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Genau 14 Tage vor meiner Einberufung sah ich Corinna bei einer Disko, wo sie in einem grünen Strickpulli und hautengen Bluejeans den Saal rockte. Dieser Anblick bestätigte meinen Entschluss, endlich anzugreifen. Aber das Auseinandertanzen lag mir nicht. Die Frau auf diesem Wege zu erobern, fiel also aus. Ich tanzte lieber zusammen oder rockte bei „Hiroshima“ von Wishful Thinking kniend auf dem Fußboden. Dabei konnte man keinem auf die Schuhe treten. Einen Kompromiss bildete die langsame Runde, die häufig als seichtes Vorspiel am Ende der Veranstaltung gespielt wurde. Im Dunkeln hätte niemand einen Fehltritt bemerkt. Wenn ich schon nicht alt genug war, musste ich wenigstens für mein Alter perfekt wirken. Ich bestellte mir beim Diskjockey mein Lieblingslied, „Am Fenster“ von City, das er sowieso zum Abschluss spielen wollte. Als die ersten Geigenklänge aus den Lautsprecherboxen auf der Bühne zu hören waren, forderte ich Corinna zum Tanzen auf. Sie lächelte verschmitzt und folgte mir aufs Parkett. Die neugierigen Blicke ihrer staunenden Freundinnen ignorierte ich. Beim Tanzen bewegten wir uns kaum von der Stelle. Während ich ihre Nähe genoss, plapperte Corinna munter drauflos wie das Frauen so an sich haben. Da ich nur die Hälfte der Nettigkeiten verstand, schmiegte ich mich noch enger an sie heran. Für diesen Augenblick hatte ich den ganzen Aufwand betrieben und wurde nicht enttäuscht. Irgendwann küsste ich Corinna flüchtig auf den Mund. Sie erwiderte meinen Kuss und ich legte nach. Das klebrige, rote Zeug auf ihren weichen Lippen reichte für zwei. Unsere kleinen, heimlichen Zärtlichkeiten bestärkten meinen Wunsch, dass der gemeinsame Abend kein Ende nehmen sollte. Nach der Disko brachte ich Corinna bis vor die Haustür und fragte zuerst nach dem Senf, worauf eine simple Erklärung für den Hamsterkauf folgte. Corinnas Mutter, die Verkaufsstellenleiterin des Konsums in der Nachbargemeinde, hatte einfach vergessen, Senf zu bestellen. Die kluge Geschäftsfrau beauftragte ihre Tochter, Mostrich im Nachbardorf zu kaufen, um einem Mangel im eigenen Laden vorzubeugen. Der Senf, der mir nur als Vorwand diente, spielte in meinen Gedanken längst keine Rolle mehr. Ich küsste Corinna zärtlich und streichelte ihr sanft über das Haar. Natürlich begehrte ich diese Frau, die energisch versuchte, mich abzuwimmeln. Warum bemühte sich Corinna, mir zu widerstehen? War ich tatsächlich zu jung für sie? Sie blieb hartnäckig und rückte den Haustürschlüssel nicht heraus. Allein die Kälte dieser Oktobernacht wäre ein guter Grund gewesen, mich aus reiner Nächstenliebe mit nach oben zu nehmen. Kurz vorm Morgengrauen gab sie endlich nach und zog mich die Treppe hoch in ihre Einraumwohnung unterm Dach des Mehrfamilienhauses. Verrückt nach Liebe landeten wir auf der gemütlichen Klappcouch, wo ich eine so bedingungslose Hingabe und Leidenschaft spürte, wie ich sie bisher nicht kannte. Ich schloss Corinna in die Arme und drückte ihren weichen, warmen Körper zärtlich gegen meinen. Sie wehrte sich nicht und wir liebten uns in tiefer gegenseitiger Hingabe. Noch Tage später atmete ich ihren unwiderstehlichen Duft an meinem Körper. Die Frau ging mir förmlich unter die Haut. Von Beginn an stand für mich fest, dass Corinna eine Nummer zu groß für mich war. Liebevoll erzog sie ihre kleine Tochter Meike. Pflichtbewusst arbeitete sie als Sekretärin im LPG-Büro. Während der Urlaubszeit half sie auf dem Feld oder im Stall. In ihrer praktisch eingerichteten Mansarde herrschten Ordnung und Sauberkeit. Corinna konnte waschen, kochen und backen. Sie mochte Rockmusik aus England, romantische Liebesfilme und verschiedene Literaturklassiker. Mir imponierte, dass sie die Bücher in ihrem Regal tatsächlich alle gelesen hatte. Was sich Corinna in den Kopf setzte, zog sie konsequent durch und vergeudete dabei keinen Augenblick. Damit legte sie hohe Maßstäbe an sich selbst. Von dieser Frau konnte ich mir eine ordentliche Scheibe abschneiden, denn sie wusste, worauf es im Leben ankam. Obwohl ich mir kaum Hoffnung auf eine feste Beziehung machen durfte, schwor ich mir damals, die oder keine.
