noch immer schwer zugänglich) in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender, manches wurde zwischenzeitlich unwiderruflich gelöscht. Die Konjunkturen der verschiedenen Hörspielstile und ihre offenen und verdeckten Fortwirkungen in den Hörspielprogrammen sind weitgehend unbekannt. Die Bedeutung der Regisseure, Komponisten (KRUG 2019a) und vor allem Schauspieler beziehungsweise Sprecher ist kaum erforscht. Zwischen Medienpraxis und Medienforschung, zwischen Hörspielrealität und Hörspielgeschichte klaffen Welten.
Diese kleine Hörspielgeschichte orientiert sich deshalb vor allem an den ›Höhenkämmen‹ des so umfangreichen Hörspielangebots und an den weichenstellenden Hörspieldebatten. Dabei sind die hier vorgeschlagenen Periodisierungen (1929/ 1933/ 1945/ 1968/ 1985/ 1999/ 2007/ 2017) nicht als harte Schnitte zu verstehen, vieles läuft auch in der Hörspielgeschichte ungleichzeitig nebeneinander weiter. Vielfalt war immer das erklärte Ziel der Hörspielmacher, und je näher man der Gegenwart kommt, desto deutlicher wird die Gegenwartsvergessenheit der Programmentwicklungen: Immer mehr Altes steht neben Neuem. Die digitalisierte Hörspielkultur steht nicht im Zeichen knapper Inhalte, sondern höchstens knapper Aufmerksamkeiten. Dieses Buch verbindet deshalb Geschichte und Aktualität, Wissenschaft und Kritik, Analyse und Beschreibung – und versteht sich auch als Anregung zum hörspielnahen Weiterforschen.
HÖRSPIELFORSCHUNG IST AUDIOFORSCHUNG
Das Hörspiel – und darauf hat jede moderne medienwissenschaftliche Geschichtsschreibung zu insistieren – ist vor allem eine akustische Gattung, eine Gattung zum Hören. Die Zeiten, in denen Autoren wie Günter Eich eher durch ihre in Büchern gedruckten Texte als durch die gesendeten Hörspiele ihren Ruhm errangen, in denen Hörspiele gelesen, nicht aber unbedingt gehört wurden, sind wohl unwiderruflich vorbei. Nicht nur, weil es heute kaum noch neue Hörspielbücher gibt, ist die Lektüre schwierig geworden. Das Verhältnis von Manuskript und Realisation hat sich vollständig verändert. Deutlich wird das an einer kleinen Anekdote, die Hermann Naber, der langjährige Hörspielchef des Südwestfunks (SWF), über ein Erlebnis mit Günter Eich 1972 berichtete: »›Lieber Herr Naber‹«, schrieb Eich auf eine begleitende Postkarte zu seinem letzten Hörspielmanuskript, »›hier ist nun mein Entwurf‹. Und dann habe ich ihn angerufen, Herr Eich, wunderbares Hörspiel, wir sind glücklich. Aber was bedeutet: ›Hier ist nun mein Entwurf‹? Und dann hat er gesagt, und das ist typisch für Autoren seiner Generation: ›Ja, was ihr daraus macht, damit es dann auch ins Programm kommen kann, die akustische Gestalt, darauf habe ich ja keinen Einfluss. Aber am Manuskript darf kein Komma geändert werden. Das ist mit Entwurf gemeint‹« (KRUG 2003).