Nach meinem Abschiedsspiel vor dem Grundwehrdienst gab es nicht nur Siegerbier in der Umkleidekabine. Mein Torwartkollege Norbert brachte selbstgemachten Pflaumenschnaps mit. Der Likör schmeckte lecker und verursachte anfangs kein Kopfweh, doch nach einer gewissen Zeit drehte sich alles vor meinen Augen.

Mannschaftsfoto vorm Abschiedsspiel am 30.10.1982
Zwei Mitspieler brachten mich nach Hause, wo ich meinen Rausch ausschlief. Als mich Norbert am Abend zur Abschiedsparty abholte, hätte ich lieber weiter geschlafen, aber meine Freunde erwarteten mich in der Bahnhofsgaststätte. Auf dem Weg dorthin bekam ich mächtig Schlagseite. Allein hätte ich die Strecke sicher nicht geschafft. Vorm Dorfkonsum begegnete uns eine Nachbarin mit ihrem Hund Scharik. Der Name entstammte dem treuen Gefährten von Janek aus der polnischen Fernsehserie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“. Ich muss mächtig getorkelt sein, weil mich der Schäferhund in diesem Zustand nicht erkannte. Auf gleicher Höhe angekommen, sprang Scharik an mir hoch und biss mir in den linken Unterarm. Vor Schreck war ich sofort wieder nüchtern. Glücklicher Weise trug ich meine Jeansjacke unterm Anorak, so dass Fleisch und Knochen wenig abbekamen.
Trotz des Missgeschickes wurde es ein geselliger Abend. Die Wirtsleute Emmi und Heiner hatten den Billardtisch zu einer festlichen Tafel umgestaltet. Heiner schützte den grünen Filz mit einer exakt angepassten Holzplatte, Emmi deckte ein weißes Tafeltuch darüber. Ich mochte das freundliche Ehepaar mit den kleinen Macken. Emmi sah heimlich Westfernsehen. Wenn Heiner sie dabei überraschte, schaltete er sofort auf einen Ostsender um. Als aktives Mitglied der Kampfgruppe des Ortes befürchtete er, dass sich Emmi im Dorf verplappern könnte. Dabei guckten viele Einwohner täglich ARD und ZDF, aber nur wenige sprachen darüber. Den Abschied feierte ich gemeinsam mit Jörg, der wie ich zur Ausbildung nach Eisenach musste. Mein Mitstreiter war ein Jahr älter als ich und wohnte direkt neben der Gaststätte. Wie unser Land im Großen bildeten wir eine geschlossene Gesellschaft im Kleinen an diesem Abend, was ein Schild am separaten Eingang zum Billardraum dokumentierte. Im hinteren Teil der Gaststätte lief der normale Kneipenbetrieb weiter. Emmi und Heiner hatten viel Arbeit. Zur Einstimmung auf den Grundwehrdienst übten wir zu zweit marschieren. Anstelle einer Waffe schulterte jeder einen Billardqueue. Der Gleichschritt stellte für Jörg kein Problem dar, nur ich verlor das Gleichgewicht und rammte den Tresen. Päckchenbauen beendete unser vormilitärisches Treiben. In Anlehnung an das Fertigmachen zur Nachtruhe bei der Armee wurden sämtliche Klamotten nach Größe geordnet auf einem Hocker zusammengelegt. Wir übten mit der Kampfgruppenuniform und der langen Baumwollunterwäsche vom Gastwirt. Leider verstand Jörg die Aufgabe falsch, denn er zog sich vor den Anwesenden splitternackt aus, was einigen Mitschülerinnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Wie ein schwankender Leuchtturm versuchte er, die Unterwäsche überzustreifen. Da er mit beiden Beinen in ein und dasselbe Hosenbein stieg, kam mein Freund ins Schwanken. Als er sich am Tisch abstützte, verlor er das Gleichgewicht und landete mit den Händen auf den Tellern seiner Nachbarinnen. Zwei Zigeunersteaks und ein Teil der Sättigungsbeilage landeten auf der Tischdecke. Fettflecken zierten das weiße Tafeltuch und die lange Unterwäsche von Heiner. Während der Wirt sich den Ärger nicht anmerken ließ, starrten die Mädchen ihren Mitschüler Jörg entsetzt an. Der Rest der Feier fehlt in meinem Gedächtnis.
Am nächsten Morgen war das Aufwachen umso schöner. Gemeinsam mit Corinna und Meike genoss ich den vorläufig letzten Sonntag in ziviler Freiheit. Meine äußerliche Gelassenheit war gespielt. Seit ich den Einberufungsbefehl in der Tasche hatte, zerriss es mir das Herz, sobald ich an Abschied dachte. Ich wollte nicht weg, befürchtete den Verlust menschlicher Wärme und Geborgenheit. Abseits von persönlichen Verpflichtungen, Planerfüllung und Vorbildwirkung in der Gesellschaft hatten wir eine Nische gefunden, in der der Altersunterschied zwischen Corinna und mir keine Rolle mehr spielte, wo wir gleichberechtigte Menschen mit Träumen, Wünschen und Hoffnung waren. Insofern bildeten die beiden Wochen vor meiner Einberufung die glücklichste Zeit meines Lebens, die Lust auf mehr machte. Von der großen Liebe hatte ich keine Ahnung, weil ich das Gefühl bisher nicht kannte. Noch nicht. Ich war damals zu jung, um zu begreifen, dass ich bereits liebte. Wahrscheinlich überforderte mich dieses Eingeständnis, mit dem ich mich konkret auf einen Menschen festlegte. Dabei hatte ich die Liebe des Menschen, den ich am meisten mochte, längst angenommen.
Am 3. November 1982 brach eine neue Zeitrechnung für mich an, 542 Tage Grundwehrdienst lagen vor mir. Die Kälte dieses Herbsttages stand in krassem Gegensatz zu meinem Abschied von Corinna. Ein langer Kuss beschrieb alles, was wir in diesem Augenblick für einander empfanden. Immer wieder riss ich mich los und kam zurück, um sie noch fester zu umarmen. Schließlich kehrte ich nicht mehr um. Mein Vater fuhr Jörg und mich zum Bahnhof in die Kreisstadt, dem so genannten Gestellungspunkt, wo sich alle Rekruten des Kreises zur Abfahrt nach Eisenach trafen. Ich hatte keinen Alkohol eingepackt, wollte mit klarem Kopf im Grenzausbildungsregiment ankommen. Meine Haare waren kurz, dass ich in der Ausbildung nicht aneckte. Wäre ich mit meinem Vater allein im Auto gewesen, hätte ich wieder gefragt, wie viele Menschen er im Krieg erschossen hatte, um sein Leben zu verteidigen. Die Antwort blieb er mir leider schuldig. Vor Aufregung brachte ich kein Wort heraus. Mein Leidensgenosse hinter mir blieb ebenfalls still. Er machte Blasen mit seinem Kaugummi, was den nervösen Fahrer sichtlich störte. Regelmäßig schaute er in den Rückspiegel. Mir war klar, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Der Vulkan neben mir brodelte heftig. Es schien eine Frage der Zeit, wann er ausbrechen würde. Mit einem Glückspfennig schob ich die Haut über die Halbmonde meiner Fingernägel zurück und wünschte mir nichts sehnlicher als eine Autopanne, um den Zug zu verpassen. Aber unser 408er Moskwitsch, Baujahr 1970, lief zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. „Diese Russenkarren sind unverwüstlich“, prahlte unser LPG-Vorsitzender oft und der musste es wissen. Schließlich transportierte er mit seinem Mossi riesige Findlinge vom benachbarten Acker in seinen Steingarten.