DIE DIFFERENZ VON TEXT UND REALISATION
Aus einem ›Entwurf‹ aber lassen sich sehr unterschiedliche Hörprodukte herstellen. Text und Realisation sind durchaus zweierlei, wie sich am Beispiel des viel gesendeten Günter Eich leicht illustrieren lässt (KRUG 2002: 31ff.). Die Andere und ich etwa wurde 1952 (NWDR), 1952 (SDR), 1962 (HR) sowie 1993 (MDR) produziert. Von dem legendären Meisterwerk Träume gibt es sechs ganz unterschiedliche Realisationen (1951 [NWDR], 1951 [HR], 1964 [BR], 1964 [ORF], 1981 [Rundfunk der DDR] und 2006 [NDR]), auch wenn Fritz Schröder-Jahns ursprünglich heftig diskutierte NWDR-Realisation dauerhaft alle anderen aus dem Hörspielrepertoire verdrängte. Von Geh nicht nach El Kuwehd! (1950), Eichs meistinszeniertem Hörspiel, existieren sogar elf Realisationen – und die profiliertesten Regisseure (Egon Monk, Gustav Burmester, Walter Adler) haben das Radiomärchen inszeniert und jeweils unterschiedlich interpretiert. Hörspiele sind also akustische Kunstprodukte, an denen neben dem Autor auch Dramaturgen, Schauspieler (Sprecher), Komponisten, Musiker, Tontechniker und vor allem Regisseure prägend beteiligt sind. Und die – auch dies kann nicht deutlich genug formuliert werden – von technologischen Entwicklungen und technischen Möglichkeiten beeinflusst und auch geprägt werden. Die Ultrakurzwelle etwa ermöglichte ganz andere Hörspielästhetiken als die Mittelwelle, Stereo andere als Mono (KRUG 2013). Auch Eichs letztes Hörspiel Zeit und Kartoffeln (SWF, HR, NDR 1972) wurde 2006 noch einmal realisiert.
HINTERLÄNDER ERFAHRUNGEN
Aus identischen Texten, diese Erfahrung machten schon die ersten Hörspielmacher und -hörer, lassen sich sehr unterschiedliche Hörprodukte herstellen. Und auch der Verfasser dieser Zeilen konnte sie in den 1960er-Jahren machen, als ein junger Gymnasiallehrer uns ›Hinterland‹-Kindern und Schülern der Lahntalschule in Biedenkopf Fred von Hoerschelmanns Klassiker Das Schiff Esperanza als Unterrichtsstoff vorlegte. Zunächst lasen wir den Text mit verteilten Rollen im Unterricht, dann sprachen wir ihn nachmittags und freiwillig auf eines dieser noch so seltenen Tonbandgeräte. Wir pilgerten regelmäßig in die Biedenkopfer Oberstadt, sprachen Kapitel auf Kapitel ins Mikrofon, knallten Türen, schlugen Löffel auf Töpfe, schufen Wellen in Schüsseln – und versuchten uns so auch als Geräuschemacher. Einer war der Tontechniker und durfte die Tonbandknöpfe drücken, manchmal gab es heftige Debatten zwischen den Sprechern – doch der Lehrer-Regisseur hatte alles bestens im Griff. Noch immer vermitteln die wundersam erhaltenen Aufnahmen die jugendliche Macher- und Entdeckerfreude, die besondere Verbindung von oberhessischem, ›plattem‹ Sprachduktus, schülerhaftem Elan und einem von sehr fern kommenden Hörspieltext. Dann machten wir um Herrn von Hoerschelmann wieder einen weiten Bogen – und wandten uns etwa Teens-Twens-Top-Time zu, einer 1966 vom Hessischen Rundfunk ins Programm genommenen Musiksendung für Schüler und Jugendliche. Täglich nach der Schule (14.00 Uhr) und um 18.30 Uhr kam fortan eher ambitionierte und manchmal ellenlange Rockmusik aus dem selbsterarbeiteten Stereoempfänger von Grundig und wurde mit einem Philips-Tonbandgerät 4307 aufgezeichnet. Die Sendung war noch ein Angebot für Minderheiten. Zwanzig Jahre später ging ich dann mit dem eigenen tragbaren Tonbandgerät zum Phil-Turm in Hamburg. Raum 1350. Es war Sommer. Am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg gab es noch keine Abhörmöglichkeiten – und so musste ich für mein Seminar ›Arbeitslosendrama und Arbeitslosenhörspiel‹ (SoSe 1988) auf meine eigene Technik zurückgreifen. Und auf eigenes Material, wie auf private Kassettenmitschnitte weniger Arbeitslosenhörspiele etwa und auf freundliche Kassettengaben einzelner Hörspielabteilungen. Die Hörqualität war – an heutigen Standards gemessen – miserabel, aber deutlich mehr als nur ein Manuskript. Wiederum rund 15 Jahre später, es gab inzwischen den Studiengang ›Medienkultur‹, fand das Seminar ›Geschichte, Theorie und Praxis des Hörspiels‹ (SoSe 2004) dann schon im Medienzentrum statt. Jetzt waren auch vorzügliche Abhörgelegenheiten vorhanden. Und für die folgenden Praxisseminare gab es auch ein Studio, in dem aufgenommen, geschnitten und angelegt werden konnte und Kooperationsmöglichkeiten mit dem Lokalradio Tide 96 (KRUG 2006). Die Literatur- bzw. Medienwissenschaften fanden erst langsam zum Akustischen.
ZUR AKTUALISIERTEN NEUAUFLAGE
Der rapide Wandel der Medienlandschaften hat auch für die Hörspielgeschichtsschreibung Folgen und lässt ihre Gegenwart schrumpfen. Die Kleine Geschichte des Hörspiels versuchte in der Erstausgabe 2003 und dann in der erweiterten Neuauflage (2008) auch die aktuellsten Entwicklungen einzubeziehen. Inzwischen haben die meisten Kulturwellen ihre Namen geändert, die Leitung der meisten Redaktionen wurde in neue Hände gegeben, die Programmphilosophie der Kulturwellen wurde verändert, und das damals neueste Medium ›Audio Book‹ wurde inzwischen durch Podcast-Angebote ergänzt und mehr als nur punktuell auch ersetzt. Wo einst Mittelwelle-only galt, positionierten sich UKW first, Audiobook first, Online first oder – zuletzt – Podcast first. Gründe genug also, das Buch nochmals zu überarbeiten und zu aktualisieren. Doch dies ist nur die eine Seite. Die Gewissheiten des modernen Formatradios – und mit ihnen des Hörspiels – sind brüchig geworden und müssen sich heute in einer wenigstens dreisäuligen digitalen Welt (Audio, Fernsehen, Online) behaupten. Die Konzepte müssen aktualisiert werden. Wieder stehen Hörfunk und Hörspiel in einer Umbruchsituation, so wie damals in den 1960er-Jahren, als das elektronische Monopolmedium ›Hörfunk‹ vom Fernsehen als Leitmedium abgelöst wurde, so wie Mitte der 1980er-Jahre, als das duale System mit seinen Privatradios grundlegende Neuorientierungen auch im Hörspiel erzwang, so wie um die Jahrtausendwende, als die weltweite digitale Ausstrahlung den Hörspielen neue Dauer verlieh. Bisher haben die jeweils neuen Medien das alte Hörspiel nicht verdrängt. Sie haben es aber immer wieder zu Veränderungen und Neudefinitionen gezwungen, so wie es einst Wolfgang Riepl allgemeiner in seinem Rieplschen Gesetz formuliert hatte. Verglichen mit den frühen analogen und flüchtigen ›Blütezeiten‹ leben wir heute – quantitativ – in einer gigantischen digitalen Hörspielblütezeit, in der selbst opulente Adaptionen der Hochkultur fast jederzeit als CD, Podcast oder im Streaming zugänglich sind. Die Ästhetik des Widerstands etwa, Der Zauberberg, Der Mann ohne Eigenschaften oder aktueller Homo Faber und sogar Unendliches Spiel, unendlicher Spaß. Das flüchtige Medium ist fest geworden.