Der Motor vom Moskwitsch dröhnte in den unteren Gängen fast so laut wie ein Traktor. Ein Autoradio auf voller Lautstärke hätte es nicht geschafft, dieses Geräusch zu übertönen. Wir besaßen kein Radio im Fahrzeug, mein Vater musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Er hielt sich konsequent an die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung. Manchmal rollten wir im Leerlauf die Lieper Berge hinunter oder schlichen untertourig im höchsten Gang. Kurz vorm Abwürgen des Motors schaltete er herunter. Dabei umklammerte er in Zehn vor Zwei-Stellung das Lenkrad wie im Lehrbuch. Wenn Vati am Steuer saß, wusste ich nie so richtig, ob ich die Augen öffnen oder besser schließen sollte. Doch zum Meckern fehlte mir die Lust. Ich gebe zu, dass wir uns nicht immer verstanden haben. Aber ich zweifelte nie daran, dass ich mich auf meinen Vater verlassen konnte. Wenn ich ihn brauchte, war er für mich da. Selbstverständlich mochte ich den Griesgram über alles, doch in den letzten Tagen fanden wir nur selten eine gemeinsame Sprache. Dieser Zustand machte mir Angst. Über der Stille lag eine seltsame Spannung. Wir schwiegen nicht miteinander, sondern gegeneinander. In Gedanken ließ ich die beiden Wochen mit Corinna Revue passieren und bereute keinen Augenblick. Plötzlich überwand mein Vater seine Zurückhaltung und sprach von einer Episode im Leben, woraus ich schlussfolgerte, dass er gegen diese Beziehung war. Wahrscheinlich hatte ihn Mutti damit beauftragt. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen und es verstrichen Minuten, in denen keiner etwas sagte. Der Ratschlag meiner Eltern missfiel mir, obwohl ich Verständnis dafür hatte. In der Vergangenheit mussten sie sich oft neue Namen einprägen. Ob Kirsten oder Jana bei mir aktuell waren, wussten meine Eltern nie. Ihnen fehlte die Kontinuität in meinen Beziehungen. Wie nur sollte ich ihnen glaubhaft vermitteln, dass Corinna die Richtige für mich war? Die Fahrt in die Kreisstadt reichte dafür nicht aus. Da ich beim Abschied keinen Streit wollte, blieb ich stumm. Jörg schmunzelte auf dem Rücksitz. Selbst er hatte bemerkt, dass Corinna zu mir passte. Von diesem Glück musste ich den Vati überzeugen, denn ich brauchte einen Fürsprecher in der Familie. Mein alter Herr stand auf meiner Seite, seit ich ihn beim heimlichen Rauchen erwischte. Meine Mutter schickte mich ins Dorf, um ihn zu suchen. Mir war klar, dass er sich in einer unserer beiden Gaststätten aufhalten würde. Neugierig betrat ich die Bahnhofskneipe und sah meinen Vater, der am Stammtisch saß und genüsslich an einer Jägerstolz-Zigarre zog. Sein knallrotes Gesicht signalisierte mir, dass er den glimmenden Stummel am liebsten verschluckt hätte. Mein alter Herr fühlte sich ertappt. Verunsichert nahm ich neben ihm Platz. Obwohl der stinkende Stumpen im Aschenbecher landete, begann ich zu husten von dem ganzen Qualm. Mein Vater spendierte eine Fassbrause und bat mich, seinen Rückfall ins ungesunde Laster daheim zu verschweigen, denn er galt seit einigen Jahren als Nichtraucher. Meine Verschwiegenheit belohnte er großzügig mit vielen Freiheiten.