Die Bedeutung des Auditiven, Oralen, Kommunikativen scheint in der digitalen Welt erneut zu steigen, eine ›neue Kultur der Oralität‹ wieder in Aussicht. »Heute formiert sich erneut eine orale Kultur – nun aber nicht mehr in tribalem, sondern in globalem Maßstab. […] Das ist die Welt der elektronischen Netzwerke« (BOLZ 2007: 43). Die neue Kultur des Hörens ist nicht aufs Radio beschränkt, der Hörfunk verliert sein Alleinstellungsmerkmal und das Auditive erscheint an ganz neuen medialen Orten. Nicht nur Kinosäle bieten einen exzellenten Sound, längst bedient sich der Horrorfilm gerade des Auditiven, wenn er Schrecken erzeugen will. Einst für die ordnende Weltdarstellung zuständige Zeitungen präsentieren nun auch (oft maschinell erzeugte) gesprochene Versionen des Gedruckten, Autoradios können nicht nur Radioprogramme empfangen, und fern der Radiobegleitprogramme gibt es inzwischen zahlreiche ambitionierte Podcasts oder MP3-Angebote – durchaus allerdings auch unterhalb der UKW-Klangqualität. Auch die privilegierte Verbindung von Radio und Hörspiel scheint nicht mehr selbstverständlich. Aber hier befinden wir uns noch immer in den Anfängen der Entwicklung.
HÖRSPIEL HÖREN
Auf die Ausweitung der Kleinen Geschichte des Hörspiels zur ›großen‹ Geschichte des Hörspiels wurde bewusst verzichtet, die Anmerkungen und Literaturverweise blieben auf ein Minimum reduziert. Hörspiele müssen gehört werden (KRUG 2004). Dieses Buch will deshalb nicht nur beschreiben, analysieren, werten, ordnen und übers Hörspiel informieren. Es will auch anregen, sich dem Genre in seiner ganz eigenen (eben akustischen) Form zuzuwenden – und das Radio anzuschalten, den Livestream des Computers zu aktivieren, die CD einzulegen, den MP3-Player oder gar das Smartphone zu nutzen. Diese kleine Geschichte des Hörspiels, so ließe sich Heinz Schlaffer (2002: 158) noch immer paraphrasieren, ist so kurz, dass ihrem Leser Zeit bleibt, sich jenen Hörspielen zuzuwenden, denen das Buch sein Dasein verdankt.
2.ZWISCHEN RADIO UND KULTUR (1923-1929)
Die Anfänge des Hörspiels liegen im Dunkeln, und die ersten Spiele existieren schon seit Langem nicht mehr. Als der deutsche Rundfunk am 29. Oktober 1923 in Berlin mit seinem regulären Programm begann, wurde live gesendet. Die Nachrichten- und Unterhaltungssendungen, die Ansagen und Lesungen wurden noch nicht mitgeschnitten – und so sind die ersten Worte des neuen Mediums nur schriftlich überliefert: »Drei Minuten vor acht Uhr! Alles versammelt sich im Senderaum. Erwartungsvoll beobachtet man das Vorrücken des Zeigers der Uhr […] Acht Uhr! Alles schweigt. In das Mikrofon ertönen nun die Worte: Achtung! Hier Sendestelle Berlin Voxhaus Welle 3.000. Wir bringen die kurze Mitteilung, dass die Berliner Sendestelle Voxhaus mit dem Unterhaltungsrundfunk beginnt« (LEONHARD 1997: 23). Die offizielle Einführung des Radios in Deutschland geschah an einem Tag, als nahezu 50 Prozent der Arbeiter arbeitslos waren und ein Kilo Brot ganz offiziell 5.000 Millionen Mark kostete; Wochen heftigster Hungerdemonstrationen hatten die junge Weimarer Republik erschüttert und seit anderthalb Monaten herrschte der Ausnahmezustand.
KULTUR ALS HÖRFUNKAUFTRAG
Doch die Programmverantwortlichen waren begeistert. Das Radio wurde, so der Staatssekretär im Reichspostministerium (RPM) und ›Vater des deutschen Rundfunks‹ Hans Bredow, »in einer Zeit der tiefsten wirtschaftlichen und seelischen Not wie ein befreiendes Wunder begrüßt und wird hier als Kulturfaktor betrachtet, dessen Auswirkungen auf das kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben nicht hoch genug angeschlagen werden kann. Zum ersten Mal seit der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg ist eine neue Möglichkeit geschaffen, geistige Güter gleichzeitig Ungezählten zu übermitteln. Und es ist verständlich, dass der nach Nahrung hungernde Teil der Menschheit sich in Massen zu dem Radio drängt« (BREDOW 1924). Und später äußerte sich der Geschäftsführer der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft und ›Protagonist des Weimarer Rundfunks‹ Kurt Magnus so: »Der Rundfunk ist verpflichtet, alles dasjenige seinen Hörern in rundfunkgeeigneter Form zu bieten, was Deutschlands große Geister geschaffen haben. Der Rundfunk ist weiter verpflichtet, einen Querschnitt durch den gegenwärtigen Stand unserer Kultur zu bringen.«
Der deutsche Hörfunk begann mit einem dezidierten Kulturauftrag. Er wollte das »Schöne, Gute und Wahre« vermitteln, die Hörer hatten »Bildungshunger, Aufnahme-Fähigkeit und echte Gläubigkeit« (BRONNEN 1954: 162), aber das Hörspiel existierte weder als Wunsch noch als Gattung. Trotz aller Kulturorientiertheit: Das »Minderheitenprogramm eines Massenmediums« (KARST 1981: 82), die nur dem Rundfunk eigene Kunstform, musste erst noch gefunden und erprobt werden.
DAS ARTEIGENE SPIEL DES RUNDFUNKS
Wann das erste funkspezifische Hörspiel im deutschen Rundfunk gesendet wurde, war lange strittig. Die Datierungen variierten, doch inzwischen gilt die Ursendung des radioreflexiven Spiels Zauberei auf dem Sender als die Geburtsstunde des deutschen Hörspiels. Der Versuch einer Rundfunkgroteske (so der Untertitel) handelte von Störungen des Sendebetriebs und war eigentlich ohne künstlerische Ambitionen entstanden. Der Text stammte von Hans Flesch, dem künstlerischen Leiter in Frankfurt, und wurde vom Frankfurter Sender am 24. Oktober 1924 urgesendet, einige Monate vor Rolf Gunolds eher literarischem Spiel Spuk (Breslau, 21.6.1925). Auch die erste Hörspieldefinition ist aus dem Jahre 1924; sie wurde von dem Kritiker und Redakteur Hans Siebert von Heister in seiner Zeitschrift Der Deutsche Rundfunk geprägt und bestimmte das Hörspiel als »das arteigene Spiel des Rundfunks«. »Bis dahin hatte man sich mit Begriffen wie ›Sendungsspiel‹, ›Funkspiel‹, ›Funkdrama‹ und ähnlichen Prägungen begnügen müssen« (SCHWITZKE 1963: 46).
VORLÄUFER SENDESPIEL: KLASSISCHE LITERATUR IM HÖRFUNK
Bevor sich ein arteigenes Spiel entwickeln konnte, strahlten die Hörfunkstationen ›Sendespiele‹ aus, die nicht originär für den Rundfunk geschrieben waren. »Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet«, so bewertete der Autor, Radiopionier (seit 1925 dem Hörfunk verbunden) und ›Radiotheoretiker‹ Bertolt Brecht die frühen Jahre, »sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit […] Am Anfang half man sich damit, dass man nicht überlegte. Man sah sich um, wo irgendwo irgendjemandem etwas gesagt wurde, und versuchte hier lediglich konkurrierend einzudringen und irgendetwas irgendjemandem zu sagen. Das war der Rundfunk in seiner ersten Phase als Stellvertreter. Als Stellvertreter des Theaters, der Oper, des Konzerts, der Vorträge, der Kaffeemusik, des lokalen Teils der Presse« (BRECHT 1967: 128). Zunächst wählte der frühe Hörfunk