Mein Vater ist ein großartiger Mensch gewesen, mit dem ich gern die Zeit verbrachte. Er war immer dabei, wenn Höhepunkte in meinem Leben anstanden und vermittelte mir Sicherheit. Leider habe ich ihm nie gesagt, dass ich mich in seiner Obhut geborgen fühlte. Wir hatten nur wenige Gemeinsamkeiten. Mein alter Herr war kein Mannschaftssportler wie ich, sondern ein verbissener Einzelkämpfer, der ehrgeizig Kraftsport betrieb und sich beim Angeln entspannte. Ich fuhr mit zum See, weil ich von ihm lernen wollte. Anfangs konnte ich nie meine große Klappe halten und fragte ständig, ob ich denn schon still sein müsse, um die Fische nicht zu verscheuchen. Wir hatten nicht einmal richtige Angelgeräte. Mein Vater brachte mir bei, wie man mit einem scharfen Taschenmesser eine Rute vom Baum abschnitt. Dabei mahnte er, mit dem Messer vom Körper weg zu schneiden. Während ich diese Prozedur früher als Erziehung empfand, rechne ich sie heute zur Familientradition, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Wenn ich meinen alten Herrn darum bat, spannende Geschichten von früher zu erzählen, schilderte er detailliert, wie er im Jahre 1936 das Reichssportjugendabzeichen ablegte. Fragte ich ihn nach seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg, verstummte er. Er redete nicht gern vom Überlebenskampf 1944 in der Wüste Nordafrikas. Wie viele andere zwang man ihn in den Krieg, obwohl er jede Form von Ungerechtigkeit verabscheute. Mein Vater sprach von Angst und nie vom Mut, diese Angst zu besiegen. Daher sehe ich seinen Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nach Kriegsende als konsequente und mutige Entscheidung. Ich erinnere mich an seinen Wutanfall, als er mich beim Lesen des verbotenen Buches „Mein Kampf“ erwischte, das er unter seinen Socken im sicheren Versteck wähnte. Mein Vater wollte mich vor dieser größenwahnsinnigen Lektüre schützen, die für die historische Einordnung des deutschen Faschismus wichtig ist. Für seinen Einsatz in Afrika hätte er sich nicht gerühmt, denn er war nur ein einfacher Militärkraftfahrer, der gesund nach Hause kommen wollte. Wenn die Reifen seines Jeeps in der Wüste qualmten, musste er anhalten und dagegen pinkeln, um den Gummi abzukühlen. Nannte er das etwa Kampf? Meine Gedanken wurden in diesem Moment so ungerecht und verletzend, dass ich mich selbst vor ihnen fürchtete. Mein alter Herr war kein Held, aber ein Vorbild, und ich wollte ihn unbedingt bei internen Wettkämpfen schlagen, die da lauteten: Wer fing den ersten und den letzten Fisch und wer hatte am Ende die meisten geangelt? Einmal gewann ich alle drei Disziplinen, obwohl ich nur einen einzigen Fisch fing. Der Vati redete den ganzen Tag kein Wort mehr mit mir. Manchmal sind wir richtige Rivalen gewesen, weil ich alles besser machen wollte als er. Warum gönnte mir mein Vater, der selbst nichts anbrennen ließ im Leben, das Glück mit Corinna nicht? Hielt er diese Frau für ein Flittchen, das kleine Jungs verführte oder war er einfach nur neidisch auf seinen Sohn? Das Gerede meiner Eltern vom großen Altersunterschied konnte ich nicht verstehen, denn Corinna und ich harmonierten bestens. Hatte ich ihnen bisher alles recht machen können, missfiel mir der Gedanke an ständigen Gehorsam. Irgendwie musste ich mich doch abnabeln. Ich wollte Corinna um jeden Preis, dessen war ich mir sicher. Schließlich kann man nicht alles über den Haufen werfen, wenn es unbequem wird oder den Eltern nicht in den Kram passt. Mein Vater schwieg. Vorwurfsvoll blickte ich ihn beim Aussteigen an und merkte, dass mein Vorbild zu bröckeln begann. Mir fehlten Verständnis und Toleranz, die er mir selbst stets vermittelte. Obwohl der Sonderzug nach Eisenach reichlich Verspätung hatte, verabschiedete sich mein alter Herr hastig von uns. Eine herzliche Umarmung verwehrte er mir. Wortlos fuhr mein Vater auf und davon.