Stücke mit wenigen Personen und sendete sie wie Vorlesungen mit verteilten Rollen; dann gab es erste Versuche mit klassischer Literatur. Im November 1924 wurde in Hamburg die Inszenierung von Johann Wolfgang von Goethes Faust II als literarisches Rundfunkereignis gefeiert. Wenig später eröffnete Alfred Braun die ›Sendespielbühne‹ der Berliner Funk-Stunde mit Friedrich Schillers Wallensteins Lager (3.1.1925) – die Schauspieler traten (öffentlichkeitswirksam auf dem Pressefoto) in Kostüm und Maske, in Wehr und Waffen auf. Doch erst Arnolt Bronnens Bearbeitung des klassischen Textes (15.2.1927) wurde »die erste Aufführung eines literarischen Hörspiels im deutschen Rundfunk« (BRONNEN 1954: 162). Bronnen hatte Schiller radikal gekürzt und – funkgemäß – auf die Tragödie Wallensteins konzentriert. »Das Hörspiel ist möglich!« jubelte der Kritiker Ludwig Kapeller nach der Ursendung. Und auch die Wirkung »auf die noch ungewohnten Berliner Ohren« war »beträchtlich«, wie Bronnen später notierte. »Das spürte ich schon bei meinem Mechaniker, bei dem ich mir damals, zu Beginn meiner Auto-Leidenschaft, des Öfteren einen kleinen Wagen zu entleihen pflegte, und wo ich also gleich in eine kunsttheoretische Debatte verwickelt wurde. Ich war erstaunt, wie richtig dieser nach dem Sprachgebrauch als ›ungebildet‹ zu bezeichnende Mann, für den Wallenstein und seine Generale doch wenig mehr als bloße Namen waren, die menschlichen Taten, aus den menschlichen Anlagen entspringend, einschätzte« (BRONNEN 1954: 162).
FRÜHE RADIOFASZINATION: RADIOBASTLER
Es war eine besondere Zeit, der Reiz des neuen Mittelwellenmediums enorm. »Am 1. Juli 1924 gab es bereits 100.000 Rundfunkteilnehmer, deren Zahl im 2. Halbjahr 1924 bis auf eine Million anwuchs« (WÜRFFEL 1978: 11). »Aus eigener Erinnerung«, so berichtete der spätere ›Hörspielpapst‹ Heinz Schwitzke über seine frühen Radioerfahrungen, »wie aus den Erzählungen alter Rundfunkmänner und Rundfunkhörer möchte ich geltend machen, dass in den grauen Jahren nach 1920 – bis etwa 1925/26 – eine fantastische und wilde Radio-Bastelleidenschaft die Menschen, gerade auch die geistigen, ergriffen hatte, in der sich technische und künstlerische Neugier auf eine heute unvorstellbare Weise mischten. Ich entsinne mich noch der Empfindungen von 1922/23 beim Anhören der ersten Rundfunkkonzerte vom Königswusterhausener Versuchssender, aber genauer kann ich mich der Schauer erinnern, die wir – mein Vater und ich, als etwa Fünfzehnjähriger – verspürten, als wir, die Kopfhörer an den Ohren, mit einem selbstgebastelten Apparat, einer riesigen Akkumulatoren-Batterie und sogenannten ›Rotkäppchenröhren‹ aus dem Weltkrieg, in unserer Berliner Vorortswohnung zum ersten Male den Glockenschlag von Big Ben vernahmen […] Ich glaube, dass die Funkbearbeitungen klassischer und moderner Dramen mit den Anfängen des Hörspiels weniger zu tun haben als diese Erscheinungen, die man mit dem Begriff ›Hörspielerei‹ zusammenfassen könnte. Hier ist wirklich ab ovo begonnen worden. Alfred Braun hat mir mündlich berichtet, wie er einmal auch den Dichter Döblin in dessen Wohnung ertappte: Kopfhörer über den Ohren, eine schwarzlackierte Spule auf den Knien, den Detektorstift in der Hand, und wie er, Braun, erschrocken auf den Zehen stehen blieb, um den Lauschenden nicht zu stören. Dies muss einkalkuliert werden, wenn man Brechts, Benns, Döblins, Kasacks schöpferische Anteilnahme an dem Instrument Rundfunk begreifen will, um wie viel mehr bei den anonymen Hörern. Die Bastelleidenschaft war jahrelang ein künstlerisches Stimulans, ähnlich wie es die Theaterleidenschaft sein kann« (SCHWITZKE 1963: 56f.).