Eisenach
Während der Fahrt nach Eisenach blieb ich bei Jörg, da er der Einzige war, den ich kannte. Wir wählten einen Waggon in der Mitte des Zuges, weil mein Kumpel meinte, dass dort bei einem Unfall weniger passieren würde als vorne, direkt hinter der Lok. Sicherheitsdenken zeichnete Jörg aus, der mit Leib und Seele in die Eisenbahnerlehre ging. Der Sammeltransport hielt nur in größeren Städten, wo weitere Soldaten zustiegen. Aussteigen durfte niemand. Im Nachbarabteil traf ich einen guten alten Bekannten, der in der gleichen Kreisliga Fußball spielte wie ich. Er beschwerte sich lautstark über das Getümmel auf den schmalen Gängen, das kein Ende nehmen wollte. Angetrunkene Rekruten nutzten die kurzen Aufenthalte, um sich mit Alkohol zu versorgen. Durchs geöffnete Fenster baten sie Wartende auf den Bahnsteigen, Schnaps einzukaufen. Die meisten Soldaten verzichteten aufs Wechselgeld und gaben 20 Mark für eine Flasche Juwel, die für 14,50 Mark am Bahnhofskiosk verkauft wurde. Das Geld saß locker, als gäbe es kein Leben mehr nach der Armeezeit. Bei dem feuchtfröhlichen Durcheinander fehlte mir die nötige Ruhe, in meinem Lieblingsroman von Alexandre Dumas zu schmökern. Da ich das Buch mehrmals gelesen hatte, ist es eine Art Talisman für mich geworden. Obwohl eine Militärstreife im Zug von vorne nach hinten und wieder zurück patrouillierte, spielten sich in einigen Abteilen chaotische Szenen ab. Übermäßiger Alkoholgenuss stellte die Evolution vollkommen auf den Kopf, erwachsene Menschen torkelten herum wie Primaten. Zum Glück setzten sich die Krakeeler irgendwann hin und schliefen ein. Ich zog den „Graf von Monte Christo“ aus der Tasche und las die kurze Zusammenfassung auf den Innenseiten des Buchumschlages. Weiter bin ich nicht gekommen, denn die Umrisse der Wartburg waren bereits durchs Fenster zu erkennen. Kurze Zeit später erreichte der Sonderzug den Bahnhof von Eisenach. Auf dem abgesperrten Vorplatz trieb man uns zusammen, um einigermaßen geordnet in Richtung Ernst-Thälmann-Straße zu laufen. Marschieren hätte bei den Schnapsleichen unmöglich ausgesehen. Inmitten einer orientierungslosen Herde trottete ich Jörg hinterher. Uniformierte Schreihälse sorgten vor, neben und hinterm Pulk dafür, dass wir auf dem Bürgersteig blieben. Wer trotzdem auf die Straße ausscherte, sammelte die ersten Minuspunkte. Wir überholten Betrunkene, die sich kniend auf dem Kopfsteinpflaster übergaben.
Im Schutze der Dunkelheit erreichten alle das Grenzausbildungsregiment „Theodor Neubauer“. Das um 1930 angelegte Kasernengelände der ehemaligen Wehrmacht bildete ursprünglich die nördliche Grenze der Stadt Eisenach. Die Kasernen waren drei- und viergeschossige Zweckbauten mit Satteldach, die in traditioneller Bauweise errichtet wurden. In diesen Gebäuden sollte ich meine Ausbildung absolvieren. Hinterm Kontrolldurchlass (KDL) bogen wir links auf die Regimentsstraße ab. Dahinter lag rechts der beleuchtete Appellplatz, der sich mit Zivilisten füllte. Nur Vorgesetzte trugen Uniformen. Ein kleiner, pummeliger Major schrie uns herzlich willkommen, stellte die Führung des Grenzausbildungsregimentes vor und übergab das Wort an den ranghöchsten Offizier in Eisenach. Der Regimentskommandeur beauftragte uns, im Angesicht der Bedrohung durch den Klassenfeind die sozialistischen Errungenschaften zu schützen. Was er vom Vaterland, von der Waffenbrüderschaft mit der Sowjetarmee und den Bruderarmeen, vom politisch bewussten Soldaten, von Befehl und Gehorsam, von der sozialistischen Soldatenkameradschaft und vom Ansehen der Grenztruppen der DDR erzählte, war mir nicht neu, doch am Abend dieses Tages hing einem das langweilige Gesülze zum Halse heraus. Mir wurde langsam kalt und müde war ich sowieso, aber das Begrüßungszeremoniell schien kein Ende zu nehmen. Zu guter Letzt erfolgte eine zentrale Anwesenheitskontrolle, bei der jedem einzelnen Rekruten eine Nummer zugeordnet wurde, die der künftigen Kompaniezugehörigkeit entsprach. Hier trennten sich die Wege von Jörg und mir. Auch den bekannten Fußballer verlor ich vorläufig aus meinen Augen.