Adaptionen, die den Hörern Theaterstücke nahe bringen sollten, waren früh ein fester – und manchmal sogar zwei- bis dreistündiger – Programmteil. Bereits 1926 wurden rund 600 Werke von 280 Dramatikern im Hörfunk gesendet. Doch die Zusammenarbeit zwischen den Konkurrenten Theater und Hörfunk war zunächst schwierig. Das alte Medium ›Theater‹ sah in dem neuen Medium ›Hörfunk‹ nur die gefährliche Konkurrenz – und auch aus diesem Grund musste das Radio früh nach eigenen, radiospezifischen Formen suchen. Um neue Autoren und Stoffe zu bekommen, schrieb die Radiozeitschrift Die Sendung 1924 erstmals ein Preisausschreiben aus – und musste es wieder absagen. Auch ein neuer Versuch 1927 brachte zwar 1.177 Einsendungen, aber keine besonderen Qualitäten und keine neuen Hörspieldichter. Der von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft ausgeschriebene Preis wurde nicht verliehen.
ANPASSUNG ANS RADIO: DIE BEARBEITER
Recht bald zeigte sich, dass Theaterstücke nicht eins zu eins im Radio übertragen werden konnten oder besser sollten. Die Helden etwa mussten im Hörfunk unsichtbar bleiben – und dies hatte für die Inszenierung Folgen. Früh etablierte sich deshalb neben dem Autor auch der Bearbeiter zunächst vor allem von klassischen Theatertexten. Über diese in der Regel eher unbekannten Mitarbeiter ist nur wenig bekannt. Rudolf Hoch etwa bearbeitete 1927 Shakespeares Hamlet, Prinz von Dänemark (Deutsche Stunde), führte Regie und gehörte auch zu den Sprechern. Auch populäre Autoren probierten sich damals als Bearbeiter aus. Arnolt Bronnen beispielsweise bearbeitete Schillers Wallenstein (1927), Kleist oder Hoerschelmann, Bertolt Brecht das Shakespeare-Stück Macbeth (Funkstunde Berlin 1927).
RADIO, TECHNIK, LIVE-PRINZIP
Die frühen Hörspiele konnten einzig in den Funkhäusern produziert werden. Sie waren unabdingbar mit der Radiotechnik verbunden und ein reines und ausschließliches Radioprodukt. »Die Tatsache, dass die Hörspielform ohne die technischen Rundfunkvorgänge nicht entstehen kann, unterscheidet sie grundsätzlich von allen anderen Sendeformen des Rundfunks, die, sofern sie nicht mit Hörspielelementen gemischt sind, bloß Übertragung, bloß Reproduktion darstellen. In diesem Satz ist die erste Definition des Hörspiels enthalten« (SCHWITZKE 1963: 43). Die frühen Hörspiele wurden ausschließlich live gesendet und unter schwierigen Produktionsbedingungen hergestellt: »Ich hatte«, schrieb Erich Kästner 1929, »anderthalb Stunden Gelegenheit, zu beobachten, mit welcher Präzision die Inspizienten und ihre Handlanger zu arbeiten verstehen. Und ich sah auch, welche Mühe und welche Aufmerksamkeit diese Präzision erfordert. Kein Wort darf gesprochen oder auch nur geflüstert werden. Zwanzig Menschen, über zwei Räume und einen Flur, der die Säle verbindet, verteilt, und jeder hält ein Textbuch in der Hand, in dem der Regisseur mit Blau- und Rotstift inszeniert hat, und jeder wartet auf bestimmte Winke, winkt weiter, winkt wieder, führt Winkbefehle aus! […] Er selber, der Regisseur, sitzt inzwischen in seiner Isolierzelle, hört per Radio, was außerhalb seiner Zelle geschieht, gibt durch ein Fenster Wink-Kommandos, jagt seine Sendboten zu den Inspizienten, sie möchten den Regen das nächste Mal besser machen, und zu der Schauspielerin X, sie möge lauter sprechen oder eindringlicher weinen. Und zwischendurch verschlingt er ein Wurstbrötchen, weil er den ganzen Tag schon gesprochen und einstudiert und gewirkt hat« (BLAES 2002: 28).