Auf der Kompanie sahen alle Stuben gleich aus. Trotzdem durfte man sich keine aussuchen, die Zimmerbelegung stand vorher fest. Sogar die Betten hatte man mit winzigen Namensschildern versehen. Ich lag unten rechts, gleich neben der Tür, und musste immer den Lichtschalter betätigen, weil ich am dichtesten dran war. Die neuen Kameraden, alle älter als ich, kamen aus der Hauptstadt, aus Sachsen-Anhalt und dem Spreewald. Auf einer Stube wohnten sechs Mann, die eine Gruppe bildeten. Ein Zug bestand aus zwei Gruppen. Am ersten Abend blieb wenig Zeit zum Kennenlernen, weil der Unteroffizier vom Dienst (UvD) ins Zimmer platzte, um verschiedene Anzugsordnungen zu befehlen, obwohl wir noch gar keine Uniformen hatten. Offensichtlich fehlte dem Vorgesetzten der militärische Durchblick und mir das Verständnis für eine Dialektik in seinen Überlegungen.
Anschließend marschierten wir in Zivilklamotten zum Speisesaal, der am Ankunftstag ausnahmsweise bis 22.00 Uhr geöffnet hatte. Die Schlange vor der Küchenluke war übersichtlich, denn viele Kollegen verzehrten den mitgebrachten Proviant. Ich zog das hiesige Abendbrot vor und merkte auf den ersten Blick, dass die Zusammensetzung des Essens dem Abiturlehrstoff in Biologie entsprach. Ausgewogene Mahlzeiten sollten alle Nährstoffgruppen enthalten. Es gab Kohlenhydrate in Form von Mischbrot, Fett stammte aus der Butter und ein Schmelzkäseriegel in goldenem Stanniolpapier, lieferte Eiweiß. Dabei hätte die warme Milch ausgereicht, um uns mit den notwendigen Nährstoffen zu versorgen. Nach einer Katzenwäsche fiel ich müde ins Bett. Für Leute mit langen Haaren wurde es weit nach Mitternacht, weil beim Friseur ein Riesenandrang herrschte. Manch ein Rekrut musste mehrmals zum Nachschneiden, da den Vorgesetzten die Schnittlänge missfiel. Meine Frisur war für die Ausbildung praktisch und pflegeleicht.
Die offizielle Einkleidung fand erst am nächsten Morgen nach dem Frühstück statt. Übereifrige Offiziere trieben uns in ein verwirrendes Labyrinth, das sich Zentrale Bekleidungs- und Ausrüstungskammer nannte. Zuerst erhielten wir eine große Zeltplane, die alle Utensilien aufnehmen sollte. Die verantwortlichen Unteroffiziere wurden bei der Ausgabe von Soldaten unterstützt, die zu rotieren begannen, nachdem uns die Vorgesetzten mit bloßen Augen vermessen hatten. Für meine tatsächliche Konfektionsgröße interessierte sich niemand. Schuhe, Stiefel, Koppel und Stahlhelm flogen in hohem Bogen auf die Zeltbahn. Die Stiefelpaare waren der Ordnung halber mit derbem Bindfaden aneinander gebunden. Beim Anprobieren musste man aufpassen, um nicht zu stolpern. Ich kam nur schleppend voran, weil der Kollege hinter mir ständig auf meiner Plane rumtrampelte. Ein weißer Kreidestrich am Boden wies den Weg von einer zur nächsten Station. Überall roch es streng nach Waschpulver. Ein Teil der Klamotten kam direkt aus der chemischen Reinigung. In der ganzen Hektik fiel es schwer, an jeder Station das passende Wäschestück zu ergattern. Vorgesetzte achteten mehr auf die Vollständigkeit der Klamotten. Eine Dienstuniform, eine Ausgangs- bzw. Paradeuniform und zwei Felddienstuniformen für Sommer und Winter nannte ich mein eigen. Um die Winter-Felddienstuniform in der Ausbildung zu schonen, bekamen wir eine steingraue Watteuniform, die offiziell bereits lange ausrangiert war.


